Schulpreis: “Demokratie kann man nicht bloß erklären. Man muss sie erleben!“

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KARLSRUHE. Die Ernst-Reuter-Gemeinschaftsschule in Karlsruhe ist eine Schule, in der Demokratie nicht nur gelehrt, sondern gelebt wird. Dafür hat sie – gemeinsam mit der Hamburger Schule An der Burgweide und dem Evangelischen Schulzentrum Muldental in Sachsen – den mit 30.000 Euro dotierten Themenpreis Demokratiebildung des Deutschen Schulpreises 2025 erhalten. Was die Jury überzeugte: gelebte Mitbestimmung in Unterricht, Schulentwicklung und Quartier.

Zwischen Hochhäusern aus Beton und gepflegten Einfamilienhäusern liegt die Ernst-Reuter-Gemeinschaftsschule in Karlsruhe – mitten an der Schnittstelle zweier Welten. Auf der einen Seite das Quartier mit Sozialwohnungen, auf der anderen Seite die Reihenhäuser mit Gärten. Wer durch das Tor der Schule tritt, merkt sofort: Hier ist kein Ort der Trennung, sondern des Miteinanders.

In der Aula hängen Plakate, auf denen Schüler:innen ihre Wünsche an den Unterricht geschrieben haben. In einer Ecke summt leise eine Kaffeemaschine – das Mehrgenerationencafé ist geöffnet. Senioren aus der Nachbarschaft plaudern mit Jugendlichen, es riecht nach frisch gebackenem Kuchen. Einmal in der Woche treffen sich hier Alt und Jung, um miteinander zu lernen – über das Leben, die Welt, und manchmal über Mathe.

„Mich macht es glücklich, wenn ich sehen kann, wie Leute Hilfe kriegen“, sagt Leon Kiefer, Schüler der Ernst-Reuter-Schule, dem SWR. „Vor allem, weil manche ältere Leute von ihrer Familie im Stich gelassen werden.“ So selbstverständlich, wie Leon von Verantwortung spricht, ist es hier nicht nur ein Wort. Es ist Unterrichtsprinzip.

Eine Schule zum Mitmachen

Die Ernst-Reuter-Gemeinschaftsschule ist eine Schule zum Mitmachen – so beschreibt sie die Jury des Deutschen Schulpreises in ihrer Begründung. Hier gehe es nicht nur darum, Demokratie zu lehren, sondern sie zu leben. Die Kinder und Jugendlichen sollen „lernen, für ihre Meinung einzustehen und sich für andere einzusetzen“.

Die Schule hat dafür Strukturen geschaffen, die weit über das hinausgehen, was man gemeinhin unter Beteiligung versteht. Es gibt ein eigenes „Ideenbüro“, in dem Schüler:innen andere bei der Umsetzung von Projekten beraten – von der Mülltrennung bis zur Planung eines Sporttages. Ein „Roter Salon“ bringt Lehrkräfte, Eltern und Schüler:innen an einen Tisch. Am Ende jeder Sitzung steht mindestens ein Vorhaben, das tatsächlich umgesetzt wird.

Und dann ist da noch das „Wunderland“, ein Haus auf dem Schulgelände, das ganz den Jugendlichen gehört. Es ist Werkstatt, Treffpunkt, Makerspace – und ein Ort, an dem Demokratie praktisch geübt wird. Die Jugendlichen verwalten das Haus selbst, entscheiden über die Nutzung der Räume, reparieren Möbel, planen Veranstaltungen.

„Beteiligung ist an dieser Schule nicht nur ein Angebot, sondern gelebter Alltag“, sagt Dr. Michaele Geweke, Jurymitglied des Deutschen Schulpreises, im Interview des Deutschen Schulportals. Die Schule habe es „eindrucksvoll geschafft, Kopf und Herz der Schüler:innen zu erreichen“.

Demokratie als Herzensbildung

Das Konzept der Schule beruht auf zwei fächerübergreifenden Lernarrangements: „TheA“ – das steht für „themenorientiertes Arbeiten“ – und „L.E.B.E.N.“, ein Fach, das Persönlichkeitsbildung, Engagement und Alltagskompetenzen verbindet.

In „TheA“ geht es um große Fragen – etwa die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen. Schüler:innen forschen zu Themen wie „Mais und Bienen – (k)eine Liebesbeziehung“. Sie produzieren Honig, verkaufen ihn auf Stadtfesten und diskutieren über Insektensterben und nachhaltige Landwirtschaft.

„L.E.B.E.N.“ ist persönlicher. Hier geht es darum, Verantwortung zu übernehmen – für sich, für andere, für das Umfeld. Das Mehrgenerationencafé gehört ebenso dazu wie die wöchentlichen „Verantwortungsjobs“, in denen Schüler:innen ab der siebten Klasse in Kindergärten, Altenheimen oder auf einem Gnadenhof helfen.

Schulleiter Micha Pallesche erklärt gegenüber dem SWR, worum es ihm dabei geht: „Unsere Schülerinnen und Schüler werden an allen Prozessen beteiligt, sie werden gehört und sie haben die Möglichkeit, sich einzubringen. Demokratie kann man nicht bloß erklären – man muss sie erleben.“

Demokratie lernen – von der Schülerzeitung bis zur Quartiersarbeit

Auch in der Schülerzeitung „Ernschtle“, mehrfach ausgezeichnet, spielt Mitbestimmung eine zentrale Rolle. Hier entscheiden Jugendliche selbst über Themen, recherchieren, führen Interviews. „Man lernt Leute kennen, mit denen man sonst vielleicht nie gesprochen hätte“, sagt Schülerin Lea Walter.

Das Demokratieverständnis der Schule reicht bis ins Quartier: Im sogenannten Mitmachladen im benachbarten Wohnblock helfen Schüler:innen beim Einkaufen, bei Nachbarschaftsprojekten oder organisieren Begegnungstreffen. „Ich muss bei den Schülerinnen und Schülern den Keim setzen, dass sie merken, wenn ihnen etwas im Quartier nicht gefällt – dann kann ich was verändern“, sagt Lehrerin Marieke Onnasch im SWR.

Die Jury: „Demokratiebildung als Dreiklang von Unterricht, Schule und Gesellschaft“

Was die Jury besonders überzeugte, ist die Verzahnung dieser Ebenen: Unterricht, Schulentwicklung und gesellschaftliches Engagement greifen nahtlos ineinander. In der Begründung heißt es: „Die Ernst-Reuter-Gemeinschaftsschule schafft es, diese drei Dimensionen zu einem stimmigen Ganzen zusammenzubringen.“

Die Schule sehe sich als „Impulsgeberin im Quartier“ – das zeige sich etwa in Projekten wie der Wanderausstellung „Wo fängt Unrecht an?“, die von Schüler:innen betreut wird. Sie führen Besucher:innen durch die Schau über das Konzentrationslager Kieslau, reflektieren NS-Geschichte und Gegenwart.

„Demokratiebildung wird hier als Herzensbildung verstanden“, betont Geweke. Besonders beeindruckt habe sie, „dass die Schule auch Kinder erreicht, die in ihrem Umfeld kaum Gelegenheit hatten, eigene Entscheidungen zu treffen“.

„Wir brauchen eine Demokratisierung des Lernens“

Für Quentin Gärtner, Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz, der an der Juryarbeit beteiligt war, zeigt das Beispiel Karlsruhe, was Schule leisten kann, wenn sie Partizipation ernst nimmt. „Ich fand es beeindruckend, mit welcher Tiefe über Schulentwicklung diskutiert wurde“, sagt er im Interview mit dem Deutschen Schulportal.

Er sieht in Schulen wie der Ernst-Reuter-Gemeinschaftsschule „Vorreitermodelle für eine Demokratisierung des Lernens“. Denn: „Es passiert viel zu selten, dass ein Lehrer oder eine Lehrerin in die Klasse kommt und sagt: Was wollen wir heute machen? Ich habe drei Vorschläge, und ihr könnt entscheiden.“

Sein Befund ist deutlich: „Nur sechs Prozent der Schülerinnen und Schüler dürfen laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung regelmäßig bei der Planung von Prüfungen mitreden. Das ist nicht akzeptabel.“ (News4teachers berichtete über die Studie – hier.)

Gärtner fordert, Schule müsse sich verändern – weg vom bloßen Belehren, hin zu gemeinsamer Gestaltung. „Wenn ich das Gefühl habe, ich kann mit meiner Stimme nichts ändern, führt das zu autoritärem Denken – und das ist eine Gefahr für die Demokratie.“

Dass es auch anders geht, zeige Karlsruhe: „Die Ernst-Reuter-Schule geht neue Wege, was Noten und Prüfungskultur angeht – auch das ist ein wichtiges Demokratiethema.“ Statt klassischer Zensuren erhalten viele Schüler:innen verbale Rückmeldungen, die sie im Gespräch mit Lehrkräften reflektieren und kommentieren können. „Das ist Dialog – und Dialog ist der Kern der Demokratie“, sagt Gärtner.

Eine Schule zwischen Stadt und Welt

Zurück ins Mehrgenerationencafé. An einem Tisch erklärt ein Schüler einer älteren Besucherin, wie man ein Smartphone benutzt. In einer Ecke sitzen drei Siebtklässlerinnen über einem Plakat zum Thema Nachhaltigkeit. Auf einem weißen Blatt steht in blauer Schrift: „Was kann ich tun?“ – es ist die Leitfrage, die sich durch alle Projekte der Schule zieht.

Die Ernst-Reuter-Gemeinschaftsschule hat verstanden, dass Demokratie nicht im Politikbuch beginnt, sondern im Alltag. In der Art, wie Schüler:innen entscheiden, wie sie lernen. In der Verantwortung, die sie übernehmen. Und in der Erfahrung, dass ihre Stimme zählt.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier brachte es bei der Preisverleihung in Berlin auf den Punkt: „Die Demokratie ist kostbar, aber sie ist auch zerbrechlich. Sie braucht Freunde, die sie wertschätzen und sie verteidigen.“

In Karlsruhe, an der Grenze zweier Welten, hat sie solche Freunde gefunden. News4teachers 

Mehrheit der Schüler darf bei Unterrichtsthemen nicht mitbestimmen – Studie zeigt Demokratie-Defizite in Schulen auf

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