BOCHUM. Der Krieg im Nahen Osten sorgt weiterhin für Verunsicherung unter Lehrkräften. Kein Wunder, denn die Erwartungen sind hoch: Sie sollen das Geschehen im Unterricht aufgreifen, auf zum Teil radikale Äußerungen ihrer Schülerinnen und Schüler angemessen reagieren, Antworten auf deren Fragen finden – und dabei der Vielschichtigkeit des Konflikts gerecht werden. Unterstützung dabei möchte unser Gastautor Dr. Karim Fereidooni bieten, Professor für Didaktik der sozialwissenschaftlichen Bildung an der Ruhr-Universität Bochum. Er hat seit dem 7. Oktober 2023, dem Tag des Terrorüberfalls der Hamas auf Israel, zahlreiche Lehrkräftefortbildungen zum Themenfeld des Nahost-Konflikts durchgeführt und seine Erfahrungen in Handlungsmöglichkeiten, inklusive unterstützender Materialien, zusammengeführt. Wir veröffentlichen sie in zwei Teilen – Teil 1.
Der Hamas-Terror, der Gaza-Krieg und der Nahost-Konflikt – 50 Handlungsmöglichkeiten für Lehrer*innen
1. Ich akzeptiere Möglichkeiten und Leerstellen des Unterrichts
- Ich stelle mich der Situation und schweige nicht über den Hamas-Terror, den Gaza-Krieg und den Nahost-Konflikt.
- Ich habe nicht den Anspruch, in einer Unterrichtsstunde den Hamas-Terror, den Gaza-Krieg und den Nahost-Konflikt erklären zu wollen.
- Ich bereite mich emotional auf den Unterricht vor. Ich rede mit meinen Schüler*innen über meine und ihre Gefühle. Ich halte es aus, wenn jüdische und muslimische Schüler*innen über Leid, Trauer, Vertreibung und Tod sprechen.
- Ich versuche, meine Schüler*innen anzuregen, Fragen zum Hamas-Terror, zum Gaza-Krieg und zum Nahost-Konflikt zu stellen, die ich im Nachgang (mit einer gewissen Vorbereitungszeit) versuche zu beantworten.
- Ich gebe zu, wenn ich Sachverhalte (noch) nicht erklären kann.
- Ich bereite mich fachlich auf den Unterricht vor. Ich nehme mir die Zeit, um die Vielschichtigkeit dieses Komplexes zu durchdringen. Dafür lese ich Bücher, nehme an Vorträgen und Workshops teil.
- Ich nutze unter anderem Bildungsmaterialien von Ufuq.de, der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIGA) oder von Amina Nolte und Sophia Müller, um Antworten auf die Fragen meiner Schüler*innen zu finden. Ich bin mir aber bewusst, dass ich einige Dinge nicht erklären kann.
2. Ich nutze schulische und außerschulische Unterstützungsangebote
- Ich fordere Hilfe von meiner Schulleitung und von meinen Kolleg*innen ein, damit ich in meinen Bemühungen nicht alleine gelassen werde, den Hamas-Terror, den Gaza-Krieg und den gesamten Nahost-Konflikt zu thematisieren. Ich als Teil meiner Fachkonferenzen überlege gemeinsam mit meinen Kolleg*innen, wie wir uns diesem Themenkomplex aus fachlicher und überfachlicher Perspektive nähern können.
- Ich als Teil der Schulgemeinde rege an, dass wir eine Projektwoche zu diesem Themenkomplex durchführen. Für diesen Tag laden wir externe Referent*innen ein, zum Beispiel vom Forum ziviler Friedensdienst.
- Ich setze mich dafür ein, dass bei zukünftigen Pädagogischen Tagen Referent*innen eingeladen werden, die sich mit Demokratiebildung und Menschenfeindlichkeit beschäftigen, um von diesen Menschen zu lernen.
- Ich kooperiere mit außerschulischen Partner*innen, zum Beispiel Meet a Jew (Zentralrat der Juden in Deutschland), Trialog von Shai Hoffmann und Jouanna Hassoun, schulpsychologischer Dienst und Systemberatung Extremismusprävention (Systex).
- Ich führe regelmäßig kollegiale Fallberatungen mit meinen Kolleg*innen durch und melde mich für Supervision an, weil ich anerkenne, dass ich die Probleme meines Arbeitsalltags nicht alleine bewältigen kann.
- Ich setze mich dafür ein, dass multiprofessionelle Teams an unserer Schule Wirklichkeit werden und ich arbeite daran mit, dass ein Konzept der Zusammenarbeit der unterschiedlichen Professionen entwickelt wird.
3. Ich nehme die Multiperspektivität des Nahost-Konflikts ernst
- Ich thematisiere im Unterricht die gegenseitigen Verletzungsverhältnisse der letzten 80 Jahre dieses Konflikts in ihrer Multiperspektivität. Ich schiebe keiner Seite die alleinige Verantwortung/Schuld für den Nahost-Konflikt zu.
- Ich verurteile den Terrorismus, der am 7.10. stattgefunden hat und gleichzeitig thematisiere ich das menschliche Leid im darauffolgenden Gaza-Krieg.
- Ich halte es aus, wenn jüdische und muslimische Schüler*innen unterschiedliche Perspektiven in den Unterricht hineintragen, die mit den universellen Menschenrechten vereinbar sind.
- Ich zeige Haltung gegen Menschenfeindlichkeit und lege klar dar, dass Gewalt gegen Menschen in diesem Konflikt kein (antikolonialer) Widerstandsakt ist.
- Ich versuche meinen Schüler*innen demokratische Werte beizubringen und schweige nicht, wenn menschenfeindliche Positionen dargestellt werden. Ich bin nicht neutral, wenn menschenfeindliche Meinungen vertreten werden. Dazu gehört unter anderem, dass ich mit meinen Schüler*innen über Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus spreche.
- Ich setze mich im Unterricht für das Existenzrecht Israels ein und gleichzeitig thematisiere ich die völkerrechtswidrige Annektierung von Teilen des palästinensischen Westjordanlands durch Israel.
- Ich nutze unter anderem die Dokumentationen über Daniel Cohn-Bendit sowie das Auslandsjournal Extra mit Meron Mendel, um meinen Schüler*innen die Vielfältigkeit der israelischen Gesellschaft darzustellen, sowie den Spielfilm Gaza Surf Club, um die Pluralität der palästinensischen Gesellschaft zu skizzieren.
- Ich spreche mich im Unterricht dafür aus, dass Palästinenser*innen das Recht auf einen eigenen Staat haben und gleichzeitig thematisiere ich, dass die Ermordung von jüdischen Menschen keine antikoloniale Widerstandshandlung ist, weil Israel kein Apartheitsstaat ist.
- Ich lege im Unterricht dar, dass Palästinenser*innen in Gaza bereits mehrfach vor und nach dem 7.10. gegen die Hamas demonstriert haben, und ich thematisiere, dass ca. die Hälfte der Bevölkerung von Gaza jünger als 19 Jahren ist. Ich lege dar, dass nur ein Bruchteil der heute in Gaza lebenden Menschen bei den letzten Wahlen im Jahr 2006 die Hamas gewählt hat.
- Ich thematisiere, dass der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag die Gefahr genozidaler Handlungen durch die israelische Armee an Palästinenser*innen im Gaza-Streifen sieht und im Zuge dessen thematisiere ich die menschenfeindliche Sprache führender israelischer Minister*innen, die Palästinenser*innen als „menschliche Tiere“ bezeichnet haben.
Darüber hinaus berät er die Bundesregierung (Kabinett Scholz I) zur Erarbeitung der Gesamtstrategie „Gemeinsam für Demokratie und gegen Extremismus – Strategie der Bundesregierung für eine starke, wehrhafte Demokratie und eine offene und vielfältige Gesellschaft“.
Mehr Informationen zum Autor unter: www.karim-fereidooni.de
Hier geht es zum zweiten Teil des Beitrags:
„Damit niemand Angst haben muss“: Ein Gastbeitrag über Frieden im Kleinen
Spannend. Ist das einem Forschungsgebiet an einer Universität entsprungen? 🙂
Ich spreche regelmäßig mit den Schülern über politische Ereignisse. Ich versuche immer die verschiedenen Seiten darzustellen. Wenn ich meine eigene Sicht benenne, verweise ich trotzdem auf die Sichtweise anderer. Ich fordere vor allem auf, nicht etwas nur nachzuplappern, sondern verschiedene Meinungen kennenzulernen und sich dann daraus eine eigene zu bilden.
Was gegen die Verfassung und/oder gegen die Menschlichkeit, lehne ich deutlich ab.
Ist das nicht alles selbstverständlich?!?
Ob ein didaktischer Kommentar Lehrende zu handelnder Haltung animieren kann, der ausschließlich unzählige “Ich – Botschaften” transportiert ?
Paradigmatisch für ungeschicktem Umgang mit hochkarätiger Thematik.
? Das sind keine Ich-Botschaften, sondern ein Katalog, den ich für mich nutzen kann, indem ich mir sage, dass ich das so machen sollte/kann.
Wenn Sie S*S dazu auffordern, für sich selbst einen Katalog mit Zielen o.ä. aufzustellen, dann schreiben die doch auch sowas wie “Ich möchte mich verbessern, indem ich …”
Haben Sie einen anderen Text vorliegen…? Das sind ausnahmslos Ich-Botschaften 😉
Nein, das sind keine Ich-Botschaften. Das ist eine Art To-do-Liste in Ich-Form formuliert. Nicht jeder Satz, der mit Ich beginnt ist eine Ich-Botschaft.
Ich-Botschaften richten sich an andere. Das ist hier nicht der Fall.
Haben jüdische Schülerinnen und Schüler überhaupt in so großem Umfang Redebedarf zu diesen Themen im Unterricht? Ich habe aus öffentlichen Medien den Eindruck, dass sie sich eher stark zurückhalten.
Ich hatte in 20 Jahren genau einen jüdischen Schüler. Das ist eine so kleine Minderheit verglichen mit anderen Schülergruppen, dass ich mir vorstellen kann, dass sie sich lieber bedeckt halten.
Irritiert hat mich dieser Punkt” Ich spreche mich im Unterricht dafür aus, dass Palästinenser*innen das Recht auf einen eigenen Staat haben und gleichzeitig thematisiere ich, dass die Ermordung von jüdischen Menschen keine antikoloniale Widerstandshandlung ist, weil Israel kein Apartheitsstaat ist.”
Wäre das Ermorden von Menschen demnach gerechtfertigt, wenn Israel ein Apartheitstaat wäre? ( Definiere Apartheit) hier würde ich eher zu der Haltung tendieren: Nein, ermorden ist niemals gerechtfertigt.
Ist das tatsächlich der Anspruch von sozialWISSENSCHAFTLICHER Bildung, ein solches Thema im Duktus eines Glaubensbekenntnisses zu behandeln?
Die Konsequenz ist doch, dass andere Menschen einfach nur weitere Bekenntnisse abliefern:
Wie soll ein Dialog zustande kommen, wenn jede Seite nur sich selbst Ich-Botschaften vorbrabbelt…?
Im letzten Abschnitt wird der Internationale Strafgerichtshof mit dem Internationalen Gerichtshof verwechselt. Feiner Unterschied. Bitte korrigieren!.
Die Auflistung der zu beachtenden Aspekte und der wichtigen kollegialen Auseinandersetzung sind gelungen – zugegeben – aber diese aufwändige Vorgehensweise kostet erkennbar viel Zeit und Einsatz.
Wir so oft sind aber genau das die limitierenden Faktoren für solche Projekte.
Wann – bitte schön – finden wir dies im normalen Alltagswahnsinn?
Wichtiges Thema – keine Zeit! Also das, was wir in Schulen bereits so gut kennen.
“[…] im Zuge dessen thematisiere ich die menschenfeindliche Sprache führender israelischer Minister*innen, die Palästinenser*innen als ‘menschliche Tiere’ bezeichnet haben.”
Ohne das Problemfeld der Dehumanisierung von Feinden im Detail diskutieren zu wollen, aber die Rede davon, dass “Palästinenser*innen” derart bezeichnet wurde, ist arg verzerrend. Yoav Gallant schrieb inmissverständlich über die Hamas und dss zwei Tage nach dem Terrorüberfall sm 07. Oktober. Und wer sich einmal erkundigt hat, welche Verbrechen an dem Tag ganz konkret(!) brgangen wurde, mag die Bezeichnung verstehen……… das muss ich nicht großartig i.S.e. ‘aaaber ein israelischer Minister gat auch geschrieben […]’-Bemerkung ggü. meinen Schülern proaktiv erwähnen, die Gräueltaten der Hamas stehen in keinem Verhältnis zu so einer Rede (und dabei sei sm Rande erwähnt, dass das Juden ggü. dehumanisierende Vokabular zum Standardrepertoire der Hamas gehört). Und natürlich hat fie Hamas akleine Schuld am aktuellen Gazakrieg.