Nach der Absage einer geplanten Abiturfeier wegen angekündigter politischer Proteste im Kontext des Gaza-Kriegs hat die Lehrerschaft die Entscheidung verteidigt. «Wir möchten nicht riskieren, dass im Rahmen einer Schulveranstaltung Sachverhalte unausgewogen dargestellt und Menschen bedroht, beleidigt oder unter Druck gesetzt werden oder ihre Sicherheit sogar gefährdet wird», heißt es in einem offenen Brief der Lehrerinnen und Lehrer auf der Internetseite des Gymnasiums Tiergarten. Einige Abiturienten hätten sich bereits entschieden, nicht an der Feier teilzunehmen.
Das Kollegium bedauere die Absage sehr. «Gleichwohl stehen wir klar hinter der Entscheidung der Schulleitung, der Schulsozialarbeit und der erweiterten Schulleitung», heißt es in dem Brief (siehe unten).
«Wir werden keine Bedrohungen, Hassbekundungen und antisemitischen Äußerungen dulden»
Auch Berlins Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) unterstützt den Schritt: «Ich stehe fest an der Seite der Schulleitung und des Lehrerkollegiums in ihren Entscheidungen», sagte sie dem «Tagesspiegel». «Wir werden keine Bedrohungen, Hassbekundungen und antisemitischen Äußerungen dulden und weiterhin gemeinsam gegen jegliche Störungen restriktiv vorgehen. Das gilt sowohl für den Unterricht als auch für sämtliche schulische Veranstaltungen», so die Senatorin.
Schule und Bildungsverwaltung prüfen derzeit, in welcher Form die Abiturzeugnisse doch feierlich übergeben werden können. Die Idee, die Zeugnisse in kleinen Gruppen in der Schule vom jeweiligen Tutor ohne Eltern in Empfang nehmen zu können, kam nach Medienberichten nicht gut an. Zugleich riefen propalästinensische und israelfeindliche Gruppen in sozialen Medien zu Protestkundgebungen vor der Schule an jenem 5. Juli auf, wie es auch in der «Berliner Morgenpost» hieß.
Der Gaza-Krieg sorgt an den Berliner Schulen für eine teils angespannte und aufgeladene Stimmung. Bereits wenige Tage nach dem Terrorangriff der islamistischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 gab es in diesem Zusammenhang an einem Neuköllner Gymnasium sogar eine gewalttätige Auseinandersetzung zwischen einem Schüler und einem Lehrer (News4teachers berichtete). News4teachers / mit Material der dpa
Folgende Erklärung hat die Gesamtkonferenz der Lehrkräfte des Gymnasiums Tiergarten am 19. Juni 2024 verabschiedet:
«Das Gymnasium Tiergarten ist eine Schule im Herzen von Berlin, deren Schulgemeinschaft davon geprägt ist, dass Menschen mit unterschiedlichsten familiären und kulturellen Hintergründen und Glaubensrichtungen miteinander lernen und leben. Diese Vielfalt ist eine Besonderheit, die uns bereichert und die unsere Schule ausmacht.
Als Lehrkräfte haben wir neben der Vermittlung von Fachwissen immer auch die Aufgabe, mit den Schüler:innen in kontroverse Gespräche zu gehen, Konflikte zwischen Schüler:innen zu moderieren, sie emotional aufzufangen und ihnen die Werte zu vermitteln und zu erklären, für die wir stehen und denen wir verpflichtet sind. Allen voran sind dies die Würde und der Wert eines jeden Menschen. Diese zu achten bestimmt unser Handeln. Die Würde und den Wert jedes Menschen zu achten und zu schützen steht als oberste Zielsetzung im Zentrum unseres Bildungsauftrags. Wir sind gebunden an die Normen des Grundgesetzes und versuchen, sie jeden Tag mit Leben zu füllen – ebenso wie wir sie verteidigen.
Auch unsere Schulgemeinschaft wird durch weltpolitische Ereignisse beeinflusst. Insbesondere die jüngsten Entwicklungen im Nahen Osten haben bei vielen am Schulleben Beteiligten für Verunsicherung, für Ängste und Verzweiflung gesorgt. Offenbar haben einige Schüler:innen dabei das Gefühl, mit ihren Sorgen und Ängsten nicht genügend gehört zu werden. Andererseits stoßen wir Lehrkräfte durch die Konfrontation mit festgefahrenen Ansichten und einseitigen Darstellungen manchmal an unsere Grenzen. Insgesamt zeigt sich, dass einseitige Positionen und deren vehemente Verteidigung das Miteinander gefährden.
Dabei liegen uns unsere Schüler:innen, die wir so lange auf ihrem Weg zum Abitur unterrichten und ins Leben begleiten, sehr am Herzen. Sie feierlich mit dem Abiturzeugnis zu entlassen, ist auch für uns immer wieder ein bewegender und sehr besonderer Moment.
Die Absage der diesjährigen Abiturverleihung trifft uns entsprechend hart.
Ein beträchtlicher Teil des diesjährigen Abiturjahrgangs hatte den Plan, seinem Protest gegen die Situation der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen bei der diesjährigen Abiturverleihung „standhaft“ und ohne vorherige Absprache mit der Schule Ausdruck zu verleihen. Es wurde dabei explizit dazu aufgerufen, auch dann fortzufahren, wenn die Lehrkräfte zum Aufhören auffordern würden. Das Vorhaben wurde von ca. der Hälfte des Jahrgangs unterstützt. Gleichzeitig fühlten sich einige Schüler:innen stark unter Druck gesetzt, sich der Aktion anzuschließen.
Diese Tatsache, vor allem aber die nicht zu gewährleistende Sicherheit aller Teilnehmenden ließ keine andere Möglichkeit zu, als diese Veranstaltung abzusagen. Zu groß wäre die Gefahr, dass diese Schulveranstaltung durch die geplante oder zumindest in Kauf genommene Konfrontation außer Kontrolle gerät und dadurch nicht mehr das sein kann, was sie eigentlich sein soll: Die feierliche Auflösung eines friedlichen schulischen Miteinanders.
Wir als Kollegium bedauern diesen Schritt ausdrücklich. Gleichwohl stehen wir klar hinter der Entscheidung der Schulleitung, der Schulsozialarbeit und der erweiterten Schulleitung. Wir möchten nicht riskieren, dass im Rahmen einer Schulveranstaltung Sachverhalte unausgewogen dargestellt und Menschen bedroht, beleidigt oder unter Druck gesetzt werden oder ihre Sicherheit sogar gefährdet wird. Dass einige Abiturient:innen für sich bereits entschieden hatten, der Veranstaltung genau deshalb fernzubleiben, bestätigt unsere Befürchtung einer festgefahrenen Situation.
Unseren Auftrag sehen wir auch in Zukunft darin, mit den Schüler:innen im Gespräch zu sein und zu bleiben, gegenseitiges Vertrauen weiter (oder auch wieder) aufzubauen, gleichzeitig Konfrontationen abzubauen, dabei unterschiedliche Sichtweisen im Rahmen des Grundgesetzes zuzulassen und gemeinsam auszuhandeln, wie der Ort aussehen soll, an dem wir zusammen lernen und leben.
Diese Bereitschaft wünschen und erhoffen wir uns von allen am Schulleben Beteiligten.»
