Inklusion – eine Mogelpackung? Zahl der Förderschüler an Regelschulen steigt, Anteil der Schüler an Förderschulen sinkt aber nicht

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STUTTGART. Das Statistische Landesamt Baden-Württemberg meldet vermeintliche Fortschritte bei der Inklusion – rund 9.500 Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf würden inzwischen an Regelschulen im Land  gemeinsam mit nichtbehinderten Mitschülern unterrichtet, so viel wie nie. Doch der Schein trügt: Der Anteil der Schülerinnen und Schüler an Förderschulen ist seit Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 in Baden-Württemberg gar nicht gesunken, sondern sogar gestiegen. Bildungsexperten sprechen von einem „Inklusionsparadoxon“. Und das ist in vielen Bundesländern zu beobachten.

Wow. Illustration: Shutterstock

In seiner Pressemitteilung Nr. 230/2025 vom 8. Oktober 2025 teilt das Statistische Landesamt Baden-Württemberg mit, dass im Schuljahr 2024/25 insgesamt 9.532 Kinder und Jugendliche mit Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot an Regelschulen unterrichtet wurden. Seit Einführung des inklusiven Unterrichts vor zehn Jahren sei die Zahl um rund 48 Prozent gestiegen. Besonders häufig findet Inklusion demnach an Grundschulen (43 Prozent) und Gemeinschaftsschulen (53,4 Prozent der Sekundarstufe I) statt.

Auch die Förderschwerpunkte haben sich deutlich verschoben. Am häufigsten sei nach Angaben des Landesamts weiterhin der Schwerpunkt „Lernen“ (60,5 Prozent), gefolgt von „emotionale und soziale Entwicklung“ (14,9 Prozent) und „Sprache“ (9,4 Prozent). Während der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen seit 2015/16 um 5,5 Prozentpunkte zurückgegangen ist, hat der Bereich „emotionale und soziale Entwicklung“ um 5,6 Punkte zugelegt. Auch der Förderschwerpunkt Sprache ist um 2,4 Prozentpunkte gestiegen. Im Gegenzug ist der Anteil der Kinder mit dem Förderschwerpunkt „geistige Entwicklung“ leicht gesunken – von damals 9,4 auf jetzt 8,8 Prozent.

Wer nur diese Meldung der Landesstatistiker liest, muss den Eindruck gewinnen – die Inklusion schreitet voran. Doch ein genauerer Blick auf die Gesamtschülerzahlen zeigt ein anderes Bild. Laut einer Analyse der Bertelsmann Stiftung lag der Anteil der Schülerinnen und Schüler an Förderschulen in Baden-Württemberg im Schuljahr 2022/2023 und den Jahren davor bei konstant 5,0 bis 5,1 Prozent – 2008, also vor Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland, waren es erst 4,5 Prozent. Damit hat der Anteil der betroffenen Kinder, die nicht inklusiv beschult werden, sogar zugenommen.

Das „Inklusionsparadoxon“: Mehr Förderdiagnosen, aber nicht mehr Inklusion

Wie lässt sich dieser vermeintliche Widerspruch erklären? Die Frankfurter Inklusionsforscherin Prof. Vera Moser spricht im „Spiegel“ von einem „Inklusionsparadoxon“. Zwar wachse die Zahl der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Regelschulen, doch zugleich steige auch die Gesamtzahl der Diagnosen.

„In den Regelschulen bekommen Kinder zunehmend ein sonderpädagogisches ‚Förderetikett‘, sodass die Inklusionsquote steigt. Gleichzeitig gehen viele andere Kinder, weitgehend wie gehabt, in Förderschulen“, erklärt Moser. Das Problem liege im System: Jede Förderdiagnose bringe zusätzliche Ressourcen – etwa Stunden für Sonderpädagoginnen oder Erzieher –, was Schulen verständlicherweise dazu verleite, Förderbedarfe großzügig zu attestieren.

Moser kritisiert, dass die sonderpädagogische Diagnostik auf einem über hundert Jahre alten Konzept beruhe: „Oft steht gar nicht das Lern- und Arbeitsverhalten des Kindes im Mittelpunkt, sondern es geht insgesamt um das Kind und seine individuellen Schwächen.“ Der Blick auf „Besonderheiten“ verstärke sich stetig – besonders bei Diagnosen im Bereich „geistige Entwicklung“ oder Autismus, die in den vergangenen Jahren auffällig häufig vergeben würden.

Immer mehr Kinder mit Förderstatus – bundesweiter Trend mit fragwürdiger Dynamik

Bundesweit zeigt sich ein ähnliches Bild. Laut Spiegel-Analyse auf Basis amtlicher Daten lag der Anteil der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Jahr 2024 bei 7,5 Prozent – im Jahr 2000 waren es 5,3 Prozent. Das bedeutet: Mittlerweile haben mehr als 600.000 Schülerinnen und Schüler in Deutschland eine Förderdiagnose.

Die größte Gruppe – rund ein Drittel – fällt in den Förderschwerpunkt „Lernen“, also Kinder, die im Unterricht schlecht mitkommen. Deutlich zugenommen hat auch der Bereich „emotionale und soziale Entwicklung“, in dem Kinder mit auffälligem Verhalten geführt werden.

Die Frankfurter Bildungsforscherin Prof. Vera Moser erkennt an, dass tatsächlich mehr Kinder heute Förderbedarf haben könnten. „Davon ist sogar auszugehen“, sagt sie im Interview mit dem Spiegel. „Kinder sind heute von vielen familiären oder gesellschaftlichen Krisen geprägt – von Zukunftsängsten, Nachwirkungen der Coronapandemie, Trennung der Eltern, exzessiver Handynutzung oder auch fehlenden sozialen Netzwerken. All dies wirkt sich auf ihre Entwicklung aus.“

Doch eine Steigerung um fast die Hälfte? Hält sie damit für schwer erklärbar. Seit über hundert Jahren lasse sich zeigen, dass sonderpädagogischer Förderbedarf stark mit sozialer Herkunft zusammenhänge. „Kindern von armutsgefährdeten Eltern mit geringem Bildungsgrad wird überdurchschnittlich häufig sonderpädagogischer Förderbedarf attestiert. In den vergangenen Jahrzehnten gilt dies außerdem für Kinder mit Migrationsgeschichte sowie für Jungen“, sagt Moser – und fügt hinzu: „Diese Zusammenhänge lassen mich an dem Konzept der Förderdiagnostik zweifeln.“

Etikettierung statt Inklusion – die Kritik ist nicht neu

Bereits 2022 hatte News4teachers über dieselbe Entwicklung in Nordrhein-Westfalen berichtet. Damals stieg dort der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Förderstatus auf 7,7 Prozent – und zugleich nahm auch die Zahl der Förderschüler weiter zu. Der emeritierte Inklusionspädagoge Prof. Hans Wocken befand mit Blick auf die Zahlen schon damals: „Das Geheimnis der Inklusionsquote ist in Wahrheit eine unkontrollierte und ausufernde Etikettierungsschwemme“, wie er auf bildungsklick.de schrieb. Viele Schulen nutzten die Diagnoseverfahren, um zusätzliche personelle Ressourcen zu erhalten.

Gegenüber dem Deutschen Schulportal erklärte er: „Das ist nur mit einem Etikettenschwindel zu erklären. Alle Bundesländer haben tatsächlich die sogenannte Inklusionsquote an den Regelschulen erhöht, während der Anteil der Schüler an den Förderschulen sich kaum verändert hat. Das bedeutet, dass Schüler, die früher allenfalls als Risikoschüler galten, nun mit dem Etikett des sonderpädagogischen Förderbedarfs versehen werden. Die Inklusionsquote ist daher kein verlässlicher Indikator für den Erfolg der Reform, wenn man nicht gleichzeitig auch die Exklusionsquote mitbetrachtet.“

Die Bertelsmann Stiftung hielt den Verdacht seinerzeit für glaubwürdig. In zahlreichen Ländern sei die Ressourcenzuweisung an allgemeine Schulen tatsächlich an die Zahl der dort diagnostizierten Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf gekoppelt. „Dieser Zusammenhang könnte dazu verleiten, einen solchen Förderbedarf bei zusätzlichen Schülerinnen und Schülern zu diagnostizieren, um damit die an den einzelnen Schulen verfügbaren Lehrerstellen zu erhöhen – nicht zuletzt zugunsten eben dieser Kinder und Jugendlichen.“

Lehrkräfte könnten aufmerksamer und individualisierender auf einzelne schwächere Schüler blicken

Die Stiftung beschrieb aber darüber hinaus weitere mögliche Ursachen für die Vermehrung der Förderschüler: Gleichzeitig könne es aber auch sein, dass sich die Diagnosekompetenzen von Lehrkräften verbessert hätten. „Der Anstieg der diagnostizierten Fälle könnte eine Folge der Tatsache sein, dass im Verlauf des Ausbaus inklusiven Unterrichtens in den allgemeinen Schulen Lehrkräfte aufmerksamer und individualisierender auf einzelne schwächere Schülerinnen und Schüler blicken – also auf diejenigen Kinder und Jugendlichen, die ‚immer schon‘ in allgemeinen Schulen unterrichtet wurden. Dieses genauere Hinsehen wäre sehr wünschenswert.“ Darüber hinaus sei möglich, dass entsprechende Diagnosen in Zeiten der Inklusion weniger stigmatisierend wirkten – und deshalb weniger Vorbehalte bei Eltern und Lehrkräften bestünden. News4teachers

„Der Fehler steckt im System“ – Bildungsforscherin kritisiert sonderpädagogische Diagnoseverfahren und: Stillstand bei der Inklusion

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447
4 Stunden zuvor

Ich liebe das ja, wenn eine Schlange sich in den eigenen Schwanz beisst 🙂 :

1. “Blah blah wir müüüssen alles und jeden fördern und diagnostizieren, dreigliedriges System böse, eingliedrig gut !”

2. “Nieder mit Anspruch, Lesen, Stoffmenge, Selektion! Pauken böse und schlecht, ‘Kompetenz’ gut und gerecht ! Lehrer = Servicepersonal ! Eltern + SuS = Chefs, sonst Undemokratie !”

3. “Äh, Chefs, wir haben das gemacht – und ganz viele Probleme und Mängel gefunden! Wir fangen dann jetzt mit dem Fördern an !”

4. “Äh, HALT STOP mal, was soll das heissen !!1!11! Ne, nix da!”

5. “Aber wieso denn Chefs, genau so sollte es doch laufen ?”

6. “Aber doch nicht so™ ! Ihr solltet halt alles so gut machen wie früher, nur anders und ohne Ressourcen und vor allem ohne Eltern und Schülern was vorzuschreiben oder von denen zu verlangen! Wie sollen wir denn jetzt weiter kürzen, sparen, zusammenstreichen, wenn ihr hergeht und jeden Schüler individuell diagnostiziert ???2?22”

7. “Äh, Chefs…das war doch EURE Idee, wir haben nur…”

8. “NAIN!!!1 Popu-lol-ismus! Unzulässige Vereinfachung hochkomplexer Komplexitätssachverhalte! Anekdotische Evidenz! Die, äh, Diagnosen sind gefakt! Ja, genau! Das kann garnicht sein, dass so viele gefördert werden müssen…und dann auch noch individuell! Das habt ihr, äh, gefälscht! Ja! Um an die wertvollen, güldenen Schatzkisten der Ressourcen zu kommen, die wir euch klauen woll…äh, die wir streich…also, ist mal gut jetzt hier !”

9. “Boss, wir sind müde.”

10. “Ja aber, äh, die leuchtenden Kinderaugen ? Vorgriffsstunde? Giftzähne? Arbeitszeit?”

..
.
“Hallo ? Wo sind alle ?”
.
..
“Was soll das jetzt wieder heissen, krank, Teilzeit, schwanger, gekündigt ? Dann schaufelt halt neue Lehrer rein ins System!”

“W-w-as soll das denn heissen, die wollen nicht mehr und Studierendenzahlen gehen runter? D-d-das ist doch, also wirklich ! Verdammte Generation Z, das, äh, Internet…”

dickebank
2 Stunden zuvor
Antwortet  447

Die generelle Schuldzuweisung an die Boomer haben Sie total vernachlässigt:)

PaPo
2 Stunden zuvor
Antwortet  447

Köstlich!
Aber leider wahr… 🙁

Hans Malz
3 Stunden zuvor

„Der Anstieg der diagnostizierten Fälle könnte eine Folge der Tatsache sein, dass im Verlauf des Ausbaus inklusiven Unterrichtens in den allgemeinen Schulen Lehrkräfte aufmerksamer und individualisierender auf einzelne schwächere Schülerinnen und Schüler blicken…”

das geht dann so weiter:
“Die Beobachtungen befragter Eltern (vgl. Abschnitt 3.3 weiter unten), …, stützen diese Überlegung.”

Ein weiterer Punkt in der Studie der Bertelsmann Stifung ist, dass die Diagnose weniger Stigmatisierung bedeutet und deshalb besser angenommen wird.
Die Verfahren ziehen sich nicht in die Länge bis zum Schulwechsel, denn danach (surprise, surprise) muss man ja wieder von vorne anfangen. Manchmal wurde dann auch die Grundschule zwischendurch gewechselt, damit das Verfahren ins Leere läuft.

Die These, die Frau Moser vertritt, stammt aus dem Jahre 1996 (Wocken) und ist, wie hier ja auch schon beschrieben wurde, nicht mehr zeitgemäß. Es stehen den Schulen zwar theoretisch mehr Ressourcen zu, die gibt es aber gar nicht. Förderlehrkräfte werden abgeordnet, obwohl der Bedarf besteht, da der Mangel an anderer Stelle noch größer ist. So ist die Realität nunmal…

Versprochen wurde damals (in NRW): Klassengröße in Inklusionsklassen nicht über 24, Doppelbesetzung, Entlastungststunden … nix davon, Sparschwein …

Und genau deshalb ist mir diese Konvention persönlich völlig schnurzpiep egal, denn wir können so einfach nicht arbeiten und es ist in der Praxis besser, die viele (nicht alle!) der Kinder an Förderschulen zu unterrichten. Denn auch die anderen haben ein Recht auf Unterricht.