Doppelbelastung: Geflüchtete Schüler setzen ukrainischen Unterricht in Deutschland fort

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BERLIN. Deutsche Schulen haben seit Februar 2022 mehr als 200.000 ukrainische Schülerinnen und Schüler aufgenommen. Sowohl die geflüchteten Familien als auch der ukrainische Staat stehen dabei vor einer ambivalenten Situation.

Von den mehr als acht Millionen derzeit aus der Ukraine geflüchteten Menschen sind die meisten Frauen und ein Drittel sind Kinder. Ein neuer Report hat nun die Bildungssituation von geflüchteten ukrainischen Kindern in Deutschland untersucht. Die Ergebnisse zeigten, so die Autoren Irina Mützelburg und Félix Krawatzek vom Berliner Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS), in welchem Maß die parallele Ausbildung in Deutschland und der Ukraine für junge Ukrainerinnen und Ukrainer eine Doppelbelastung darstellt, welche Beweggründe hinter Bildungsentscheidungen stecken und wie die Familien die Unterschiede zwischen dem ukrainischen und deutschen Schulsystem wahrnehmen.

bezopftes Mädchen in grauem Pullover, mit ukrainischer Flagge auf der Wange
Wieweit soll die Integration ins deutsche Schulsystem gehen? Keine leichte Entscheidung für ukrainische Geflüchtete (Symbolfoto). Foto: Shutterstock

Um diese Themen zu beleuchten, hatte ein Team um Mützelburg und Krawatzek im Sommer 2022 eine Online-Umfrage unter aus der Ukraine geflüchteten Eltern in Deutschland durchgeführt. Außerdem seien zahlreiche qualitative Interviews mit Eltern und Jugendlichen in die Studie eingeflossen.

Parallele Beschulung
Im Sommer 2022 und in den darauffolgenden Monaten hätten besonders Jugendliche im Sekundarschulalter ihre ukrainische Schulbildung weiterverfolgt, selbst, wenn sie gleichzeitig eine deutsche Schule besuchten. Erleichtert wurde dies vor allem durch digitalisierte Unterrichtsmaterialien und -methoden, die die Ukraine in der Corona-Pandemie gefördert hatte. „Die Gründe, die ukrainische Schulbildung fortzuführen, haben häufig mit dem Wunsch zu tun, die eigene Identität und Sprache zu bewahren, aber auch mit der Befürchtung, dass ohne ukrainische Schulbildung die Zukunftsaussichten der Kinder gefährdet seien“, erläutern Mützelburg und Krawatzek. Für den ukrainischen Staat sei es sehr wichtig, Kinder in die nationalen Lehrpläne einzubinden, in der Hoffnung, die Wahrscheinlichkeit einer möglichen Rückkehr zu erhöhen.

Auch das Alter der Kinder habe eine Rolle bei den Bildungsentscheidungen der Eltern gespielt. Vor allem für Teenager sei der Übergang in das deutsche Bildungssystem aufgrund von Sprachbarrieren, aber auch aufgrund unterschiedlicher Erwartungen und Bildungskulturen schwieriger erschienen als für jüngere Schülerinnen und Schüler.

Entscheidender Faktor sei jedoch insbesondere die Aussicht auf eine Rückkehr. Familien, die angaben, Deutschland so schnell wie möglich wieder verlassen zu wollen, seien weniger motiviert, ihre Kinder auf eine deutsche Schule zu schicken. Gleichzeitig habe die bedrückende Realität des andauernden Krieges Auswirkungen auf das persönliche Wohlbefinden dieser Befragten. Jene, die sich eine schnelle Rückkehr in die Ukraine wünschten, berichteten mit größerer Wahrscheinlichkeit auch über Gefühle von Lethargie. Im Gegensatz dazu seien Familien, die vorhätten, auf absehbare Zukunft in Deutschland zu bleiben, stärker in ihren lokalen Gemeinschaften vor Ort involviert.

Sozioökonomische Ungleichheiten reproduzieren sich
Zwischen dem finanziellen und sozialen Status der Eltern und dem Grad, in dem sie sich in die Ausbildung ihrer Kinder einbringen, zeigte sich laut der Untersuchung ein Zusammenhang. War dieser Status höher, nahmen die Eltern signifikant mehr Anteil an der Ausbildung ihres Kindes und äußerten höhere Erwartungen an dessen Ausbildung in Deutschland. Sie setzten sich stärker dafür ein, dass ihr Kind eine reguläre Klasse anstatt einer Integrationsklasse besucht.

Unterschiede in den Bildungssystemen
Die Bildungssysteme in der Ukraine und Deutschland unterscheiden sich stark. Einige ukrainische Familien zeigten sich frustriert über das in ihren Augen niedrige Niveau und langsame Lerntempo an deutschen Schulen und machten sich Sorgen über mögliche Folgen bei einer angedachten Rückkehr. Andere wiederum lobten den kindzentrierten Bildungsansatz, auf den sie getroffen waren, den respektvollen Umgang mit jungen Menschen und die Art, wie deutsche Behörden auf sensible Weise mit geflüchteten Kindern umgingen.

Sei das deutsche Bildungssystem bereits vor der Ankunft ukrainischer Kinder an seinen Grenzen gewesen, sei es dennoch gelungen, fast alle in lokalen Schulen zu integrieren. Ursächlich hierfür sehen die Autorinnen und Autoren insbesondere den Sinn für Pragmatismus und den guten Willen auf lokaler Ebene. Dennoch befänden sich ukrainische Kinder nach wie vor in einer ambivalenten Situation. So müssten sie sich in das deutsche Bildungssystem integrieren, während es für den ukrainischen Staat ein wichtiges Anliegen sei, die Kinder weiter in das nationale Schulsystem zu integrieren.

Während ukrainische Politikerinnen und Politiker anfangs versucht hätten, eine Befreiung von der Schulpflicht für vertriebene ukrainische Kinder in verschiedenen europäischen Aufnahmestaaten auszuhandeln, hätten diese Bemühungen im Laufe der Zeit nachgelassen. Die Aufrechterhaltung des ukrainischen Schulwesens sei außerdem zunehmend zu einer zusätzlichen Belastung geworden, nicht zuletzt durch die massiven russischen Angriffe auf die Infrastruktur, die auch den synchronen Online-Unterricht erschwert hätten.

Sei zum Zeitpunkt der Untersuchung das Leben der Familien noch „transnational“ geprägt gewesen, seien die transnationalen Bindungen naturgemäß im Wandel. Die soziale und schulische Integration der Kinder werde eher ein Schlüsselfaktor bei der Entscheidung über Bleiben oder Rückkehr werden, prognostizieren die Autoren.

Auch aus Sicht der Ukraine werde eine Rückkehr vieler Familien nicht ohne Spannungen bleiben, da die Kinder grundlegend andere Ansätze für den Unterricht erlebt hätten, die sie mitbringen werden. Andererseits könnte die Rückkehr einer Gruppe junger Menschen, die mit den Gegebenheiten in der Ukraine und in Deutschland bestens vertraut sind, für die Zukunft der Ukraine und die Beziehungen des Landes zu den EU-Ländern von Vorteil sein. (zab, pm)

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3 Kommentare
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Kritischer Dad*NRW
1 Jahr zuvor

Moment mal,
Deutsche Schulen haben seit Februar 2021 mehr als 200.000 ukrainische Schülerinnen und Schüler aufgenommen.

Das Team um Mützelburg und Krawatzek hat im Sommer 2022 eine Online-Umfrage unter aus der Ukraine geflüchteten Eltern in Deutschland durchgeführt.

Heute, vielleicht neun Monate später schon das Ergebnis.
Wieviele ukrainische Kinder und Jugendliche kamen genau davon zwischen Februar 2021 und Februar 2022 zu uns?
Wann kommt das Update um endlich praktikable Lösungen (nach einen Stuhl dazu stellen) aus der Umfrage daraus zu ziehen?

Tyconius Africanus
1 Jahr zuvor

Auch an diesem Beispiel manifestiert sich die unzeitgemäße Absurdität der deutschen Schulpflicht. Anstatt effiziente und flexible Beschulungsmodelle im Dialog mit der ukrainischen Seite zu entwickeln, wird hier nach der alten preußischen Manier an der Realität vorbei die Schulpflicht umgesetzt. Die komparatistische Perspektive auf diverse Schulsysteme zeigt sehr deutlich, wie rückständig und ineffizient das deutsche Schulsystem ist. Einer OECD-Mitgliedschaft („Bessere Politik für ein besseres Leben“) schlicht unwürdig. Furor teutonicus …