MAINZ. Das deutsche Bildungssystem steht am Kipppunkt – das wurde bei Markus Lanz am Dienstagabend schmerzhaft deutlich. Zwei Schulleitende, die täglich an den Grenzen des Machbaren arbeiten, sprachen aus, was viele nur ahnen: Schulen werden mit gesellschaftlichen Problemen allein gelassen. Barbara Mächtle aus Ludwigshafen und Engin Çatik aus Berlin zeigten, wie dramatisch die Folgen ausbleibender früher Förderung, fehlender Sprachkompetenz und wachsender Armut sind – und machten klar: Das System ist überfordert.
„Ein Ausreichend im Moment“, antwortete Barbara Mächtle ohne Zögern auf die Eingangsfrage von Markus Lanz, welche Note sie dem deutschen Schulsystem geben würde. Das wirkte noch geschönt – angesichts der Lage an ihrer Gräfenau-Grundschule in Ludwigshafen, wo fast jedes Kind einen Migrationshintergrund hat. „Wir geben oft Kinder an die weiterführenden Schulen ab und denken: Um Gottes Willen, eigentlich dürften die gar nicht in die fünfte Klasse gehen“, hatte sie bereits vorab in einem ZDF-Beitrag gesagt.
Mächtles Schule steht exemplarisch für ein System, das zu spät greift. Seit Jahren wiederholen dort rund ein Drittel der Erstklässler das Schuljahr – trotz Förderprogrammen und politischer Versprechen, das Kollegium zu unterstützen. Schon im Frühjahr hatte Mächtle gewarnt, dass die Grundschule allein die Versäumnisse der frühen Bildung nicht ausgleichen könne. „Ohne gezielte Förderung vor der Einschulung wird sich die Lage weiter zuspitzen“, sagte sie damals – und bestätigte das nun bei Lanz. Die strukturellen Probleme sind geblieben, auch an der Schule selbst: zu wenig Sprachförderung, zu wenig Personal, zu wenig Unterstützung durch die Politik.
„Es dauert einfach alles länger“ – wenn Sprache zum Stolperstein wird
In der Sendung berichtete Mächtle eindringlich von der Sprachvielfalt an ihrer Schule: 447 von 459 Kindern sprechen zu Hause nicht Deutsch. „Das macht den Schulalltag schwer. Man muss neue Wege finden, viel erklären, mit Bildern arbeiten“, sagte sie. Damit wiederholte sie ein Kernmotiv ihrer bisherigen Kritik: Ohne ausreichende Vorbereitung in der frühen Kindheit – also vor der Schule – sei kein chancengerechtes Lernen möglich.
Mächtle forderte daher erneut eine Kindergartenpflicht: „In meinen Augen wäre das viel wert – sprachlich natürlich auch.“
Ihre Forderung stützt sich auf Erfahrungen vieler Grundschulen: Kinder, die ohne ausreichende Sprachkenntnisse eingeschult werden, bleiben meist dauerhaft im Nachteil.
Eine aktuelle ARD-Befragung unter knapp 7.000 Grundschullehrkräften bestätigt das: 87 Prozent geben dabei an, dass Kinder in der ersten Klasse heute deutlich mehr Defizite aufweisen als noch vor zehn Jahren – und zwar unabhängig davon, ob sie an einer Brennpunktschule oder in einem wohlhabenderen Einzugsgebiet unterrichten. Besonders häufig nennen die Lehrkräfte Verhaltensauffälligkeiten, Konzentrationsschwierigkeiten, Probleme bei der Feinmotorik und Sprachdefizite. Als Hauptgrund wird ein bildungsfernes Elternhaus genannt.
Alarmierend: Mehr als die Hälfte (52 Prozent) hat keine zusätzlichen Stunden für gezielte Förderung wie Sprachunterricht zur Verfügung. Weitere 28 Prozent verfügen lediglich über eine Stunde pro Woche. Die Folge: Viele Kinder können dem Unterricht nicht ausreichend folgen – und fallen schon in der ersten Klasse zurück. Trauriger Alltag auch in der Gräfenau-Grundschule.
Engin Çatik: „Das System ist überfordert – wie die Lehrkräfte“
Der Berliner Schulleiter Engin Çatik nahm den Ball auf: „Wir nehmen Kinder auf, die weder sprechen noch lesen können oder den Stift richtig halten können.“ Der 49-Jährige leitet seit Januar 2025 die Friedrich-Bergius-Schule in Berlin-Friedenau – jene Schule, die ein Jahr zuvor mit einem Brandbrief bundesweit Schlagzeilen gemacht hatte, weil Lehrerinnen und Lehrer von massiver Gewalt und Überforderung berichteten.
Çatik, der sich selbst aus einer bildungsfernen Familie hochgearbeitet hat, spricht offen von einer „Kopplung von Migrationshintergrund und Milieu“. Sprachprobleme seien keine Frage der Herkunft allein, sondern vor allem der Armut. Viele Kinder wüchsen in Wohnungen auf, in denen kein Buch steht und niemand mit ihnen spricht. „Ohne verpflichtende Kita starten viele Kinder aus armen Familien ohne Sprach- und Schreibfähigkeiten in die Schule“, warnte er nun bei Lanz – und forderte ebenso wie Mächtle eine bundesweite Kitapflicht.
Von der „Schule der Schande“ zur Hoffnung auf Struktur
Wie schwer der Kampf gegen diese Fehlentwicklungen ist, zeigt der Blick auf Çatiks Schule. Die Friedrich-Bergius-Schule galt 2024 als „schlimmste Schule Deutschlands“. Inzwischen versucht Çatik, dort mit klaren Regeln, Zuversicht und „zugewandter Autorität“ neue Strukturen zu schaffen. „Wir müssen Handlungsleitfäden installieren. Meine Kolleginnen und Kollegen sollen wissen, was sie zu tun haben“, erklärte er im Februar (News4teachers berichtete).
Doch auch er weiß: Pädagogische Konzepte helfen nur begrenzt, wenn das System versagt. „Dem können wir als System oder auch die Lehrkräfte vor Ort gar nicht mehr gerecht werden“, sagte er damals – und bestätigte diesen Eindruck nun in der ZDF-Sendung.
Wenn Unterricht zur Sozialarbeit wird
Barbara Mächtle und Engin Çatik eint ein Befund: Unterricht ist längst nicht mehr bloß Wissensvermittlung, sondern oft Krisenintervention. Mächtle schilderte bei Lanz, wie häufig sie mit Beleidigungen, Aggressionen und fehlender sozialer Orientierung zu tun habe: „Ich kläre regelmäßig Schüler darüber auf, was Hure, Wichser oder Ficken bedeutet – das volle Programm.“
Lanz reagierte darauf sichtbar betroffen – nicht wegen der Wortwahl der Kinder, sondern wegen der strukturellen Hilflosigkeit des Systems. „Mir tut das richtig weh. Ich sehe diese Kinder – das sind süße Kinder. Die sind nicht dümmer als deutsche Kinder. Aus denen könnte man richtig was machen. Und dann werden sie in ein System gepackt, das offensichtlich dysfunktional ist. Das ist ein Skandal!“
Çatik ergänzte nüchtern: „Jetzt ist die Frage, was muss das System leisten, um diese Schülerinnen und Schüler schon auf die erste Klasse vorzubereiten?“
„Die Familiensprache ist nicht Deutsch. In den Kitas wird kein Deutsch gesprochen, und in der Schule geht es gerade so weiter“
Barbara Mächtle machte bei Lanz deutlich, dass die sprachlichen Defizite vieler Kinder nicht allein aus Migration resultieren, sondern vor allem aus mangelnden Anregungen in der frühen Kindheit. Schon in den Kitas fehle es häufig an Zeit und Personal, um mit den Kindern ein Buch zu lesen oder gezielt zu sprechen. „Viele Erzieherinnen und Erzieher kommen gar nicht mehr dazu, sich mit den Kindern hinzusetzen“, erklärte sie. Was früher selbstverständlich war – gemeinsames Vorlesen, Basteln, Gespräche über Bilderbücher – werde immer seltener.
Auch zu Hause fehle oft die sprachliche Anregung. „Viele Kinder haben daheim kein einziges Buch“, sagte Mächtle. In Ludwigshafen gebe es sogar Kinder, die dort geboren seien und dennoch kein Deutsch sprächen, weil sie in abgeschotteten Umgebungen aufwüchsen. „Die Familiensprache ist nicht Deutsch. In den Kitas wird kein Deutsch gesprochen, und in der Schule geht es gerade so weiter.“
Den Eltern macht sie keinen Vorwurf – im Gegenteil. „Das ist den Familien teilweise gar nicht bewusst. Sie meinen es nicht böse, sie wollen ja das Beste für ihre Kinder.“ Bei Hausbesuchen sehe sie jedoch häufig Wohnungen, in denen kaum zu erkennen sei, dass dort Kinder lebten: keine Bücher, keine Bastelmaterialien, kein Rückzugsort zum Lernen. „Es ist ihnen oft nicht bewusst, was ein Kind für eine gute Entwicklung im frühkindlichen Bereich braucht“, sagte Mächtle. News4teachers

