DRESDEN. Die meisten Lehrkräfte arbeiten deutlich zu viel – allerdings ist die Mehrarbeit in den Kollegien ungleich verteilt Zu diesen Ergebnissen kommt eine von der GEW unterstützte Studie der Uni Göttingen zur Arbeitszeit von Lehrkräften in Sachsen. „Die Mehrheit der Lehrkräfte kann ihre Arbeitsaufgaben nicht im Rahmen der zeitlichen Vorgaben erfüllen“, so heißt es in der Studie. Verstöße gegen europäische Arbeitszeitschutznormen seien für große Teile der Lehrkräfte die Regel – nicht die Ausnahme. Die GEW fordert Konsequenzen.
„Lehrkräfte haben eine Arbeitszeit, die sich auf die Schulzeit verdichtet und durch Schwankungen im Jahresverlauf geprägt ist. Temporäre Spitzenbelastungen in Phasen mit vielen Korrekturarbeiten, Projektarbeit, Elterngesprächen, Lernentwicklungsberichten, Laufbahnberatung sowie in den Wochen vor der Zeugniserteilung oder durch Prüfungsphasen in der Oberstufe sind normal. Da ein großer Teil der Arbeitszeit am heimischen Schreibtisch erledigt werden muss, ist das Arbeiten am Abend, am Wochenende und an Feiertagen vielfach der Regelfall“, so heißt es in der Studie der Kooperationsstelle Hochschulen und Gewerkschaften der Georg-August-Universität Göttingen um den Arbeitswissenschaftler Dr. Frank Mußmann.
Die Soll-Arbeitszeit in Sachsen 2022 beträgt danach, wenn die Arbeitszeit auf die Schulzeit umgerechnet wird, 46:48 Stunden. In allen Schulformen liegt die durchschnittliche Mehrarbeit im Freistaat aber deutlich über der Soll-Zeit. An Grundschulen und Oberschulen sind es 2:16 Stunden durchschnittliche Mehrarbeit, an Gymnasien sogar 4:18 Stunden jede Schulwoche.
Allerdings ist die Mehrarbeit, so haben die Forscherinnen und Forscher im Rahmen der Studie festgestellt, ungleich verteilt. Lediglich 59 Prozent der Lehrkräfte verzeichnen eine längere Arbeitszeit, als ihre individuelle Soll-Zeit dies erfordert. „Da der Deckeneffekt den Vollzeitkräften Grenzen bei der Ausdehnung ihrer Arbeitszeit setzt, ist der Anteil der Mehrarbeit bei Teilzeitkräften höher“, so heißt es. Besonders problematisch: die Überschreitung der gesetzlichen Höchstarbeitszeit von 48 Stunden pro Woche während der Schulzeit. „Sie ist in Sachsen für 36 Prozent der Vollzeitkräfte und sogar für 16 Prozent der Teilzeitkräfte Realität. Lehrkräfte am Berufsanfang haben gegenüber den mittleren Altersgruppen eher eine längere Arbeitszeit. Lehrkräfte mit höherem Alter haben eine unwesentlich geringere Arbeitszeit als die mittleren Altersgruppen.“ Generell erführen Lehrkräfte mit dem Alter und der Berufserfahrung einen Tätigkeitswandel, sie unterrichteten weniger und übernähmen im Mittel mehr Funktionsaufgaben.
„30 Prozent der Lehrkräfte arbeiten jede Woche etwa einen Arbeitstag lang kürzer oder länger als der Durchschnitt”
Weiter stellen die Autorinnen und Autoren fest: „Hinter den Durchschnittswerten steht eine enorme Streubreite der individuellen Arbeitszeiten der Lehrkräfte. Dabei beschreibt die Standardabweichung den Raum, indem die Arbeitszeit von etwa 70 Prozent der Lehrkräfte liegt. 30 Prozent der Lehrkräfte arbeiten jede Woche etwa einen Arbeitstag lang kürzer oder länger als der Durchschnitt. Die Standardabweichung beträgt in Grundschulen 8,37 Stunden, Oberschulen 9,28 Stunden und im Gymnasium 9,37 Stunden pro Woche. Offenbar ist die Arbeitszeitordnung nicht in der Lage, eine auch nur ansatzweise faire Verteilung der Arbeit zu gewährleisten, zumindest unter rein quantitativen Gesichtspunkten.“
Die Arbeitszeitbedingungen in Sachsen seien allerdings ungünstiger, als frühere Studien aus anderen Bundesländern ergeben hätten. „Der Anteil der Lehrkräfte mit Mehrarbeit liegt in Sachsen 2022 mit 59 Prozent über dem Anteil in Niedersachsen 2016 (57 Prozent) und Frankfurt 2020 (53 Prozent). Auch der Anteil der Lehrkräfte mit überlangen Arbeitszeiten (mehr als 48 Stunden pro Woche) liegt mit 36 Prozent der Vollzeitkräfte deutlich über den Werten aus Niedersachsen 2016 (17 Prozent) und Frankfurt 2020 (21 Prozent). Die Arbeitszeitbelastung in sächsischen Gymnasien – wo Daten aus 2021 existieren – liegt dabei sowohl 2021 als auch 2022 konstant über Vergleichswerten aus anderen Bundesländern. Im Jahr 2021 wurde in Sachsens Gymnasien 1:24 Stunden mehr gearbeitet als im Durchschnitt im Bund (Kap. 3.1). Die Streuung der individuellen Arbeitszeiten in Sachsen ist in allen Schulformen um 24 bis 120 Minuten größer als bei früheren Studien aus anderen Bundesländern. Bei der Digitalisierungsstudie 2021 gehörten Sachsens Lehrkräfte am Gymnasium bundesweit zur Spitzengruppe bei Mehrarbeit und Streuung der Arbeitszeit.“
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schlussfolgern: „Alles in allem zeigt sich – die Fülle der Aufgaben überfordert die Lehrkräfte, ihre Arbeitszeit individuell zu regeln. Im Mittel überschreiten die Lehrkräfte ihre Soll-Arbeitszeit und es entsteht eine hochgradig unfaire Verteilung der Aufgaben und der daraus resultierenden Arbeitszeiten. Das System ist überlastet und es entsteht ein Teufelskreis an sich verstärkenden Wirkungen, die die Attraktivität der Arbeit von Lehrkräften weiter schwächen.“
„Der Aufbau zusätzlicher Personalkapazitäten für sog. außerunterrichtliche Tätigkeiten aus anderen Berufsfeldern bietet einen realistischen Weg, die Arbeitsanforderungen für Lehrkräfte zurückzunehmen”
Was wären die arbeitspolitischen Konsequenzen, um die Situation zu ändern? „Zunächst wäre es angesichts des Mangels an qualifizierten Lehrkräften dringend erforderlich, Aufgaben, die Lehrkräfte miterledigen müssen, ohne dass diese ihrem erzieherischen, pädagogischen Ausbildungsprofil entsprechen, an andere Beschäftigtengruppen zu übertragen.“ Die befragten Lehrkräfte hätten eine Reihe an organisatorischen und Verwaltungsaufgaben benannt, die von Schulverwaltungs- oder Schulassistenzkräften übernommen werden können, deren Kapazität schneller und einfacher aufgestockt werden könnte. „Dies betrifft sowohl die Unterstützung bei der Klassenführung als auch Schulverwaltungsarbeiten. Darüber hinaus sollten die Unterstützungsleistungen durch etablierte spezialisierte Beschäftigtengruppen mit sozialarbeiterischen und psychologischen Kompetenzen (wie Inklussionsassisten*innen, Schulsozialarbeiter*innen), mit organisatorischen Kompetenzen (wie GTA-Koordinationsfachkräfte) und mit technischen Kompetenzen (wie IT-Fachkräfte) massiv ausgeweitet werden“. Kurz: Multiprofessionelle Teams an Schulen seien notwendig.
„Der Aufbau zusätzlicher Personalkapazitäten für sog. außerunterrichtliche Tätigkeiten aus anderen Berufsfeldern bietet angesichts der langfristig bestehenden Probleme der Lehrkräfteversorgung einen realistischen Weg, die Arbeitsanforderungen für Lehrkräfte zurückzunehmen. Das System wirkt überfordert und die individuellen Reaktionsmöglichkeiten, die den Lehrkräften verbleiben, um ihre Arbeitslast erträglicher zu gestalten, führen dazu, dass eher weniger Kapazität zur Verfügung gestellt wird. In der Praxis führt dies zu einer Vielzahl individueller Prioritätsentscheidungen unter Druck, die wiederum die Bildungspolitik (Curricula, Bildungsziele) herausfordern. Nur wenn die Arbeitsanforderungen durch eine Mehrheit realistisch erfüllt werden können, besteht vielleicht die Chance, die Ausfälle durch Krankheit und durch die Flucht in Teilzeit und Frühpensionierung zu begrenzen. Der Lehrberuf muss wieder attraktiver werden.“
Schließlich üben die Autorinnen und Autoren scharfe Kritik am Gutachten, die die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) der KMK zum Lehrermangel erstellt hat. Darin war unter anderem empfohlen worden, die Arbeitszeit für Lehrkräfte zu erhöhen und ihre Teilzeit-Möglichkeiten einzuschränken (News4teachers berichtete). „Vor diesem Hintergrund muss betont werden, dass der technokratisch gesehen einleuchtende Gedanke, die Lehrkräfte-Versorgung zu verbessern, indem die Unterrichtsverpflichtungen erhöht und die Teilzeitoptionen erschwert werden, ein Irrweg darstellt. Und das nicht nur, weil die SWK schon das mathematisch zu gewinnende Arbeitspotenzial durch arg grobe Vorannahmen und ungeeignete Beschäftigtengruppen (Referendar*innen, außer- und nebenberufliche Lehrkräfte) völlig unrealistisch überschätzt. Selbst ein Konzept der Erhöhung der Unterrichtsverpflichtung nach dem Konzept der Vorgriffstunde, bei dem die Vorleistungen Jahre später zurückgezahlt werden sollen, verkennt, dass das System bereits überfordert ist und die Lehrkräfte einer erhöhten Gesundheitsgefährdung ausgesetzt werden, die spätere Ausfälle erwarten lässt.“
„Die Ursache ist, dass bei der Arbeitszeit der Lehrkräfte keiner genau hinschaut und in den letzten Jahren immer mehr Aufgaben hinzugekommen sind“
Weiter heißt es: „Die Einschränkung von Teilzeitoptionen ignoriert, dass Teilzeit-Arbeit in diesem Segment hochqualifizierter Arbeit längst normal geworden ist. Teilzeit stellt einen Attraktivitätsfaktor für diesen Beruf dar und ist wie diese Studie zeigt, ein wichtiges Ventil zur individuellen Regulierung der Arbeitszeit und Arbeitsbelastung. Nicht nur Lehrkräfte mit Elternpflichten oder pflegebedürftigen Angehörigen benötigen Teilzeitoptionen, sondern auch Lehrkräfte, die mit dem vollen Leistungspensum nicht gut zurechtkommen, aus persönlichen Gründen mehr vom Leben haben wollen oder gesundheitlich bereits angeschlagen sind. Lehrkräfte sollten problemlos in Teilzeit gehen können, denn wenn dieses Ventil verstopft wird, wird der aufgebaute Druck sich auf andere Weise entladen. Die Pandemie-Phase hat gezeigt, welche Schwierigkeiten das System Schule hat, hohe Krankenstände zu meistern. Je mehr gezielte Entlastungsmöglichkeiten geschaffen werden, desto mehr Chancen bestehen, dass Lehrkräfte ihr Pensum freiwillig wieder erhöhen wollen – und andere Personengruppen (Studierende, potenzielle Quer- und Seiteneinsteigende, nicht in der Schule tätige Lehrkräfte) den Beruf wieder attraktiv finden.“
Reaktion der GEW: „Die Ergebnisse der Studie sind eindeutig: Lehrkräfte in Sachsen leisten systematisch Mehrarbeit und können die Überstunden in den Ferien nicht mehr abbauen. Die Ursache ist, dass bei der Arbeitszeit der Lehrkräfte keiner genau hinschaut und in den letzten Jahren immer mehr Aufgaben hinzugekommen sind.“ Um individuell gegen die Mehrarbeit vorgehen zu können, bedürfe es einer individuellen Erfassung der Arbeitszeit mit einem vorgegebenen Erfassungssystem, wie vom Bundesarbeitsgericht 2022 gefordert wurde. Tatsächlich aber erfasst bislang keines der 16 Kultusministerien die Arbeitszeit von Lehrkräften (News4teachers berichtete).
Hier lässt sich die vollständige Studie herunterladen.
