ESSEN. In der vergangenen Woche hatten Schreiben der Bezirksregierungen in Nordrhein-Westfalen an alle Schulen für Verunsicherung unter Lehrkräften gesorgt (News4teachers berichtete). Darin wurde die Neutralitätspflicht von Beamtinnen und Beamten betont – angeblich bezogen auf die Europawahl Anfang Juni, verstanden oftmals allerdings als Warnung vor der Teilnahme an den Anti-AfD-Protesten in zahlreichen Städten bundesweit. Die GEW und die Deutsche Vereinigung für Politische Bildung haben dagegen nun ein gemeinsames Positionspapier gestellt. Tenor: „Schule ist nicht neutral, sondern der Demokratie und den Menschenrechten verpflichtet!“
„So ein Schreiben zum jetzigen Zeitpunkt hat für enorme Verunsicherungen bei Lehrkräften gesorgt. Das Ministerium hätte hier mehr Fingerspitzengefühl zeigen müssen“, kommentierte Ayla Çelik, Landesvorsitzende der GEW, das Schreiben. Franziska Wittau, Vorsitzende der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung (DVPB) Nordrhein-Westfalen, kritisierte an dem Schreiben: „Statt Lehrkräften in schwierigen Zeiten offensiv den Rücken für Ihren Einsatz für die Demokratie zu decken, kommt dieses Schreiben einer Entmutigung gleich.“
Insbesondere angesichts der wichtigen zivilgesellschaftlichen und überparteilichen Proteste gegen Rechtsextremismus habe das Schreiben für Verunsicherung und Verwirrung gesorgt. Viele Lehrkräfte hatten in Folge des Schreibens daran gezweifelt, ob eine Teilnahme an den Demonstrationen zulässig sei, so heißt es in einer Pressemitteilung.
Çelik betont: „Schulen sind kein politisch neutraler Ort, sondern Schmiede der Demokratie, wo Kinder und Jugendliche im geschützten schulischen Kontext sich angstfrei ausprobieren dürfen und wo die freiheitlich demokratischen Grundwerte unserer Gesellschaft vermittelt werden – stets mit dem Ziel, Kinder und Jugendliche für ein friedliches, diskriminierungsfreies und vielfältiges Miteinander zu befähigen. Anstatt also Lehrkräfte zu verunsichern, sollte es die vorrangige Aufgabe der Landesregierung sein, Lehrkräfte bei dieser wichtigen Aufgabe zu unterstützen und sie zu stärken, die demokratischen Handlungskompetenzen der Kinder und Jugendlichen zu fördern. Die Teilnahme an Demonstrationen als ein klares Bekenntnis für eine wehrhafte Demokratie gehört dazu, schließlich sind Lehrkräfte auch Vorbilder! Von der Ministerin erwarte ich nun ein deutliches Signal: Die Brandmauer gegen rechtsextreme und menschenfeindliche Positionen beginnt in den Schulen, in den Klassenzimmern unseres Landes.“
Wittau ergänzt: „Immer dann, wenn menschenverachtende, demokratiefeindliche Positionen geäußert werden, wenn Grund- und Menschenrechte in Frage gestellt werden, müssen Lehrkräfte Stellung beziehen. Eine falsch verstandene Neutralität ist hier nicht nur kontraproduktiv, sondern gefährlich!“.
In dem Positionspapier werden die Bereitstellung von Unterrichtsmaterialien und Handlungsleidfäden sowie der Ausbau von Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen gefordert. Dazu gehöre die Etablierung verpflichtender politischer Bildung in der Lehrkräfteausbildung für alle Unterrichtsfächer.
„Die aktuellen Entwicklungen zeigen, dass politische Bildung in der Schule nicht nur in einigen wenigen Fächern stattfinden kann, sondern Aufgabe aller Fächer und aller Lehrkräfte ist“
Zur Begründung heißt es: „Schule ist ein Ort der Wertevermittlung und Demokratiebildung. Als solche kann und darf sie nicht politisch neutral sein. Es zählt zu ihrem Bildungsauftrag, Lernenden im geschützten schulischen Raum die Möglichkeit zu bieten, sich mit komplexen Fragestellungen und Konfliktlagen zu befassen, diese im besten Falle zu begreifen und Lösungsstrategien jenseits einer Schwarz-Weiß-Malerei zu erarbeiten. Ziel ist stets die Vermittlung von und das Einüben in demokratische Werte für ein friedliches, diskriminierungsfreies und vielfältiges Miteinander. Das verlangt insbesondere in Zeiten herausgeforderter Demokratie einen Einsatz für die Grundwerte einer freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft. Es bedeutet auch, immer dann Position für die Demokratie, für Grund- und Menschenrechte zu ergreifen, wenn menschenverachtende, demokratiefeindliche Positionen geäußert werden. Lehrkräfte sind hierbei Vorbilder für ihre Schüler:innen. Eine missinterpretierte Neutralitätspflicht schließt die dafür notwendigen Räume, statt sie zu öffnen.“
Auch könne aus den beamtenrechtlichen Vorgaben keine Verpflichtung zur politischen Neutralität abgeleitet werden – im Gegenteil. „Das Bundesverfassungsgericht betont, dass Beamte eine „mehr als nur eine formal korrekte, im übrigen uninteressierte, kühle, innerlich distanzierte Haltung gegenüber Staat und Verfassung“ (BVerfGE 39, 335) haben sollen. Bundesweit haben Verwaltungsgerichte konkretisiert, dass ‚von einer Lehrkraft, die sich zur Erfüllung ihres pädagogischen Auftrags in gewissem Maße auch mit ihrer Persönlichkeit einbringen muss, eine vollständige politische Enthaltsamkeit im Unterricht nicht verlangt‘ werden kann (VG Berlin, 3 L24.23)“, so heißt es in dem Papier.
„Die aktuellen Entwicklungen zeigen, dass politische Bildung in der Schule nicht nur in einigen wenigen Fächern stattfinden kann, sondern Aufgabe aller Fächer und aller Lehrkräfte ist. Das muss sich nicht nur in einem verstärkten Angebot von Fortbildungen zur politischen Bildung niederschlagen. Vielmehr gilt es, politische Bildung als verpflichtenden Bestandteil der Lehrkräftebildung der ersten und zweiten Phase zu etablieren“, betont Wittau.
Die GEW und die DVPB stimmen darin überein, dass Schule nicht zu einem „politisch neutralen Ort“ stilisiert werden dürfe. Man brauche den Einsatz für Demokratie und eine lebhafte Streitkultur in Schulen. „Lehrkräfte brauchen den Rückhalt der Politik, keinen Maulkorb: Wir fordern die Landesregierung daher zu einer schnellstmöglichen Klarstellung im Nachgang an die versendete Rundmail auf“, so heißt es. News4teachers / mit Material der dpa
Auch am Wochenende sind wieder in mehreren Dutzend Städten Demonstrationen angekündigt. Hier geht es zu einer Übersicht: https://www.demokrateam.org/demos/
