„Hier scheitern wir“: Armutseinwanderung aus Bulgarien und Rumänien bringt Kommunen an Grenzen – und überfordert Schulen

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DUISBURG. Vor elf Jahren trat die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Kraft – gedacht als große europäische Idee. Doch in Städten wie Duisburg, Ludwigshafen oder Gelsenkirchen zeigen sich mittlerweile die Schattenseiten: Massenzuwanderung von Menschen aus Bulgarien und Rumänien ohne Schul- oder Berufsabschluss, Kinder ohne Sprachkenntnisse, überforderte Lehrkräfte. SPD-Oberbürgermeister Sören Link warnt: „Das bekommen Schulen allein nicht hin“ – und spricht von einer Frage der sozialen Gerechtigkeit.

Roma-Kinder durchwühlen Müll in der bulgarischen Stadt Burgas. Foto: Shutterstock / Ivan Kacarov

Es ist ein Morgen wie so viele im Hemshof, einem Stadtteil von Ludwigshafen, der längst bundesweit Symbol für die Folgen von Armut, Migration und politischem Versagen geworden ist. Die Gräfenau-Grundschule liegt mittendrin, zwischen engen Straßenzügen, Billigwohnungen und den Lebensgeschichten von Familien, die aus Bulgarien und Rumänien hierhergekommen sind – viele von ihnen Roma.

Rektorin Barbara Mächtle zieht jedes Jahr eine Bilanz, die ernüchternder kaum sein könnte: Dutzende Kinder müssen die erste Klasse wiederholen. Im letzten Schuljahr waren es 38, im Vorjahr 37, davor 39 – von rund 120 Schülerinnen und Schülern. „Innerhalb eines Jahres sollen Kinder oft nicht nur eine neue Sprache lernen, sondern auch alle weiteren Kompetenzen für den Schulalltag aufbauen – das ist für viele unrealistisch“, sagt Mächtle. Praktisch alle Schülerinnen und Schüler an der Gräfenau haben einen Migrationshintergrund, fast keiner spricht zu Hause Deutsch (News4teachers berichtete).

Trotz Projekten, Förderprogrammen und Ankündigungen aus Mainz hat sich wenig verbessert. Hilfsangebote verpuffen, Fachkräfte fehlen, Strukturen greifen nicht. „Ein gutes sprachliches Fundament ist entscheidend für den weiteren Bildungsweg. Aber Kinder brauchen Zeit zum Lernen“, mahnt Mächtle. Die Realität ist: Ein Großteil der Kinder scheitert schon an den elementarsten Anforderungen.

Warum zeigen die Probleme in Ludwigshafen eine Überforderung des Bildungssystems?

Was in Ludwigshafen passiert, ist kein Einzelfall. Auch anderswo stehen Schulen mit wachsenden Zuwandererzahlen aus Südosteuropa vor schier unlösbaren Aufgaben. Sören Link, SPD-Oberbürgermeister von Duisburg, schildert aktuell im Interview mit dem Spiegel eindringlich die Situation in seiner Stadt: „Wir stehen hier vor einer Gerechtigkeitsfrage. In Duisburg und in verschiedenen anderen Kommunen sind Menschen aus Rumänien und Bulgarien unter dem Vorwand der Arbeitnehmerfreizügigkeit als vermeintliche Arbeitnehmer eingewandert.“

Es seien der Folge Menschen nach Deutschland gekommen, die nie in das Sozialsystem eingezahlt haben – aber nahezu von Beginn an Sozialleistungen beziehen, die aus ihrer Perspektive unfassbar hoch sind. Link spricht von 26.000 Menschen – allein in Duisburg. „Unter ihnen sind etwa 9000 Kinder, die teilweise noch nie eine Schule besucht haben, die nicht alphabetisiert sind, die enorme Förderbedarfe haben. Das bekommen Schulen nicht allein hin. Erst recht nicht ohne zusätzliches Personal, das wir nicht haben.“

Die Folgen zeigen sich direkt im Klassenzimmer: Überlastete Lehrerinnen und Lehrer, Kinder, die ohne Sprachkenntnisse und ohne jede Lernerfahrung in die Schule kommen, Klassen, in denen die einfachsten Regeln nicht mehr durchzusetzen sind. „Hier kippt etwas“, warnt Link, „und das ist Gift für den sozialen Frieden.“

Wie wirkt Diskriminierung gegenüber Sinti und Roma in Schulen und Gesellschaft?

Hinter den nüchternen Zahlen verbergen sich allerdings Probleme, die noch immer tabuisiert ist: Ein erheblicher Teil der Zuwandererfamilien sind Roma. Sie gehören zu den am stärksten diskriminierten Minderheiten Europas – auch in Deutschland.

Die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA) dokumentierte laut tagesschau-Bericht vom April seit 2023 allein im Bildungsbereich 484 Fälle von Diskriminierung, von Beleidigungen bis hin zu Gewalt. „Das große Problem ist der institutionelle Antiziganismus“, erklärt Michelle Berger vom Verband Deutscher Sinti und Roma in Nürnberg. Kinder würden systematisch unterschätzt, häufiger in Förderschulen geschickt oder von Lehrkräften ohne böse Absicht, aber mit tiefsitzenden Vorurteilen benachteiligt.

Eine Studie von Philipp Jugert, Professor für Interkulturelle Psychologie an der Universität Duisburg-Essen, belegt: Er hat für eine Studie Lehramtsstudierenden Profile von Schülerinnen und Schülern vorgelegt. Die Leistungen unterschieden sich dabei nicht, aber in den Profilen waren Hinweise auf die ethnische Herkunft der Schulkinder. Dabei wurde Kindern mit Migrationshintergrund – zum Beispiel aus türkischen Familien – eher der Übertritt auf die Hauptschule empfohlen als aufs Gymnasium oder die Realschule. „Aber diesen Rom*nja-Schülern wurde eben noch weniger zugetraut. Das heißt, die wurden eher noch weniger fürs Gymnasium empfohlen.“

Die schwierige Integration vieler Familien in Deutschland lässt sich nicht verstehen, ohne den Blick in die Herkunftsländer zu richten. In Rumänien etwa gelten nach EU-Statistiken fast 19 Prozent der Gesamtbevölkerung als von Armut bedroht – bei Roma sind es sogar rund 80 Prozent. Die soziale Ausgrenzung ist dort massiv: Viele Kinder besuchen keine Schule, Erwachsene sind häufig nicht alphabetisiert, ein Berufsabschluss ist die Ausnahme. Wer als Roma in Bulgarien oder Rumänien lebt, stößt nicht nur auf materielle Not, sondern auch auf tief verankerte Diskriminierung.

Der Spiegel beschreibt die Diskrepanz so: „Was in Deutschland das absolute Minimum darstellen soll, wirkt in Südosteuropa wie ein kaum vorstellbarer Wohlstand. Eine alleinstehende Person ohne Einkommen erhält hierzulande 563 Euro Bürgergeld, Paare je 506 Euro. Für Kinder kommen je nach Alter 357 bis 471 Euro hinzu, dazu werden Miete und Heizkosten übernommen. Im Rechenbeispiel einer fünfköpfigen Familie ergibt das rund 3350 Euro im Monat.“

Welche Rolle spielt Armutsmigration als Schattenseite der europäischen Freizügigkeit?

Zum Vergleich: In Rumänien liegen Sozialleistungen oft nur bei wenigen Dutzend Euro. Kindergeld reicht dort nicht zum Überleben. Viele Roma-Familien sind deshalb auf Gelegenheitsarbeiten angewiesen oder leben in ärmsten Verhältnissen ohne jede staatliche Unterstützung. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, warum das deutsche Sozialsystem auf sie eine enorme Anziehungskraft ausübt – und warum die Integration zugleich so schwer ist: Viele Erwachsene bringen weder Sprachkenntnisse noch Basiskompetenzen mit, weil sie in ihren Herkunftsländern nie Zugang zu Bildung hatten.

Wie es soweit kommen konnte, beschreibt der Spiegel in einer Recherche zur Armutsmigration ins Ruhrgebiet. Seit dem 1. Januar 2014 gilt auch für Bulgarien und Rumänien die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit – ein europäisches Freiheitsversprechen, das in vielen deutschen Städten jedoch zu massiven Problemen an den Schulen geführt hat. „Die Globalisierung, die ab 2014 ins Ruhrgebiet zog, fuhr oft in weißen Kleinbussen vor. Aus ihnen stiegen Menschen mit Koffern oder Plastiksäcken, aber ohne Jobs“, heißt es in dem Bericht. Sie zogen in leerstehende, heruntergekommene Wohnungen in alten Arbeitervierteln – dort, wo Wohnraum billig war und niemand sonst mehr leben wollte.

Zudem ist das Elend vieler Familien Teil eines Geschäftsmodells. Hinterleute organisieren die Migration, vermitteln Wohnungen und Jobs – oft nur auf dem Papier – und kassieren dafür Geld. In vielen Städten kontrollieren „Wohnungsanbieter“ marode Häuser, die überbelegt und zu hohen Mieten an Neuzuwanderer weitergegeben werden. Stromdiebstahl, Schimmel, Brandgefahr – all das gehört zur Lebensrealität der Familien. Die Hinterleute streichen die Gewinne ein, während Schulen und Kommunen mit den Folgen allein gelassen werden.

Auch deutsche Unternehmen profitieren von der Freizügigkeit: Ohne Arbeitskräfte aus Südosteuropa wäre zum Beispiel die Fleischindustrie nicht überlebensfähig. Aber die negativen Folgen tragen die Schulen und Stadtteile, in denen diese Familien ankommen. „Armutsmigration schlägt nicht in den wohlhabenden Vororten von Hamburg und München auf“, so der Spiegel, „sondern in Hagen-Wehringhausen, Gelsenkirchen-Schalke und Duisburg-Marxloh.“

Warum versagen staatliche Programme wie das Startchancen-Paket (bislang) an der Realität?

Diese Mechanismen lassen sich auch im Ludwigshafener Hemshof beobachten. Die Gräfenau-Grundschule ist ein Brennglas für das, was passiert, wenn ein Bildungssystem überfordert ist. Die Landesregierung in Mainz beteuert seit Jahren, man habe die Situation im Blick. Es gebe „intensive Unterstützung“ und „zahlreiche Maßnahmen“. Doch in der Praxis, so Rektorin Mächtle, bleibt der entscheidende Hebel ungenutzt: eine gezielte Sprachförderung vor der Einschulung. Das neue Startchancen-Programm von Bund und Ländern soll nun Abhilfe schaffen. Doch die Erfahrungen an der Gräfenau stimmen skeptisch. Zu viele Ankündigungen, zu wenig Wirkung.

Duisburgs OB Sören Link meint mit Blick auf die Einwanderer: „Sie haben keinen Schulabschluss, keinen Ausbildungsabschluss und kaum bis gar keine Sprachkompetenz. Auch die Erwachsenen können häufig nicht lesen und nicht schreiben, noch nicht einmal in ihrer Muttersprache. Wie sollen die auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen? Natürlich gibt es Ausnahmen, aber es sind viel zu wenige. Und das, obwohl wir im Ruhrgebiet Integration können, das wird hier seit Jahrhunderten gelebt. Hier aber scheitern wir.“ News4teachers 

Gräfenauschule: Wo praktisch jedes Schulkind kaum Deutsch spricht – aber die Mittel für besondere Sprachförderung fehlen

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