Es ist etwas, das man auch in Deutschland öfter hört: Viele junge Menschen fühlen sich schlecht auf das Arbeits- und Erwachsenenleben vorbereitet. Ältere finden, den Jüngeren mangele es an Eigeninitiative und Widerstandskraft. Das habe einen Grund: Es fehlt häufig an Gelegenheiten, die eigene Autonomie zu entwickeln – sei es in der Schule oder zu Hause, schreiben die Fachautorinnen Jenny Anderson und Prof. Rebecca Winthrop in der «New York Times», die dazu jetzt ein Buch veröffentlicht haben (“The Disengaged Teen”).
Selbstbestimmung erhöht die Motivation
Autonomie zu fördern bedeute aber nicht, Kindern und Jugendlichen völlige Freiheit zu lassen. Es gehe vielmehr darum, sie dabei zu unterstützen, eigene Ziele zu setzen, Strategien zu entwickeln und mit Rückschlägen umzugehen, so Anderson und Winthrop. Sie verweisen auf aktuelle Studien, die zeigen, dass Kinder durch mehr Selbstbestimmung nicht nur motivierter sind, sondern auch wichtige Fähigkeiten entwickeln, die sie im späteren Leben brauchen.
Eine Untersuchung von über 66.000 Schülern und Schülerinnen, die die Entwicklungspsychologin Winthrop zusammen mit der Brookings Institution und der Non-Profit-Organisation Transcend durchgeführt hat, ergab, dass nur 33 Prozent der Zehntklässler regelmäßig die Möglichkeit erhalten, eigene Ideen zu entwickeln. Mit den Schuljahren wächst der Frust: Während 74 Prozent der Drittklässler Schule als spannend empfinden, sinkt dieser Wert bis zur 10. Klasse auf gerade einmal 26 Prozent.
“Manchmal sieht es so aus, als wären die Schülerinnen und Schüler engagiert – sie folgen Anweisungen und stören den Unterricht nicht –, tatsächlich beginnen sie jedoch, den Bezug zu ihrem Lernen in der Schule zu verlieren”, so schreiben die Autorinnen in einem weiteren Beitrag. Sie machen darin vier (durchaus wechselnde) Modi aus, in denen Schülerinnen und Schüler mit der Schule interagieren:
- Explorer-Modus: Schülerinnen und Schüler werden durch innere Neugier angetrieben, untersuchen Fragen, die ihnen wichtig sind, und setzen ihre Ziele hartnäckig um. Diese Schülerinnen und Schüler entwickeln Resilienz und Fähigkeiten, die ihnen helfen, erfolgreich zu sein, und sie schneiden oft sehr gut in der Schule ab.
- Achiever-Modus: Diese leistungsstarken Schülerinnen und Schüler sind zwar engagiert, können jedoch Probleme bekommen, da sie ihr Selbstwertgefühl oft an ihre Leistung knüpfen. Dies kann zu Versagensängsten und möglichen psychischen Herausforderungen führen. Sie benötigen Unterstützung dabei, sich neuen Herausforderungen zu stellen und sich unabhängig von ihren Leistungen wertzuschätzen.
- Passenger-Modus: Diese Schülerinnen und Schüler wirken vielleicht engagiert, „gleiten“ jedoch durch den Schulalltag und erledigen nur das Nötigste. Sie brauchen Unterstützung dabei, eine Verbindung zwischen Schule und ihren Interessen, Fähigkeiten und Lernbedürfnissen herzustellen.
- Resister-Modus: Diese Schülerinnen und Schüler sind am sichtbarsten desinteressiert und kämpfen oft still mit Gefühlen von Unzulänglichkeit oder Unsichtbarkeit. Sie drücken ihr Desinteresse durch Verhaltensweisen wie das Ignorieren von Hausaufgaben, das Vortäuschen von Krankheit, das Schwänzen von Unterricht oder auffälliges Verhalten aus.
Was die Forschung lehrt
Johnmarshall Reeve, Pädagogikforscher an der Australian Catholic University, hat in über 35 Studien gezeigt, wie positiv sich mehr Handlungsspielraum auf Lernende auswirkt, so die Autorinnen. Wenn Kinder und Jugendliche eigene Entscheidungen treffen dürfen, sind sie engagierter, erfolgreicher und glücklicher.
Lehrkräfte könnten das schon mit kleinen Anpassungen erreichen, nämlich:
- Erklärende Begründungen geben: Wenn Lehrkräfte eine kurze Erklärung zu den Gründen für ihre Regeln, Anforderungen und Verfahren hinzufügen, hilft das Schülerinnen und Schülern, den Zweck zu erkennen, und steigert ihr Engagement. Dies gilt auch für die Zuweisung von uninteressanten oder routinemäßigen Aufgaben. Wenn Lehrkräfte erklären, warum sie möchten, dass Schülerinnen und Schüler eine Aufgabe erledigen, hilft das, sie zu motivieren.
- Einladende Sprache verwenden: Wenn Lehrkräfte ihre Anweisungen leicht von einem „Befehl-und-Kontroll“-Stil zu einer einladenderen Sprache ändern, engagieren sich Schülerinnen und Schüler eher. Dieser subtile Wechsel in Sprache, sowohl in Worten als auch in Körpersprache, kann das Umformulieren von Anweisungen wie „Du musst“, „Du solltest“, „Wenn du das nicht machst, dann…“ zu „Du kannst“, „Darf ich vorschlagen“, „Vielleicht könntest du versuchen“ beinhalten. Für Schülerinnen und Schüler wird die Befehlssprache oft als Aufforderung zur Befolgung wahrgenommen, während die einladende Sprache als Ermutigung gesehen wird.
- Wahlmöglichkeiten bieten, wo möglich: Wenn Lehrkräfte überschaubare Wahlmöglichkeiten für Schülerinnen und Schüler in den Unterricht integrieren, fordert das die Schülerinnen und Schüler dazu auf, über ihre Präferenzen nachzudenken. Diese Handlung allein engagiert sie mehr bei der Aufgabe. Überschaubare Wahlmöglichkeiten könnten sein, eine von drei verschiedenen Aufgaben für die Hausaufgabe auszuwählen, eine kurze Liste von Themen für eine schriftliche Aufgabe auszuwählen oder zu entscheiden, wie sie ihre Arbeit erledigen möchten (z. B. alleine oder mit einem Freund).
- Perspektiven von Schülerinnen und Schülern einholen: Dies kann für Lehrkräfte mit großen Klassen schwierig sein, aber ein Ansatz besteht darin, Schülerinnen und Schülern am Ende des Unterrichts eine Karteikarte, einen Klebezettel oder ein elektronisches Exit-Ticket zu geben und sie zu fragen: „Welche Frage zu der heutigen Lektion möchten Sie noch klären oder mehr darüber erfahren?“ Wenn Lehrkräfte dieses Feedback aufnehmen und ihre nächste Lektion anpassen, um die Fragen der Schülerinnen und Schüler zu integrieren, fühlen sich die Schülerinnen und Schüler einbezogen. Das motiviert und engagiert sie.
Eltern als Begleiter
Auch Eltern könnten zu Hause die Autonomie ihrer Kinder fördern, so die Autorinnen. Der Bildungsforscher John Hattie etwa habe in seiner «Visible Learning»-Studie gezeigt, dass Kinder erfolgreicher lernen, wenn Eltern Empathie zeigen und Wahlmöglichkeiten anbieten. Auch wenn Kinder vielleicht Schwierigkeiten mit der Konzentration haben. Statt auf Durchsetzung zu pochen («Mach jetzt das!») und das dann genau zu kontrollieren, könnten Eltern gemäß Reeve sagen:
«Ich höre, dass du sagst, du hasst es, Hausaufgaben zu machen. Das ging mir als Kind auch so» – durch diese Perspektivenübernahme zeigen sie Einfühlungsvermögen. Und weiter: «Aber Hausaufgaben können einen großen Unterschied machen, wenn es darum geht, eine neue Fähigkeit zu erlernen» – damit liefern sie eine erklärende Begründung. Schließlich: «Wir könnten 15 Minuten arbeiten und dann eine Pause machen, oder würdest du lieber jetzt eine Pause machen und in einer Stunde wieder anfangen?» – so bieten sie Auswahl und planen, was gemacht werden soll.
Man solle die Kinder tun lassen, was sie bereits könnten, und sie anleiten und ermutigen, Dinge zu tun, die sie fast könnten. Außerdem solle man sie Dinge lehren, die sie noch nicht könnten, zitieren Winthrop und Anderson etwa die Entwicklungspsychologin Aliza Pressmann. «Auf diese Weise können Eltern ihren Kindern helfen, Handlungskompetenz aufzubauen.» News4teachers / mit Material der dpa
- Hier geht es zum Beitrag in der New York Times.
- Hier geht es zum Beitrag auf “Education International”.
