BERLIN. In einem Jahr tritt der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder in Kraft – und vielerorts herrscht Alarmstimmung. Kommunen bauen unter Hochdruck, ringen mit Ministerien um Zuständigkeiten und Geld – und warnen offen: „Das schaffen wir nicht!“ Der Zeitplan ist ambitioniert, die Mittel knapp, das Personal fehlt. Schulträger sehen sich einer Herkulesaufgabe gegenüber.
In etwas mehr als einem Jahr ist es so weit: Ab dem Schuljahr 2026/27 haben Eltern in Deutschland einen gesetzlichen Anspruch auf einen Ganztagsplatz für ihr Kind in der Grundschule – zunächst für Erstklässler, dann schrittweise für alle Jahrgänge bis 2029. Was auf dem Papier nach einem familienpolitischen Meilenstein klingt, entpuppt sich für viele Kommunen als nahezu unlösbare Mammutaufgabe. Die Herausforderungen sind immens: Es fehlt an Geld, an Räumen, an Personal – und vor allem an Zeit.
Man arbeite gerade unter Hochdruck, betonen Landesministerien wie in Bayern. Doch hinter den Kulissen häufen sich Krisengespräche. Der Bayerische Rundfunk (BR) titelt bereits: „Wackelt die Ganztags-Garantie?“ Und in Nordrhein-Westfalen prüfen Kommunen juristische Schritte gegen das Land.
Juristische Drohkulisse in NRW: Kommunen fordern Konnexitätsprinzip ein
Düsseldorfs Oberbürgermeister Stephan Keller (CDU) hat die Alarmglocken besonders laut geläutet. „Wir lassen das rechtlich überprüfen“, sagt Keller im Gespräch mit dem WDR. Gemeinsam mit anderen Städten prüfe Düsseldorf eine Klage gegen das Land NRW – wegen der enormen Kosten, die mit dem Ganztagsausbau verbunden sind. Laut Keller müsse an 72 von 94 Düsseldorfer Grundschulen gebaut oder umgebaut werden. Drei Schulen müssten sogar komplett neu errichtet werden. Gesamtkosten: rund 200 Millionen Euro.
Zur Einordnung: 3,5 Milliarden Euro stellt der Bund den Ländern im Rahmen seines Investitionsprogramms “Ganztagsausbau” zur Verfügung. Das sind bei 15.500 Grundschulen in Deutschland gerade mal rund 225.000 Euro pro Einrichtung (also nur ein Bruchteil der notwendigen Mittel).
„Der Bund will den Ganztagsanspruch und die Länder sind für die Umsetzung zuständig. Also müssten die Länder auch zahlen“, fordert Keller – und beruft sich auf das Konnexitätsprinzip: Wer bestellt, muss auch bezahlen. Die bisherigen Landeszuschüsse reichten nicht annähernd aus, so der OB. Unterstützt wird er vom Städtetag NRW, der ebenfalls juristische Optionen prüft und verlangt, dass das Land den Ganztagsanspruch endlich ins Schulgesetz aufnimmt. Bislang operiert NRW mit Erlassen.
Das Schulministerium bleibt allerdings gelassen. Auf Anfrage des WDR erklärte ein Sprecher: „Die gesetzlichen Voraussetzungen für einen Konnexitätsausgleich sind nicht erfüllt.“ Außerdem investiere das Land ab 2026 jährlich rund eine Milliarde Euro in den offenen Ganztag – inklusive Aus- und Neubauten sowie Sanierungen.
Die hitzige Debatte ist kein NRW-Spezifikum. Auch in anderen Bundesländern liegen Kommunen und Landesregierungen im Clinch. Schlagzeilen:
- „Streit um Ganztagsschule: Kommunen drohen mit Verfassungsklage gegen das Land“ (Schleswig-Holstein),
- „Wer bezahlt den Ganztag? Streit zwischen Kommunen und Ländern kocht hoch“ (Rheinland-Pfalz),
- „Kommunen genervt von Hinhaltetaktik der Landesregierung beim Ganztag“ (Baden-Württemberg).
Die Landespolitik verweist auf bestehende Programme und Fördermittel. Doch vielerorts reichen diese hinten und vorne nicht. Die Stadt Dortmund stellt klar: „Trotz der Förderrichtlinie Ganztagsausbau reichen die bereitgestellten Mittel bei Weitem nicht aus, um sämtliche baulichen Maßnahmen vollständig zu finanzieren.“
Der Deutsche Städte- und Gemeindebund (DStGB) warnt seit Jahren, dass die Kommunen mit der Aufgabe überfordert sein könnten. Bereits 2023 erklärte der damalige Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg: „Es wird lange dauern, bis das in Deutschland flächendeckend funktioniert.“ In seinem Jahresausblick 2025 forderte der Verband eine Verlängerung der Fristen zur Mittelverwendung um mindestens zwei Jahre. Tatsächlich hat die neue Bundesregierung bereits auf den steigenden Druck reagiert: Sie verlängerte unlängst die Frist, in die Mittel aus dem Investitionsprogramm abgerufen werden können, bis 2029, um Ländern und Kommunen mehr Zeit zu geben, die Projekte umzusetzen.
Beispiel Bayern: Strukturen fehlen – und die Zeit rennt
Auch in Bayern ist die Lage angespannt. Uwe Brandl, Präsident des Bayerischen Gemeindetags, beklagt gegenüber dem Bayerischen Rundfunk: „Es ist einfach unmöglich, Menschen Dinge zu versprechen, die man sehenden Auges nicht halten kann.“ Seine Forderung: Ministerpräsident Markus Söder (CSU) müsse das Thema zur Chefsache machen. Es mangele an allem – Räumen, Personal, Planungskapazitäten.
Florian Eschstruth vom Bayerischen Elternverband benennt das Problem deutlich: „Jeder weiß, dass mit der heutigen Geschwindigkeit der Ganztagsanspruch in Bayern nicht zu erfüllen ist.“ Zwar gebe es positive Beispiele wie München, wo der „kooperative Ganztag“ funktioniere. Doch in vielen Kommunen herrsche eine „abwartende Haltung und ein Rufen nach dem Staat“. Tatsächlich wurden bislang nur Teile der Bundesfördermittel abgerufen. Es müsse ein öffentlicher Ganztagsverantwortlicher benannt werden, bei dem alles zusammenlaufe, fordert Eschstruth.
Trotz Fortschritten: Der Nachholbedarf bleibt enorm
Ein Blick in die bundesweiten Zahlen zeigt: Ja, es wurde in den letzten Jahren viel erreicht. 2006 nutzten laut DStGB nur 579.000 Grundschulkinder in Deutschland ein Ganztagsangebot – 2023 waren es bereits 1,8 Millionen, also rund 56 Prozent aller Grundschüler. Doch das reicht nicht. Der Bund selbst rechnet mit bis zu 481.000 zusätzlichen Plätzen bis 2029.
Hinzu kommt: Der Bedarf steigt dynamisch mit dem Ausbau. Laut einer Umfrage des Deutschen Jugendinstituts wünschen sich drei von vier Eltern ein Betreuungsangebot am Nachmittag für ihr Grundschulkind. Besonders in Westdeutschland klafft eine Lücke zwischen Angebot und Bedarf.
Herausforderung Ferienbetreuung: Kosten und Kapazitäten fehlen
Ein bislang wenig beachteter Aspekt ist die Ferienzeit. Laut Bundesgesetz dürfen Schulen im Ganztat nur an maximal 20 Werktagen im Schuljahr geschlossen bleiben. Das erfordert ein nahezu durchgängiges Angebot – auch im Sommer. Doch wer soll das stemmen? Fürths 2. Bürgermeister Markus Braun (SPD) erklärt gegenüber dem SPD-Kommunalmagazin „Demo“: „Dies führt zu einem erhöhten Bedarf an Personalstunden, für den derzeit noch keine Förderrichtlinie vorliegt.“ Die Kommunen tragen die Kosten – teilweise gedeckt durch Elternbeiträge.
Auch die Stadt Fürth steht exemplarisch für das Dilemma: Rund 70 Prozent der Grundschulkinder sind versorgt – doch um die 90-Prozent-Marke zu knacken, fehlen Mensen, Rückzugsräume und Personal. So seien wichtige Stellen im Baureferat nur unzureichend und schwer zu besetzen, berichtet Bürgermeister Braun. Deshalb stünden nicht ausreichend Architekt*innen, Planer*innen sowie Techniker*innen zur Verfügung.
Am dramatischsten aber ist die Lage beim pädagogischen Personal. Die Kitas und Schulen sind schon jetzt vom Fachkräfte- und Lehrermangel gebeutelt. Simone Fleischmann, Präsidentin des BLLV, mahnt an: „Lehrerinnen und Lehrer sind für Bildung und Erziehung zuständig – nicht für die Ferienbetreuung oder Sandkastenspiele.“ Sie fordert klar: „Die Verantwortung für ausreichend Personal darf nicht bei den Schulleitern landen.“
Die Bayerische Staatsregierung verweist auf Programme wie die Weiterbildung zur „Ergänzungskraft für Grundschulkindbetreuung“ oder den Schulversuch „Fachkraft für Grundschulkindbetreuung“. Doch selbst intern ist man sich laut BR bewusst, dass die Fachkräftegewinnung die größte Hürde bleibt. Elternsprecher Eschstruth sagt voraus: „Der Ausnahmezustand wird zum Normalzustand werden.“ Und warnt: „Der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung darf nicht zum Aufbewahrungsanspruch verkommen.“
Tatsächlich räumt Niedersachsens Kultusministerin Julia Willie Hamburg (Grüne) bereits ein: „Es wird nicht überall sofort perfekt sein.“ Zwar habe die rot-grüne Landesregierung bereits 2013 mit dem Ausbau von Ganztagsschulen begonnen und mittlerweile 72 Prozent der Grundschulen in Niedersachsen in Ganztagsbetrieb überführt – dennoch sei der vom Bund gesetzte Zeitplan ambitioniert, sagte Hamburg unlängst im Gespräch mit dem NDR.
„Vielleicht steht nicht an jeder Schule sofort eine Mensa. Manche Schule muss ein wenig improvisieren“, sagte die Ministerin voraus. Doch sie zeigte sich auch optimistisch: „Für die Kinder wird es funktionieren, und wir werden dann über die Jahre besser werden.“ News4teachers
