„Damit niemand Angst haben muss“: Ein Gastbeitrag über Frieden im Kleinen

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BOCHUM. Die Bildungsstätte Anne Frank warnte jüngst vor einer Speed-Radikalisierung junger Menschen. Besonders beeinflusst durch die Videoplattform TikTok brächten Schülerinnen und Schüler auf einmal unverrückbare Positionen zum Nahost-Konflikt in die Schule. Das stellt Lehrende – einzeln und im Kollegium – vor die Herausforderung, Auseinandersetzungen nicht eskalieren zu lassen. Dr. Karim Fereidooni, Professor für Didaktik der sozialwissenschaftlichen Bildung an der Ruhr-Universität Bochum, hat eine Liste mit Handlungsempfehlungen für Lehrkräfte erstellt. Im zweiten Teil seines Gastbeitrags zum Nahost-Konflikt geht es auch um die Frage, wie die Regeln eines friedlichen Zusammenlebens aussehen können.

Hier geht es zum ersten Teil des Beitrags.

Der Nahost-Konflikt ist unter Schülerinnen und Schülern ein großes Diskussionsthema. (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

Der Hamas-Terror, der Gaza-Krieg und der Nahost-Konflikt – 50 Handlungsmöglichkeiten für Lehrer*innen (Teil 2)

4. Ich stelle menschliche Schicksale vor, anstatt Opferzahlen zu präsentieren

  • Ich befördere die Empathiefähigkeit meiner Schüler*innen, indem ich die individuellen Schicksale auf israelischer und palästinensischer Seite beleuchte, damit die Schüler*innen die menschlichen Schicksale hinter der großen Zahl der Getöteten kennenlernen.
  • Ich thematisiere im Unterricht die Einzelschicksale beider Seiten. Ich gehe unter anderem auf die Ermordung des palästinensischen Rettungssanitäters Awad Darawshe ein, der auf dem Supernova-Festival, welches am 7.10. von den Hamas-Terroristen angegriffen wurde, Dienst tat und durch die Terroristen umgebracht wurde. Ich thematisiere das Schicksal von Shachar, Shlomi und Rotem Mathias, um die Grausamkeit des Terrors des 7.10. behandeln zu können.
  • Ich thematisiere das Leid der palästinensischen Bevölkerung im Rahmen des Gaza-Kriegs und zugleich informiere ich meine Schüler*innen über die Arbeit der Initiative „Bring Them Home Now“, die sich dafür einsetzt, dass die israelischen Geiseln, die von der Hamas nach Gaza entführt wurden, freigelassen werden.

5. Ich stelle Initiativen vor, die sich für den Frieden einsetzen

6. Ich erläutere historische und geopolitische Zusammenhänge des Nahost-Konflikts

  • Ich stelle meinen Schüler*innen die historischen Zusammenhänge der Shoah dar und beleuchte unter anderem die Rolle der christlichen Kirchen in der Zeit von 1933 bis 1945 und die Position des Großmuftis von Jerusalem.
  • Ich präsentiere muslimische Persönlichkeiten, die in der Zeit von 1933-1945 jüdische Menschen vor der Deportation bewahrt haben, wie zum Beispiel Si Kaddour Benghabrit, Abdul Hussain Sardari oder Mohammad Helmy.
  • Ich thematisiere die geopolitischen Zusammenhänge hinter dem Nahost-Konflikt und gehe unter anderem auf die historische Rolle des englischen Kolonialismus von Palästina und die Vertreibung von ca. 700.000 bis 750.000 Palästinenser*innen zwischen 1947 und 1949 im Zuge der Teilungspläne Palästinas durch die Vereinten Nationen ein. Viele dieser geflüchteten Palästinenser*innen leben in Jordanien, im Libanon und in Syrien, wo sie am gesellschaftlichen Rand leben. Inzwischen beträgt die Anzahl der palästinensischen Geflüchteten 3,47 Millionen.
  • Ich gehe auf den aktuellen Regional-Konflikt zwischen Iran und Saudi-Arabien ein.

7. Ich entwickele Regeln des friedlichen Zusammenlebens für meine Schule

  • Ich habe nicht den Anspruch, den Nahost-Konflikt zu lösen. Vielmehr erarbeite ich mit meinen Schüler*innen gemeinsame Regeln des Miteinanders in unserer Klasse und in unserer Schule.
  • Ich arbeite gemeinsam mit meinen Schüler*innen daran, dass niemand Angst haben muss, in die Schule zu kommen.
  • Ich konzipiere Unterrichtsmaterialien mit meinen Kolleg*innen und meinen Schüler*innen, damit die Multiperspektivität des jüdischen und muslimischen Lebens in Deutschland sichtbar wird.

8. Ich nehme Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus ernst

  • Ich erkenne an, dass Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus in unserer Gesellschaft vorkommen und setze mich dafür ein, dass in unserer Schule beiden Ungleichheitsideologien gleichermaßen entgegengewirkt wird. Hierfür nutze ich unter anderem die Erkenntnisse der Mitte Studie 2023 und den Bericht des Unabhängigen Expertenkreis Muslimfeindlichkeit. Ich weiß, dass antimuslimischer Rassismus und Antisemitismus nach dem Prinzip „teile und herrsche“ funktionieren.
  • Ich spiele in meinem Unterricht Minderheiten (Juden/Jüd*innen und Muslim*innen) nicht gegeneinander aus.
  • Ich erkenne an, dass meine muslimischen Schüler*innen bzw. meine Schüler*innen, die als muslimisch wahrgenommen werden und die gegebenenfalls in meinem Unterricht Antisemitismus reproduzieren, von antimuslimischem Rassismus betroffen sind. Und ich erkenne an, dass meine jüdischen Schüler*innen bzw. meine Schüler*innen, die als jüdisch wahrgenommen werden und die gegebenenfalls in meinem Unterricht antimuslimischen Rassismus reproduzieren, von Antisemitismus betroffen sind.
  • Ich nutze antimuslimischen Rassismus nicht, um Antisemitismus zu bekämpfen. Und ich nutze Antisemitismus nicht, um antimuslimischen Rassismus zu bekämpfen.

9. Ich besitze eine realistische Sichtweise auf mein schulisches Handeln

  • Ich bin mir bewusst, dass Schüler*innen die demokratischen Werte unserer Gesellschaft vor allem in der Schule lernen.
  • Ich weiß, dass mein Unterricht für viele Schüler*innen der einzige Ort in ihrem Leben ist, in dem sie mit gegensätzlichen Meinungen konfrontiert werden.
  • Ich überschätze und unterschätze meine Rolle nicht.
  • Ich erkenne an, dass Lernen ein zirkulärer Prozess und kein linearer Prozess ist.
  • Ich weiß, dass Bildungsprozesse Zeit brauchen.
  • Ich erkenne an, dass meine Schüler*innen, die sich aktuell menschenfeindlich äußern, vielleicht in einigen Monaten oder Jahren dazulernen und sich von ihren menschenfeindlichen Positionen lösen.
  • Ich verstehe, dass Schule ist ein Schutzraum für Schüler*innen ist, in dem Schüler*innen Entwicklungsmöglichkeiten haben müssen.
  • Ich erkenne an, dass Schüler*innen sich ausprobieren, mich provozieren und sich an meinen politischen Positionen reiben, um ihren Platz in unserer Gesellschaft zu finden. Ich setze mich Tag für Tag für die Bildung von jungen Menschen ein und begegne deshalb jungen Menschen respektvoll, auch wenn Sie mir diesen Respekt zeitweise nicht entgegenbringen.
  • Ich akzeptiere, dass ich als Lehrkraft eine Vorbildrolle in unserer Gesellschaft einnehme. Ich akzeptiere, dass ich einige meiner Schüler*innen mit meinen Bildungsangeboten nicht erreichen kann.
  • Ich realisiere, dass sich einige meiner Schüler*innen trotz meiner Bemühungen weiterhin menschenfeindlich äußern werden.

10. Ich gehe wertschätzend mit mir um

  • Ich mache mein persönliches Glück nicht vom Lernerfolg meiner Schüler*innen abhängig.
Zum Autor
Prof. Dr. Karim Fereidooni ist Professor für Didaktik der sozialwissenschaftlichen Bildung an der Ruhr-Universität Bochum und forscht schwerpunktmäßig zu den Themen „Rassismuskritik in pädagogischen Institutionen“, „Schulforschung und Politische Bildung in der Migrationsgesellschaft“ sowie „Diversitätssensible Lehrer*innenbildung“.

Darüber hinaus berät er die Bundesregierung (Kabinett Scholz I) zur Erarbeitung der Gesamtstrategie „Gemeinsam für Demokratie und gegen Extremismus – Strategie der Bundesregierung für eine starke, wehrhafte Demokratie und eine offene und vielfältige Gesellschaft“.

Mehr Informationen zum Autor unter: www.karim-fereidooni.de

Hier geht es zum ersten Teil des Beitrags:

„Ich zeige Haltung“: Wie Lehrkräfte mit Schülern über den Gaza-Krieg sprechen können (und worauf es dabei ankommt) – ein Gastbeitrag

 

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1 Kommentar
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Lisa
1 Monat zuvor

Danke für diesen Text. Damit kann ich etwas anfangen.
„Ich erkenne an, dass meine Schüler*innen, die sich aktuell menschenfeindlich äußern, vielleicht in einigen Monaten oder Jahren dazulernen und sich von ihren menschenfeindlichen Positionen lösen.“
Ja, das ist wichtig. Menschen ändern sich durch ihre Erfahrungen. Siehe Beispiel Ottfried Preußler.