GÜTERSLOH. Schülerinnen und Schüler in Deutschland erleben Schule vielfach als einen Ort ohne echte Mitsprache. Das zeigt eine aktuelle Untersuchung der Bertelsmann Stiftung. Die Mehrheit der befragten Kinder und Jugendlichen berichtet, kaum Einfluss auf Unterrichtsthemen, Prüfungen oder schulweite Entscheidungen zu haben. Gleichzeitig belegt die Studie: Wo Jugendliche mitbestimmen dürfen, sind ihre demokratischen Kompetenzen deutlich stärker ausgeprägt. Die Autorinnen und Autoren versprechen sich davon auch mehr Motivation und mehr Lernerfolge.
„Mehr Beteiligung führt zu besseren Lernbedingungen … Eine zukunftsfähige Schule ist ohne Beteiligung nicht mehr vorstellbar.“ Mit diesen Worten unterstreicht Arne Halle, Bildungsexperte der Bertelsmann Stiftung, die Bedeutung der neuen Studie „Demokratisierung des Lernens in Schule“. Die Untersuchung, durchgeführt vom Institut iconkids & youth im Auftrag der Stiftung, befragte über 1.000 Schülerinnen und Schüler zwischen zwölf und 16 Jahren. Die Ergebnisse zeichnen ein klares Bild: Wo Jugendliche in der Schule mehr mitbestimmen dürfen, wachsen Motivation, Lernerfolg und demokratische Kompetenzen. Doch die Realität sieht häufig anders aus.
Kaum Mitsprache bei den Unterrichtsthemen
Die Befragten wurden unter anderem gefragt, ob sie in den vergangenen sechs Wochen mitbestimmen konnten, welche Themen und Inhalte im Unterricht behandelt werden. Das Resultat: 63 Prozent gaben an, selten oder nie beteiligt zu sein. Nur 8,8 Prozent sagten, dies sei oft der Fall gewesen.
In der Studie heißt es dazu: „Mitbestimmung im Unterricht beschränkt sich meist auf organisatorische Aspekte. […] Besonders selten sehen sich Schüler:innen einbezogen, wenn es darum geht, Themen und Inhalte für den Unterricht auszuwählen.“ Das heißt: Schülerinnen und Schüler erleben den Unterricht überwiegend als von den Lehrkräften vorgegeben – eigene Interessen und Vorschläge bleiben auf der Strecke.
Einfluss auf Methoden und Materialien: begrenzt
Etwas günstiger fällt das Bild bei den Methoden und Materialien aus. Rund 70 Prozent berichten, dass sie zumindest manchmal mitreden können. Doch der Anteil derjenigen, die regelmäßig einbezogen werden, bleibt niedrig. Nur 22 Prozent sagen, dass sie oft gefragt würden.
Die Autor:innen der Studie ziehen daraus den Schluss: „Je stärker [die Entscheidungen] das Handeln der Lehrkräfte betreffen, desto seltener sind Partizipationsgelegenheiten.“ Die Möglichkeit, die Form des Unterrichts mitzugestalten, ist also vorhanden, aber keineswegs selbstverständlich – und abhängig von der Haltung der Lehrkräfte.
Prüfungen: Mitbestimmung fast ausgeschlossen
Besonders deutlich werden die Grenzen der Beteiligung bei Prüfungen. Mehr als drei Viertel der Befragten (76 Prozent) gaben an, nie oder selten Einfluss auf Prüfungsart, Zeitpunkt oder Kriterien zu haben. Nur 5,7 Prozent sagten, sie seien oft eingebunden gewesen.
Die Studie kommentiert diesen Befund unmissverständlich: „Eine Änderung in der Unterrichtsgestaltung muss zwangsläufig Folgewirkungen auf Prüfungen haben.“ Solange Prüfungen aber fast ausschließlich von Lehrkräften festgelegt werden, bleibt der schulische Alltag aus Sicht der Jugendlichen stark fremdbestimmt.
Feedback: möglich, aber lückenhaft
Auch beim Thema Feedback zeigen die Zahlen ein zwiespältiges Bild. Zwar können 59 Prozent der Schülerinnen und Schüler ihren Lehrkräften zumindest manchmal sagen, was sie am Unterricht gut oder schlecht finden. Doch wenn es um anonymes Feedback geht, sieht es anders aus: Knapp die Hälfte gibt an, nie Gelegenheit dazu zu haben.
„Die Möglichkeiten, Rückmeldung zum Unterricht zu geben, sind […] begrenzt“, heißt es in der Studie. „Anonymes Feedback findet deutlich seltener statt.“ Viele Jugendliche haben also keine geschützte Möglichkeit, Kritik zu äußern – was ihre Bereitschaft zur Rückmeldung einschränken dürfte.
Offenes Unterrichtsklima: Politische Themen nicht selbstverständlich
Ein weiteres Kernthema ist das offene Unterrichtsklima. Auf die Frage, ob sie im Unterricht frei und offen ihre Meinung äußern könnten, sagten rund 83 Prozent: oft oder manchmal. Auch die Ermutigung durch Lehrkräfte, eine eigene Meinung zu entwickeln, wird von ähnlich vielen berichtet.
Anders sieht es aus, wenn es um politische und gesellschaftliche Themen geht. Nur 27 Prozent erleben oft Diskussionen über solche Fragen, 46 Prozent manchmal, der Rest selten oder nie. „Während ein offenes Meinungsklima grundsätzlich vorhanden ist, werden Schüler:innen nicht durchgängig darin gefördert, kontrovers zu diskutieren“, heißt es im Bericht.
Abwertende Äußerungen: auch durch Lehrkräfte
Die Befragung zeigt zudem, dass nicht alle Diskussionen respektvoll verlaufen. Mehr als die Hälfte der Jugendlichen hat in den vergangenen sechs Wochen erlebt, dass Mitschüler:innen abwertende oder beleidigende Meinungen geäußert haben. Erstaunlich ist, dass auch Lehrkräfte betroffen sind: Fast ein Viertel der Jugendlichen berichtet, dass sie abwertende Bemerkungen von Erwachsenen an ihrer Schule gehört haben.
Die Studie folgert: Lehrkräfte müssten dafür sorgen, „einen Schutzraum zu schaffen“, in dem Kritik möglich ist, ohne dass Grenzen überschritten werden.
Selbstbestimmtes Lernen: vorhanden, aber nicht selbstverständlich
Einige Befunde fallen positiver aus. So berichten 84 Prozent, dass sie oft oder manchmal selbstständig arbeiten dürfen. Ähnlich viele sagen, dass sie Verantwortung für ihren Lernfortschritt übernehmen. Weniger verbreitet ist jedoch die Möglichkeit, eigene Lernziele zu setzen – hier sagten nur zwei Drittel, dies sei ihnen regelmäßig möglich.
„Selbstverantwortliches Lernen ist zwar verbreitet, aber noch keine Selbstverständlichkeit“, betonen die Autor:innen. Besonders beim Setzen eigener Ziele bleibt ein Drittel der Jugendlichen außen vor.
Schulweite Entscheidungen: Beteiligung mit Einschränkungen
Wenn es um das Schulleben insgesamt geht, zeigt sich ein gemischtes Bild. Zwar sagen zwei Drittel der Befragten, dass Anliegen von Schüler:innen bei Entscheidungen berücksichtigt werden. Doch mehr als die Hälfte stimmt auch der Aussage zu, dass es „nicht gern gesehen“ werde, wenn sie Einfluss auf Entscheidungen nehmen wollen.
„Die Möglichkeiten zur Mitbestimmung des Schullebens bleiben meist hinter den Erwartungen der Schüler:innen zurück“, heißt es in der Analyse. Regeln für Beteiligung gibt es zwar vielerorts – doch ob diese auch wirksam sind, ist oft unklar.
Ganztagsschulen: Mehr Räume für Demokratie
Besonders stark unterscheiden sich die Ergebnisse nach Schulform. Ganztagsschulen schneiden deutlich besser ab: Hier berichten Schülerinnen und Schüler wesentlich häufiger von Beteiligung – sei es bei Themenwahl, Methoden, Prüfungen oder Feedback. So sagen etwa 49 Prozent der Ganztagsschüler:innen, dass sie Einfluss auf die Wahl der Unterrichtsthemen haben – an Schulen ohne Ganztag sind es nur 27 Prozent.
Die Autor:innen fassen zusammen: „Die Ergebnisse deuten […] auf eine deutlich partizipativere Schulkultur an Ganztagsschulen hin.“ Die zusätzlichen Zeiträume, die es dort gibt, eröffnen offenbar mehr Spielraum für Mitgestaltung.
Gymnasien ohne Ganztag: Schlusslicht bei der Beteiligung
Besonders schwach fällt die Beteiligung an Gymnasien ohne Ganztagsangebot aus. Dort sagen nur 25 Prozent, dass sie bei Themen mitbestimmen können – an anderen Schularten sind es 46 Prozent. Auch bei Methoden, Prüfungen und Feedback liegen die Werte am unteren Ende.
Die Studie nennt dafür mögliche Gründe: eine stärkere curriculare Verdichtung, die Leistungsorientierung und ein traditionelleres Rollenverständnis im Fachunterricht. Das Ergebnis ist eine ungleiche Verteilung von Demokratieerfahrungen: Wer ein Gymnasium ohne Ganztagsstruktur besucht, bekommt weniger Chancen auf Mitbestimmung.
Politische Selbstwirksamkeit: Wer beteiligt wird, traut sich mehr zu
Ein Kernbefund der Untersuchung lautet: Wo Jugendliche Mitbestimmung erleben, wächst auch ihre politische Selbstwirksamkeit. In den Befragungen gaben rund zwei Drittel an, sie könnten gut oder sehr gut ihren Standpunkt begründen oder eine Debatte über ein kontroverses Thema verfolgen. Noch geringer ist die Zuversicht, eine Schüler:innengruppe zu organisieren oder für die Schülervertretung zu kandidieren – hier liegen die Werte bei gut 40 Prozent.
Die Unterschiede zwischen Ganztag und Nicht-Ganztag sind auch in diesem Bereich sichtbar. „Mitbestimmungserfahrungen […] korrespondieren mit höherer politischer Selbstwirksamkeit“, fasst die Studie zusammen.
Empfehlungen: Partizipation verbindlich machen
Die Bertelsmann Stiftung fordert, diese Erkenntnisse politisch ernst zu nehmen. Schulen bräuchten mehr Freiheit, um Themen, Methoden und Prüfungen gemeinsam mit den Jugendlichen zu gestalten. Flexiblere Lehrpläne seien dafür ebenso notwendig wie ein Mentalitätswandel in Schulpolitik und Verwaltung.
Wichtig sei außerdem, Feedback systematisch zu verankern – am besten mit digitalen Instrumenten, die anonymes Rückmelden ermöglichen und von den Schüler:innen selbst bedient werden können. Auch die Stärkung der Schülervertretungen sei zentral: „Den Auftrag, junge Menschen für das Leben in einer sich schnell verändernden Gesellschaft vorzubereiten, können Schulen nur erfüllen, wenn sie sich selbst verändern“, erklärt Arne Halle.
Im Fazit betonen die Autor:innen, dass Partizipation zweifach wirkt: Sie sei nicht nur ein demokratisches Ideal, sondern fördere auch ganz konkret die Lernmotivation und den schulischen Erfolg. Die eigenen Daten zeigen, dass Jugendliche dort, wo sie stärker mitbestimmen können, mehr Selbstwirksamkeit entwickeln – sie trauen sich eher zu, Debatten zu verfolgen, Positionen zu vertreten oder Verantwortung zu übernehmen. Damit ergibt sich ein doppelter Nutzen: Demokratiebildung und bessere Lernbedingungen gehen Hand in Hand. News4teachers
Hier geht es zu der vollständigen Studie.
