BERLIN. Beim „Bildungsgipfel“ von Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) wurde nach Wegen aus der tiefen Krise gesucht, in der das Schulsystem aktuell steckt. Nicht eingeladen war – obwohl immer mehr Eltern Lösungen dort verorten (und ihre Kinder in den zugehörigen Einrichtungen anmelden): der Verband Montessori Deutschland. Wir sprachen im Vorfeld der anstehenden Mitgliederversammlung des Verbands mit dem Vorsitzenden Dr. Jörg Boysen.
News4teachers: Ihr Verband Montessori Deutschland war zwar nicht auf dem „Bildungsgipfel“ präsent, dafür aber mit einem großen Stand auf Europas größter Bildungsmesse, der didacta, vertreten. Wie ist Ihr Angebot von den Besucherinnen und Besuchern angenommen worden?
Boysen: Wir sind sehr angetan von den Reaktionen. Wir haben explizit um Rückmeldungen gebeten, und die fielen durchweg positiv aus. Es kamen viele Menschen, die zuvor kaum Kontakte zu Montessori hatten. Denen konnten wir die Pädagogik erläutern und ihnen anhand einer Ausstellung Material vorstellen, mit dem in den Einrichtungen gearbeitet wird. Wir hatten auf dem Stand zudem verschiedene Events – unter anderem mit Jugendlichen aus einer Montessori-Schule, die besondere Wege hin zur Nachhaltigkeit geht.
News4teachers: Was waren denn Fragen, mit denen Sie konfrontiert wurden?
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Boysen: Studierende wollten wissen, wie sie Montessori-Lehrkraft werden können, Lehrkräfte, wie sie umsteigen können. Es gab auch Eltern, die sich informieren wollten, ob ihr Kind eine Montessori-Schule besuchen sollte. Andere wiederum haben gefragt, was Montessori-Pädagogik überhaupt ist.
News4teachers: Ist das denn Leuten nicht klar?
Boysen: Die Frage kommt wieder öfter – unter anderem wohl deshalb, weil wir als Verband jetzt präsenter sind und das Thema öfter in die Öffentlichkeit bringen. Ein anderer Grund ist vielleicht, dass der Name ja nicht geschützt ist. Manchmal wird mit dem Etikett „Montessori“ geworben, ohne dass wirklich Montessori-Pädagogik dahintersteckt. Und das führt dann womöglich zu Missverständnissen.
News4teachers: Das Schulsystem in Deutschland steckt in einer tiefen Krise – hat zuletzt Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger festgestellt. Hätten Sie als Vorsitzender von Montessori Deutschland Lösungsvorschläge?
Boysen: Ich wünschte, man könnte einfach ein paar Vorschläge machen, die alle begrüßen und dann wird es besser. So einfach ist es leider nicht, die Probleme sind vielschichtig. Fakt ist, es gibt aktuell einen großen Lehrkräftemangel. Wie kommt der zustande? Ist der Beruf unattraktiv, dann stellt sich die Frage, wie sich die Attraktivität erhöhen lässt. Wir meinen: Wenn man wirklich etwas ändern will, müsste man – beginnend von der Lehrerausbildung – grundsätzlich an diese Frage herangehen, nicht nur ein bisschen hier nachsteuern, ein bisschen da, sondern eine echte Reform angehen. Und das führt dann zum zweiten Punkt: Eigentlich müsste man die Prämissen des gesamten Schulsystems überdenken.
News4teachers: Und wie?
Boysen: Das jetzige System versucht, das Lehren zu optimieren, gleichzutakten, durchzuorganisieren, damit der Ablauf möglichst reibungslos funktioniert. Das basiert auf Festsetzungen: dass der Unterricht im 45-Minuten-Takt stattfindet, in jahrgangshomogenen Lerngruppen, mit punktuellen Leistungsabfragen, mit Ziffernnoten, in Fächer aufgeteilt. Ein so starres System lässt sich aber nicht so verändern, wie es nottäte: nämlich Schule von den Schülerinnen und Schülern aus zu denken, die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen ins Zentrum zu rücken.
Kinder sind unterschiedlich, sie entwickeln sich unterschiedlich. Wir sollten in den Schulen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass dem Rechnung getragen wird – indem Schülerinnen und Schüler sich in ihrem Tempo und ihren Interessen gemäß weiterentwickeln können und entsprechend gefördert werden. So, wie es in unseren Einrichtungen geschieht. Beispiel: Ziffernnoten. Ich habe erst neulich wieder das Argument gehört, dass die ja motivierend wirken würden. Das mag für gute Noten gelten, oder für die Schülerinnen und Schüler, die sich mal durch einen Ausrutscher herausgefordert fühlen. Wie aber schlechte Noten Schülerinnen und Schüler generell motivieren sollen, das hat mir noch niemand erklären können. Und das betrifft ja nicht wenige: Mathematisch gesehen liegt immer fast die Hälfte der Klasse unter dem Durchschnitt. Davon wird dann mancher die Motivation verlieren.
“Wenn Lehrer aus dem Regelschulsystem zu uns kommen, sind sie erleichtert und freuen sich, mit mehr Spielraum den Fokus auf ihre pädagogische Arbeit mit dem Kind richten zu können”
Wir sind überzeugt davon, dass Kinder mit einer angeborenen Lernfreude ausgestattet sind. Sie streben danach, mehr zu lernen, was sich bei jedem Kleinkind beobachten lässt. Aber wir schaffen es in den Regelschulen dann, dass bei vielen Kindern diese Lernfreude verschwindet. Das kann nicht richtig sein. Wir setzen dem das Konzept der Montessori-Pädagogik entgegen, das bei der natürlichen Neugierde junger Menschen ansetzt und dieser eine sinnvolle Richtung gibt, wir bieten Anregungen, die mit der Jahrgangsmischung beginnt und mit der lernförderlichen Struktur des Lernalltages nicht endet. Unsere Lehrkräfte sind ausgebildet, Schülerinnen und Schüler zu beobachten und entsprechend ihrer Bedürfnisse zu fördern. Wir wissen aus Erfahrung, dass das Konzept erfolgreich ist, wenn man es konsequent umsetzt.
News4teachers: Vom Lehrermangel bleiben auch die Montessori-Einrichtungen nicht verschont. Sie werben um Lehrkräfte. Warum sollte eine Lehrkraft an einer Montessori-Schule arbeiten?
Boysen: Um eine größere pädagogische Wirksamkeit zu erleben. Weil an unseren Einrichtungen die Möglichkeit besteht, auf das einzelne Kind eingehen zu können, weil wir eng im Team arbeiten und dadurch Zufriedenheit bei der Arbeit entsteht. Wir merken das, wenn Lehrer aus dem Regelschulsystem zu uns kommen. Sie sind erleichtert und freuen sich, mit mehr Spielraum den Fokus auf ihre pädagogische Arbeit mit dem Kind richten zu können.
News4teachers: Wie sieht es denn bei der Nachfrage von Elternseite aus? Sind die Montessori-Einrichtungen nach wie vor gefragt? Und wenn ja – von welcher Klientel?
Boysen: Wir haben eine hohe Nachfrage. Es gibt, überall wo ich hinhöre, Wartelisten. Es gibt das Interesse an Gründungen. Welche Eltern interessieren sich für Montessori? Viele haben sich grundsätzlich mit dem Konzept beschäftigt, sehen es als kindgerecht an und möchten deshalb, dass ihr Kind auf eine Montessori-Schule geht. Es gibt auch Eltern, die sich vielleicht noch nicht so viel mit den Hintergründen beschäftigt haben, die aber nach einer Alternative zum Leistungsdruck des Regelschulsystems suchen. Und dann gibt es die, die eine bestimmte Schule für ihr individuelles Kind suchen, die sagen: Ich möchte, dass mein Kind mit seiner Kombination von Fähigkeiten, Stärken und Schwächen dort hinkommt, wo man diese anerkennt und es individuell fördert. Wir haben die ganze Bandbreite.
News4teachers: Sie haben auf der didacta erstmals zwei Kinderhäuser ausgezeichnet, die ein Anerkennungsverfahren nach dem Montessori-Qualitätsrahmen durchlaufen haben. Was steckt dahinter?
Boysen: Wir haben einen Qualitätsrahmen entwickelt, sowohl für Montessori-Bildungseinrichtungen als auch für die Montessori-Zusatzausbildung, in dem Qualitätskriterien als Entwicklungsziele dargestellt sind, als Mittel zur Qualitätsentwicklung an den Einrichtungen und in den Ausbildungskursen. Es geht darum, dass die Einrichtungen einen Kompass bekommen, in welche Richtung sich die Einrichtung entwickeln sollte. Wir haben dazu das Anerkennungsverfahren erarbeitet, mit dem wir Schulen und Kitas anerkennen, die in Richtung dieser Entwicklungsziele gut unterwegs sind. Es gibt Mindestkriterien – und es gibt viele weitere Kriterien, in denen es darum geht, dass die Einrichtungen sich überlegen: Wo stehen wir? Was können wir noch besser machen?
Diese Kriterien sind von allen Verbänden und Ausbildungsorganisationen der Montessori-Pädagogik in Deutschland gemeinsam verabschiedet worden. Das hat es noch nie gegeben. Es besteht jetzt erstmals ein Konsens in Deutschland darüber, an welchen konkreten Zielen sich eine Montessori-Einrichtung ausrichten sollte. Dieses Anerkennungsverfahren ist freiwillig, wir wollen, dass die Einrichtungen sich selbst dafür entscheiden, diesen Schritt mitzugehen.
Wir freuen uns sehr über die ersten beiden Anerkennungen, die zwei Kitas aus Regensburg bekommen haben. Bei der Verleihung der Urkunde habe ich die Kitaleiterinnen gefragt, was für sie das Wichtigste in dem Anerkennungsprozess war. Sie haben geantwortet: dass wir uns im Team überlegt haben: Wo stehen wir? Welche Ziele, welche konkreten Pläne haben wir – und wie stellen wir sicher, dass wir dabei unsere pädagogischen Standards hochhalten? Das ist genau das, was wir mit dem Anerkennungsverfahren erreichen wollen. Darüber hinaus ist es schön, wenn Einrichtungen nach außen zeigen können: Guck mal, wir sind QR-anerkannt – das wird bei Eltern und Lehrkräften und interessierter Öffentlichkeit Eindruck machen.
News4teachers: Sie haben eingangs angesprochen, dass „Montessori“ kein geschützter Begriff ist. Soll der Qualitätsrahmen dazu beitragen, das Profil zu schärfen?
Boysen: Das Profil der Montessori-Pädagogik ist in der Öffentlichkeit positiv besetzt, denke ich, aber manchmal etwas diffus, und wir glauben tatsächlich, dass der Qualitätsrahmen dazu führt, dass ihr Profil klarer wird.
News4teachers: Die Einrichtungen sollen sich auf den Weg machen – dazu gehört auch Digitalisierung. Wie steht denn die Montessori-Bewegung zur Digitalisierung?
Boysen: Wir haben ja gar keine Wahl, als uns dem zu öffnen. Wenn die Schüler und Eltern entsprechende Anforderungen stellen, dann wird die Schule auch reagieren müssen, klar. Pädagogisch sehen wir aber nicht, dass durch die Digitalisierung das ganze Unterrichts- oder Lernkonzept auf den Kopf gestellt werden sollte. Wir glauben nicht, dass in Zukunft das Lernen automatisiert abläuft, dass Kinder allein vorm PC sitzen sollten, um einen Baustein nach dem nächsten abzuarbeiten, und die Lehrkraft dann anhand der Ergebnisse und dem Zeitabstand zwischen den Klicks ableitet, wie viel schon gelernt wurde. Wir sehen digitale Lernmedien als zusätzliche Werkzeuge.
“Wenn es darum geht, die Logik des Programmierens zu verstehen, dazu müssen die Kinder nicht gleich vor den Bildschirm gesetzt werden”
News4teachers: Digitale Medien bieten viele Möglichkeiten, sich selbstständig Wissen zu erschließen – das müsste doch gut zu Montessori passen.
Boysen: Wenn sie altersgerecht sind. In der Sekundarstufe gibt es tolle digitale Angebote, die es so nie gab. Voraussetzung, diese sinnvoll zu nutzen, ist allerdings, dass Schülerinnen und Schüler erst mal lernen müssen, was wahr und was Fake ist. Das lernen sie nicht am Bildschirm, sondern sie müssen im Unterricht darauf vorbereitet werden – mit Wissen. In der Grundschule gibt es bei uns tatsächlich unterschiedliche Meinungen. Wichtig ist, dass erst mal überlegt wird: Was soll eigentlich vermittelt werden? Wenn es darum geht, die Logik des Programmierens zu verstehen, dazu müssen die Kinder nicht gleich vor den Bildschirm gesetzt werden. Dann sind vielleicht Werkzeuge zur spielerischen Programmierung zunächst besser geeignet. Es gibt viele Mittel, um sich an die Digitalisierung heranzutasten, ohne gleich darin zu versinken.
News4teachers: Wenn Sie als Vorsitzender von Montessori Deutschland einen Wunsch frei hätten: Wie würde der lauten?
Boysen: Da ich selten die Gelegenheit bekomme, mir etwas zu wünschen, sollte es etwas ganz Großes sein: Ich wünsche mir, dass wir unser gesamtes Bildungssystem auf die Lern- und Entwicklungsbedürfnisse der Kinder und Jugendlichen ausrichten. Wir tun unseren Teil, aber es ist ein weiter Weg, bevor sich in der Breite wirklich etwas bewegt. Andrej Priboschek, Agentur für Bildungsjournalismus, führte das Interview.