Wie sich Chancengerechtigkeit in der Bildung verbessern lässt – und woran es beim Startchancen-Programm des Bundes (noch) hakt

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DÜSSELDORF. Gleiche Bildungschancen für alle Kinder – diesem Ziel möchte die Bundesregierung mit dem Startchancen-Programm endlich näherkommen. Die Eckpunkte des Programms liegen nun vor. Doch was bedeuten Sie konkret für die Länder und Schulen? Darüber hat news4teachters mit Dr. Markus Küpker gesprochen. Er ist Leiter des Bereichs Daten und Analysen bei der Bildungsinitiative RuhrFutur, die seit zehn Jahren erfolgreich Projekte für gleiche Bildungschancen im Ruhrgebiet und teilweise ganz NRW durchführt.

Wird Geld wie mit der Gießkanne über die Länder verteilt – oder werden die Schulen punktgenau gefördert, die den größten Bedarf haben? Das ist einer der Streitpunkte beim Startchancen-Programm. Foto: Shutterstock

News4teachers: Bislang liegen nur die Eckpunkte des Startchancen-Programms vor und trotzdem wird schon heftig darum gestritten. Dabei geht es vor allem um das Geld und wie es verteilt wird. Können Sie den geplanten Verteilerschlüssel kurz erläutern?

Dr. Markus Küpker: Ich finde in dem Papier im Grunde zwei Schlüssel, für die Verteilung der Mittel: Zum wird die Zahl von 4.000 Schulen genannt, die gefördert werden sollen, wobei als Kriterium eine besondere soziale Belastung angeführt wird. Der zweite Schlüssel sieht eine Verteilung nach bestimmten Kriterien auf die Länder vor. Die Berechnungsgrundlage bleibt aber recht vage und ist auf der Basis der öffentlich verfügbaren Daten allenfalls grob nachvollziehbar.

News4teachers: Können Sie dennoch – da Sie viele Zahlen aus NRW vorliegen haben – am Beispiel dieses Landes grob errechnen, welcher Anteil aus dem Programm dorthin gehen würde?

Küpker: Da ich weder eine genau Berechnungsformel vorliegen habe, noch mir die notwendigen Daten zur Verfügung stehen, lässt sich diese Frage nicht seriös beantworten. Denn es würde allein einen großen Unterschied machen, ob man die aktuellen Werte heranzieht oder Mittelwerte der vergangenen Jahre nutzt, da bei den aktuellen Werten die Zuwanderung aus der Ukraine deutlicher ins Gewicht fallen würde.

Je nach Setup und unter bestimmten Annahmen komme ich daher auf Anteile zwischen 16,5 Prozent und 20,5 Prozent für NRW. Das zeigt zum einen die große Bandbreite aufgrund der fehlenden konkreten Berechnungsformel. Zum anderen ist das angesichts des Bevölkerungsanteils von NRW insgesamt recht wenig. Diesen Anteil sollte und würde das Land voraussichtlich nicht akzeptieren. Daher schätze ich, dass meine Rechnung zu niedrig ausfällt. Vermutlich läuft es letzten Endes auf eine Verteilung nach einem Schlüssel wie dem Königsteiner Schlüssel hinaus. Danach läge der Anteil von NRW bei etwa 22 Prozent.

„Eine Erfahrung ist, dass es sich lohnt, das ganze System, von der Kita bis zur Hochschule in den Blick zu nehmen“

News4teachers: Unabhängig vom Ergebnis, wie viel Geld ein Land bekommt, stellt sich auch die Frage, nach welchen Kriterien die Länder entscheiden, welche ihrer Schulen Unterstützung erhalten. Müssen sich die Schulen dazu bewerben?

Küpker: Das Eckpunktepapier sieht dafür nichts vor. Von einem Bewerbungsverfahren würde ich aber abraten. Denn wir haben beispielsweise bei dem Projekt Talentschulen in NRW, bei dem sich Schulen in herausfordernder Lage um Fördergelder bewerben konnten, vielfach erfahren, dass Schulen eine Bewerbung als Stigmatisierung empfunden und sich deshalb bewusst nicht beworben haben.

News4teachers: Was für ein Verfahren wäre dann sinnvoll?

Küpker: NRW hat zum Schuljahr 2021/2022 den schulscharfen Sozialindex eingeführt, um Schulen mit besonderen sozialen Herausforderungen zusätzliche Ressourcen zuweisen und sie dadurch gezielt unterstützen zu können. Den finde ich sehr sinnvoll. So einen Schlüssel hat aber natürlich nicht jedes Bundesland.

News4teachers: Wie funktioniert dieser Index?

Küpker: Man nimmt bestimmte festgelegte Parameter – unter anderem den Anteil der Schülerinnen und Schüler mit vorwiegend nichtdeutscher Familiensprache und die Dichte der SGB II-Quote im Einzugsgebiet einer Schule. Anhand dieser Parameter bekommt dann jede Schule einen Index zwischen 1 und 9 zugewiesen. Dieser Index ist öffentlich gemacht worden, was ich auch sehr gut finde. Denn so kann jeder sehen, welche Schule welchen Index hat. Das ist ein transparenter Automatismus, nach dem Ungleiches auch ungleich behandelt werden kann.

News4teachers: Und ab welchem Index bekommt eine Schule dann gezielt Unterstützung?

Küpker: Das ist eine politische Entscheidung. Der Entwickler des schulscharfen Sozialindex, Professor Jörg-Peter Schräpler von der Ruhr Uni Bochum, vertritt die Meinung, dass Schulen ab einem Index von 4 gefördert werden sollten. Das Institut für Schulentwicklung der TU Dortmund dagegen ist der Meinung, dass schon Schulen ab Stufe 3 förderwürdig sind. Nach Auskunft des nordrhein-westfälischen Schulministeriums sind im Schuljahr 2022/2023 nach dem Sozialindex knapp 6.000 Lehrstellen zugewiesen wurden. Knapp 60 Prozent davon entfielen auf Schulen mit den Sozialindex 6 bis 9. Rund 26 Prozent wurden aber schon ab Stufe 3 verteilt. Bei den 60 Prozent ging es um Unterrichtsausfall, Vertretungs- und besondere Förderaufgaben bei den rund 26 Prozent dagegen um den Ausgleich von Unterrichtsmehrbedarf für eine durchgängige Sprachbildung. Der Index scheint also je nach Kontext unterschiedlich herangezogen zu werden.

News4teachers: Wenn man die empfohlene Förderung ab Stufe 4 wählen würde, wie viele Schulen wären dann allein in NRW förderwürdig?

Küpker: Dann hätten wir allein in NRW 708 Grundschulen – 292 im Ruhrgebiet, 299 im Rheinland und 117 in Westfalen – sowie 260 weiterführende Schulen – ohne Berufsschulen – die gefördert werden müssten. Also von 4000 Schulen die durch das Starchancen-Programm unterstütz werden sollen, kämen allein knapp 1000 aus NRW. Und die Berufskollegs, an die ja 20 Prozent der Fördersumme gehen soll, sind da nicht einmal drin.

News4teachers: Warum sind die nicht dabei?

Küpker: Für die Berufskollegs gibt es schlicht keinen Sozialindex. Denn wenn man für den Index die Daten aus dem Einzugsgebiet einer Schule heranzieht, passt das bei einer Grundschule meist sehr gut, da das Umfeld einer Grundschule aufgrund der geringen Bildungsmobilität in aller Regel die Belastung eines Grundschulstandorts spiegelt. Bei weiterführenden Schulen wird das schon deutlich unschärfer, weil hier die Zahl der Schüler, die aus anderen Stadtteilen oder Kommunen kommen steigt. Bei Berufskollegs kommen aber teilweise mehr als 50 Prozent der Schülerschaft aus ganz anderen Kommunen. Deshalb kann der schulscharfe Sozialindex hier nicht angewandt werden.

News4teachers: Das heißt, für die Berufskollegs müsste beim Startchancenprogramm – sofern ein solcher Index als Verteilerschlüssel gewählt würde – ein zusätzlicher Verteilerschlüssel kreiert werden. Wäre es da nicht einfacher auf die Basis zu setzen und nur Grund- und Schulen der Sekundarstufe I bis II zu fördern?

Küpker: Das würde der Sache aber nicht gerecht. Denn dabei geht man davon aus, dass jedes Kind das Bildungssystem von A bis Z durchläuft. Das ist aber bei zugewanderten Kindern und Jugendlichen häufig nicht der Fall. Beispielsweise steigt ein Teil von ihnen – nach entsprechender Vorbereitung – quasi von der Seite ins Schulsystem ein und landet an einem Berufskolleg. Und eine Studie, die RuhrFutur im vergangenen Jahr für das Schulministerium NRW koordiniert hat, zeigt, dass die Berufskollegs eine große Integrationsleistung erbringen: Rund 35 Prozent der ausländischen Schüler und Schülerinnen besuche diese Schulform und erlangen dort in der Regel auch einen Schulabschluss. Deshalb ist auch die Unterstützung dieser Schulen wichtig.

News4teachers: Wenn eine Schule dann – nach welchem Schlüssel auch immer – förderwürdig ist, darf sie mit der Förderung aber nicht machen, was sie will…

Küpker: Nein, das Startchancen-Programm schreibt das ziemlich genau in drei Säulen vor: 50 Prozent des Geldes müssen in eine „zeitgemäße und ansprechende Lernumgebung“ also bauliche Maßnahmen und digitale Ausstattung. 20 Prozent sind für zusätzliche Stellen im Bereich Schulsozialarbeit vorgesehen und die verbleibenden 30 Prozent sind als „Chancenbudget für bedarfsgerechte Lösungen“ vorgesehen. Bund und Länder sollen nun einen Katalog aufstellen, der bestimmte Maßnahmen auflistet. Und die Schulen müssen dann zwei Drittel des Geldes aus dieser Säule für eine oder mehrere der dort aufgeführten Maßnahmen verwenden. Ein Drittel des Geldes aus dieser Säule können sie dagegen frei verwenden.

News4teachers: RuhrFutur führt seit zehn Jahren Projekte durch, mit dem Ziel für mehr Chancengleichheit bei der Bildung zu sorgen. Welche Maßnahmen würden Sie aufgrund Ihrer Erfahrung empfehlen?

„Es ist wenig sinnvoll, wenn jede Schule das Rad neu erfindet. Besser ist es, ein Konzept zu entwickeln, das dann nur auf die Bedürfnisse der jeweiligen Schule angepasst werden muss, um wirksam zu sein“

Küpker: Beim Thema bedarfsgerechte Lösungen kann man das pauschal nicht sagen. Ruhrfutur hat zusammen mit seinen Partnern ein regionales Bildungsmonitoring und eine darauf aufbauende Bildungsberichterstattung entwickelt und auf Basis dieser Daten erarbeiten und implementieren wir bedarfsgerechte Konzepte für die Praxis und setzen sie um. Das ist nicht nur transparent, sondern auch sehr wirkungsvoll. Daher kann ich nur empfehlen, wo solche Erfahrungen und Bildungsmonitorings vorhanden sind, auch darauf zurückzugreifen.

Eine weitere Erfahrung ist, dass es sich lohnt, das ganze System, von der Kita bis zur Hochschule in den Blick zu nehmen. Das hat sich vor allem bei dem Projekt „students@school“ gezeigt. Ziel war es, Lehrkräfte und Schülerschaft beim „Aufholen nach Corona“ zu unterstützen. 560 Studierende haben wir dazu zu Lernbegleitern ausgebildet und sie haben an 360 Schulen in NRW mehr als 36.000 Schülerinnen und Schüler unterstützt. Fast 70 Prozent der Lehrkräfte haben in einer Befragung gesagt, dass dadurch Lücken geschlossen werden konnten und mehr als 80 Prozent von ihnen fühlten sich zudem entlastet. Aber auch die Studierenden haben profitiert: Sie konnten eine vergütete studienbegleitende Praxiserfahrung sammeln und 90 Prozent waren sich anschließend sicher, auch wirklich Lehrer werden zu wollen. Nicht zuletzt kann so ein Programm perspektivisch dem Fachkräftemangel entgegenwirken. Das heißt, ein solche Programm zahlt auf die Themen Basiskompetenzen, Fachkräftegewinnung und die Entzerrung der angespannten Personalsituation ein und kommt dabei vor allem Schulen mit einem schlechteren Sozialindex zugute.

Beim Thema Lernumgebung und Hardware haben wir viele Erfahrungen im Rahmen des RuhrFutur-Projekts „Klasse Digital“ sammeln können. Und da zeigte sich, dass es wenig sinnvoll ist, wenn jede Schule das Rad neu erfindet. Besser ist es, ein Konzept zu entwickeln, das dann nur auf die Bedürfnisse der jeweiligen Schule angepasst werden muss, um wirksam zu sein. Aber es gibt noch viele weitere Ansatzpunkte – beispielsweise beim Übergang von der Kita zur Grundschule, in den großen Bereichen Schulentwicklung und Lehrkräftequalifizierung – die zu gleichen Chancen für Bildungserfolg beitragen, wie wir aus Erfahrung wissen. Denn in all diesen Feldern ist RuhrFutur aktiv. Beate Berrischen führte das Interview.

Studentische Lernbegleiter für Schüler – ein Erfolgsmodell (das dummerweise endet, weil’s kein Geld mehr dafür gibt)

 

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Dil Uhlenspiegel
10 Monate zuvor

Zum Handlungsplan bitte hier lang >
und jetzt hier <
dann nach oben ^
und nochmal ganz kurz runter v
und schon sind wir da,
wo wir gestartet sind.

Georg
10 Monate zuvor
Antwortet  Dil Uhlenspiegel

… nur eine ganze Menge Geld ärmer.

marc
10 Monate zuvor

Mal wieder der Klassiker. Mehr Geld für Schulen im Brennpunkten. Bedeutet also mehr Beamer, Wlan und Tablets für alle. Dazu neue Stellen, die sowieso nicht besetzt werden können und dann eventuell Sozialarbeiter, die auch außer warmen Worten nicht viel zu bieten haben.

Wie das jetzt die Startchancen verbessert wüsste ich schon gerne. Oder liegt es nur am fehlenden Wlan und Tablet dass in Ludwigshafen 40 Erstklässler die Klasse wiederholen?

Machen wir uns mal ehrlich: Es kann und wird niemals Chancengleichheit und gleiche Startbedingungen geben. Kann es nicht und wird es nie. Es wird immer die Eltern geben, die den ganzen Tag zuhause mit ihrem Kind bis zur Einschulung RTL2 gucken und die Eltern, die mit ihrem Kind bis zur Einschulung die Welt bereist haben, ihm ein Instrument angelernt haben und ein Schwimmabzeichen besitzen.
Um das zu verhindern, müsste man schon Kinder bei Geburt den Eltern entreißen und alle Kinder in staatliche Obhut setzen. Wollen wir das?

SchnauzeVoll
10 Monate zuvor
Antwortet  marc

Einhundertprozentige Zustimmung. Wenn man „Chancengleichheit“ etwas weiter fasst, dann herrscht sie jetzt schon. Die Verwendung des Begriffs in der Bildungspolitik ist aktuell irreführend. „Bildungsgleichstellung“ wäre hier eher passend. Und Gleichstellung neigt dazu, alle auf das niedrigsten Niveau zu ziehen aber niemandem zu helfen. Klassisch sozialistisches Prinzip. Keiner soll hungern, ohne zu frieren.

ABCD
10 Monate zuvor

Mangelnde Chancengerechtigkeit herrscht schon seit Jahren für alle Kinder und nicht nur die stets Genannten. Ein sowohl geldlich wie ideologisch heruntergewirtschaftetes Schulsystem wie das deutsche kann nur allgemeine Ungerechtigkeit produzieren.

Georg
10 Monate zuvor
Antwortet  ABCD

Bildungsgerechtigkeit ist einfacher erfüllbar, indem man die Bedingungen (und Abschlüsse) für alle gleich schlecht macht.

Lisa
9 Monate zuvor

Doch, genau das.Lasst jede Schule das Rad neu erfinden! Jede Schule weiß doch ganz genau, wo es bei ihr hapert und könnte Geld eigenverantwortlich einsetzen.