DÜSSELDORF. In der deutschen Schule klaffen Anspruch und Wirklichkeit mitunter so krass auseinander, dass es schon fast lustig ist – wenn es nicht so traurig wäre. Dies macht einmal mehr die lächerliche Initiative einer wöchentlichen „Verfassungsviertelstunde“ deutlich, in der zack, zack die Werte des Grundgesetzes vermittelt werden sollen. Ein Kommentar von News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek.
Demokratiebildung gehört zu den Kernaufgaben des Lehr- und Lernbetriebs. Kein Schulgesetz eines Bundeslandes kommt ohne weihevolle Worte darüber aus, welche hehren Bildungsziele der Schule zukommen. „Achtung vor der Würde des Menschen“, „vor der Gleichberechtigung von Männern und Frauen“, „Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne und Verantwortungsbewusstsein für Natur, Umwelt, Artenschutz und Artenvielfalt“ – dies alles sollen Lehrkräfte ihren Schülerinnen und Schülern vermitteln, so heißt es beispielsweise im Artikel 1 (also ganz vorne) im „Bayerischen Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen“.
Am „Geist der Demokratie“ und mit Blick sogar auf „Völkerverständigung“ habe sich die schulische Erziehung auszurichten, das steht dort auch. Doof nur, dass die Schulpolitik sich jahrzehntelang nicht die Bohne dafür interessiert hat.
Ein Ranking der Uni Bielefeld stellte 2022 fest, dass „in keinem Bundesland das Leitfach der politischen Bildung im Verlauf der Sekundarstufen I und II durchgehend verbindlich ist“. Am schlechtesten ist es danach um die politische Bildung an bayerischen Schulen bestellt. „Bayern belegt kontinuierlich mit Abstand den letzten Platz“, so heißt es in der Studie.
Aufgeschreckt durch die guten Umfrageergebnisse der AfD auch unter jungen Menschen, hat sich die bayerische Staatsregierung aus CSU und Freien Wählern nun überlegt, die politische Bildung in den Schulen stärken zu wollen. Herausgekommen ist ein Witz: Eine „Verfassungsviertelstunde“ einmal pro Woche soll Schülerinnen und Schülern die Werte des Grundgesetzes vermitteln – allen Ernstes. Damit keine Kosten in Form von Lehrkräftestellen entstehen, werden die 15 Minuten nicht mal zum bisherigen Unterrichtspensum dazugelegt. Angestrebt wird (O-Ton Kultusministerium) „eine harmonische und flexible Einbettung in das Fächerspektrum“. Anders ausgedrückt: Sie sollen irgendwo reingeknödelt werden.
Das ist nicht nur deshalb grotesk daneben, weil in 15 Minuten kaum „anhand von praktischen Beispielen über die Bayerische Verfassung und das Grundgesetz sowie die dort verankerten Grundsätze diskutiert“ werden kann, wie die Koalitionspartner vereinbart haben (das würde nicht mal der Trash-TV Sender RTL zustande bringen). Es geht auch völlig am „Geist der Demokratie“ vorbei, den die Schülerinnen und Schüler doch irgendwie erhaschen sollen: Demokratie lebt von Teilhabe, davon dass Menschen ihre Belange zumindest mitbestimmen können – auch junge. Wer aber, wie in Deutschlands Schulen üblich, nur ein bisschen formale Mitbestimmung für die Schülerschaft und ihre Lehrkräfte vorsieht, davon aber alles Relevante (wie die Lehrplan-Inhalte oder die Verwendung der bereitgestellten Ressourcen) ausnimmt, schafft letztlich ein bürokratisch-autoritäres System, das mit Demokratie herzlich wenig zu tun hat.
Das ist nicht nur ein Problem für die politische Bildung. Das erklärt zum Teil auch das allenfalls mittelmäßige Leistungsniveau der deutschen Schulen – laut PISA-Chef Andreas Schleicher jedenfalls. Für ihn hängen Mitwirkung und Motivation eng zusammen. Mit Blick auf Deutschland meinte der OECD-Bildungsdirektor kurz vor Veröffentlichung der jüngsten, für Deutschland desaströsen PISA-Studie: „Die meisten Schülerinnen und Schüler sind heute Konsumenten vorgefertigter Lerninhalte, Lehrkräfte sind zu Dienstleistern, Kinder und Eltern zu Kunden geworden. Das Herz der Bildungsidee ist verloren gegangen.“
Das galt Schleicher zufolge auch für das Beispiel Portugal. „Portugals Schulsystem war sehr vertikal ausgerichtet und überaus bürokratisch. Dann hat man beschlossen: Wir machen einen Versuch und geben Schulen einen Euro pro Schüler extra und dieser Euro wird von den Schülern ausgegeben, sie konnten selbst entscheiden, wie sie diese Ressourcen einsetzen.“ Dies habe zu einem grundlegenden Mentalitätswandel geführt. „Plötzlich waren die Schüler Akteure, nicht mehr Konsumenten, und sie haben dann zum Beispiel auch bei der Schulleitung nachgefragt: Warum leckt hier das Dach? Warum haben einzelne Schüler nicht die Mittel für eine Teilhabe an schulischen Aktivitäten? So kann man Dinge verändern, es ist tatsächlich gar nicht so schwer.“
Schleicher forderte für Deutschland: „Schulen brauchen mehr Entscheidungsfreiheit!“ Er befand: „An deutschen Schulen herrscht oft noch ein falsch verstandener Konformismus, nicht zuletzt durch eine erdrückende Bürokratie, die über das Schulsystem entscheidet. Nur 17 Prozent der Entscheidungen darüber werden in Deutschland in den Schulen selbst getroffen. Daher braucht es mehr Entscheidungsfreiheit. Im Nachbarland Niederlande sind es neun von zehn Entscheidungen, um genau zu sein 93 Prozent.“
Das Problem: In Deutschland ist die Politik in die entgegengesetzte Richtung unterwegs – noch mehr Zentralismus, noch mehr Vorgaben (auch wenn sie noch so lächerlich sind). Wie halt eine „Verfassungsviertelstunde“, in der mal eben das Wesen der Demokratie vermittelt werden soll. News4teachers
