21st-Century-Skills: Warum Rechtschreibung auch in Zukunft nicht an Bedeutung verlieren wird – im Gegenteil

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BERLIN. Wie wichtig bleibt Rechtschreibung in einer Schule, die sich zunehmend digitalisiert – und in der neue Konzepte wie Deeper Learning eigenständige Lernwege und Teamarbeit betonen? Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts verknüpft orthografische Kompetenz ausdrücklich mit Bildungsgerechtigkeit. Eine Bildungsforscherin zeigt, warum moderne Lernformen stabile Grundlagen voraussetzen. Und ein Rechtschreibexperte beschreibt, welche Folgen mangelnde Schriftsprachkompetenz für das Lernen und die Entwicklung junger Menschen hat. Teil drei unserer (dreiteiligen) Reihe zum Thema Rechtschreibung.

Hier geht es zurück zu den ersten beiden Teilen der Serie. 

“Das” oder “dass”? Illustration: Shutterstock

Wie bedeutend wird Rechtschreibung in Zukunft noch sein – in einer Schule, in der digitale Korrekturprogramme allgegenwärtig sind und Unterrichtskonzepte wie Deeper Learning auf projektorientiertes, kollaboratives Arbeiten setzen? Und was heißt es für die vielbeschworene Bildungsgerechtigkeit, wenn Rechtschreibung in Prüfungen kaum noch oder gar nicht mehr berücksichtigt würde?

Eine Orientierung gibt das Bundesverfassungsgericht. In einem Urteil vom 22. November 2023, in dem es um einen Vermerk zur Nichtbewertung von Rechtschreibleistungen im Abiturzeugnis bei Legasthenie ging, formulierte der Erste Senat Aussagen zur Rolle der Rechtschreibung, die über den Einzelfall hinausreichen. Der Germanist Prof. Henning Lobin, Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim, der als Sachverständiger in das Verfahren einbezogen war, hält im Wissenschaftsblog von Spektrum.de, dass diese Aussagen „bislang kaum beachtet wurden“. Sie berührten direkt die Frage, „ob Rechtschreibunterricht und -bewertung überhaupt noch stattfinden soll“.

Das Gericht stellt einen grundsätzlichen Zusammenhang zwischen Rechtschreibkompetenz und Chancengleichheit her. In der Entscheidung heißt es, die Annahme, „die Bewertung der Rechtschreibkenntnisse fördere den chancengleichen Zugang der Abiturienten zu Ausbildung und Beruf“, sei nicht zu beanstanden. Rechtschreibung gilt damit als Teil der Voraussetzungen, die jungen Menschen vergleichbare Bildungschancen eröffnen sollen. Lobin ordnet diesen Befund in die aktuelle Debatte ein und verweist darauf, dass etwa der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann darüber nachgedacht habe, ob die Rechtschreibung als Schulstoff noch erforderlich sei. Auch die Abschaffung der quantitativen Rechtschreibwertung in Schleswig-Holstein habe entsprechende Diskussionen ausgelöst.

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Der Erste Senat erläutert anschließend, warum Rechtschreibung nach seiner Auffassung weiterhin schulisch vermittelt und bewertet werden muss. Die Vermittlung von Rechtschreibregeln habe sich „durch die Entwicklung selbstlernender Rechtschreibprogramme nicht überholt“. Korrekturhilfen könnten Defizite „nicht vollständig ausgleichen“. Zudem gebe es „viele Berufe, in denen die Rechtschreibung nicht vollständig an Korrekturprogramme delegiert werden kann, sondern eine eigenständige orthografische Kompetenz notwendig ist“. Das Gericht verweist damit ausdrücklich auf berufliche Anforderungen, die auch in einer digitalisierten Arbeitswelt bestehen bleiben.

Ausführlich beschreibt der Senat zudem den Zusammenhang zwischen Rechtschreibung und Lesefähigkeit. Die Beherrschung der Regeln sei notwendig, „um Wörter in ihrer wiederkehrenden Gestalt schnell ganzheitlich und in ihrer richtigen Bedeutung erfassen zu können“. Fehle diese Kompetenz, müssten Wörter „auf der Einzelbuchstabenebene“ erschlossen werden, Missverständnisse könnten entstehen. Schließlich heißt es, „die Fähigkeit zu störungsfreier Kommunikation“ setze die Beherrschung der Rechtschreibregeln voraus.

Vor diesem Hintergrund bewertet das Gericht die Rolle der Rechtschreibung im Abitur. Es sei „nicht nur vertretbar, sondern naheliegend“, sie zum Bestandteil der allgemeinen Hochschulreife zu machen. Eine Bewertung nach einheitlichen Kriterien trage dazu bei, „einen chancengleichen Zugang der Abiturienten zu Ausbildung und Beruf zu ermöglichen“. Der Senat lehnt die Vorstellung ab, man könne Chancengleichheit dadurch sichern, dass Rechtschreibung bei allen Abiturientinnen und Abiturienten nicht mehr bewertet werde. Es bestehe ein „gewichtiges Interesse“, „das Abitur als geeignetes Instrument“ zu erhalten – auch durch die Bewertung orthografischer Leistungen.

Darüber hinaus betont das Gericht, dass den Rechtschreibregeln „als Teil der Kernkompetenzen des Lesens und Schreibens […] nach wie vor eine besondere Bedeutung“ zukomme. Viele Berufe und Ausbildungsgänge setzten voraus, dass Rechtschreibung „auch ohne technische Unterstützung“ sicher angewendet werde, damit „in jeder Situation störungsfrei schriftlich kommuniziert werden kann“. Fehlende Kenntnisse beeinträchtigten die Lesefähigkeit, und die Rechtschreibung werde „allgemein als Indikator für die individuelle Schreib- und Sprachfähigkeit angesehen“. Abschließend hält Karlsruhe fest, dass das Abiturzeugnis „nicht nur geringfügig entwertet“ würde, wenn Rechtschreibung nicht mehr zu den nachgewiesenen Kompetenzen zählte.

Lobin kommentiert diese Aussagen mit dem Hinweis, dass sie in deutlichem Kontrast zu Teilen der bildungspolitischen Diskussion stehen. „All das ist höchst bemerkenswert, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die bildungspolitische Debatte derzeit genau in die entgegengesetzte Richtung weist.“ Er stellt die Frage, ob ein weitgehender Verzicht auf Rechtschreibunterricht und -bewertung „womöglich gegen dieses Urteil und somit gegen das Grundgesetz“ verstoßen könnte.

Wie lassen sich diese verfassungsrechtlichen Feststellungen mit Unterrichtskonzepten vereinbaren, die stark auf selbstständiges Lernen und Teamarbeit setzen? Die Bildungsforscherin Anne Sliwka, Professorin an der Universität Heidelberg, forscht zum Deeper Learning und beschreibt dieses Konzept als Weiterentwicklung des Lernens in einer digitalisierten Welt. Deeper Learning, so sagt sie in einem Interview mit der Agentur für Bildungsjournalismus, sei „ein Oberbegriff, der seit einigen Jahren durch die internationale Bildungslandschaft läuft“. Es gehe darum, Lernen „im Kontext des 21. Jahrhunderts neu zu denken – im Spannfeld zwischen Wissensaneignung und den 21st Century Skills oder Future Skills, im Kontext der digitalisierten Schule, in der der Zugang zu Wissen anders stattfindet als in der Schule der Industriegesellschaft“.

Gerade weil die Digitalisierung den Zugang zu Wissen verändert und bei manchen die Erwartung weckt, Grundlagen würden weniger wichtig, rückt Sliwka die Basiskompetenzen in den Mittelpunkt. Sie betont: „Grundsätzlich ist da schon was dran, in dem Sinne, dass man wirklich in sehr vielen Teilen der Welt sehen kann, dass die Basiskompetenzen, also auf Englisch würde man sagen Literacy und Numeracy, sehr stark an Bedeutung gewinnen.“ Und sie konkretisiert: „Ein sicheres Beherrschen der eigenen Muttersprache oder Verkehrssprache des Landes, in dem man lebt und ein breiter Wortschatz in dieser Sprache ist ein ganz bedeutungsvolles Fundament. Und das Gleiche sagt man auch für Numeracy, also für die mathematischen Grundlagen. Ich kann die Wissensressourcen, die zur Verfügung stehen, nicht erschließen, wenn ich nicht über das Fundament in Literacy und Numeracy verfüge.“

„Sie können Deeper Learning erst einsetzen, wenn die Schüler*innen Basiskompetenzen auf Mindeststandard oder noch besser Regelstandard haben“

Damit rückt auch hier die Frage nach der Rolle der Rechtschreibung ins Zentrum: Wie sollen Schülerinnen und Schüler komplexe digitale Lernumgebungen nutzen, Informationen bewerten und eigene Produkte erstellen, wenn sie Texte nur unsicher lesen und produzieren können? Sliwka beschreibt, dass Deeper Learning „keinen Widerspruch zwischen Wissensaneignung und 21st Century Skills“ sieht. „Beides wird eingebettet in projektorientierte Lernprozesse.“ Das von ihr mitentwickelte Modell beginnt bewusst mit einer Phase, in der ein Wissensfundament gelegt wird: „In einer ersten Phase wird ein Wissensfundament gelegt. Das ähnelt noch sehr stark dem Unterricht, wie wir ihn traditionell kennen. Dort kommen auch Phasen der lehrerzentrierten Instruktion vor.“ Am Ende dieser Phase solle „ein stabiles Wissensfundament gelegt sein, das ermöglicht, dass Schülerinnen und Schüler in die zweite Phase übertreten“. Dazu gehören auch Formen des Assessments, etwa Concept Mapping oder digitale Multiple-Choice-Tests, als eine Art „Wissensführerschein“.

Sliwkas zentrale Annahme lautet: „Denn die Grundannahme ist: Man braucht Vorwissen, um mit diesem Vorwissen mit den 21st Century Skills – also kommunikativ, kollaborativ, kreativ und kritisch – arbeiten zu können.“ In der zweiten Phase stehe dann die Arbeit mit diesen Kompetenzen im Vordergrund, etwa zu Themen wie „Exponentielles Wachstum“, „Essayistisches Schreiben“, „Klimawandel“ oder „Soziale Ungleichheit“. Die Schülerinnen und Schüler beschreiten unterschiedliche Lernpfade, arbeiten in Teams, entwickeln Produkte und wählen aus vielfältigen Leistungsformen.

Sliwka formuliert das auch ausdrücklich: „Sie können Deeper Learning aber erst einsetzen, wenn die Schüler*innen Basiskompetenzen auf Mindeststandard oder noch besser Regelstandard haben.“ Die Konzepte der Sekundarstufe setzen voraus, dass Schülerinnen und Schüler mit sprachlichen Anforderungen umgehen können – unabhängig davon, ob sie später Texte verfassen, Podcasts erstellen oder Präsentationen erarbeiten.

„Richtig brisant freilich wird es dann, wenn bereits grundlegende Einsichten in Aufbau und Struktur unserer Alphabetschrift fehlen“

Einen weiteren Blickwinkel eröffnet der Bildungsforscher Prof. em. Friedrich Schönweiss, der über zwei Jahrzehnte an der Universität Münster zur Rechtschreibung forschte. Er beschreibt die Folgen mangelnder Schriftsprachkompetenz grundlegend. „Rechtschreibung, also die eigene oder aber neue Sprache samt Schrift sicher zu beherrschen, ist ja sehr viel mehr als nur irgendwelche orthographischen Regeln zu kennen und zu befolgen.“ Entscheidend sei, ob Kinder die über die Schrift transportierten Inhalte vollständig erfassen. „Nur dann, wenn die über unser so genial ausgefeiltes Schriftsprachsystem transportierten Inhalte haarklein erfasst werden, wird die Tür dazu geöffnet, dass jedes Kind Tag für Tag mehr weiß und auch kann. Egal, auf welchem Gebiet.“

Schönweiss betont, dass Orthografie-Mängel weitreichende Folgen haben können. „Schwierigkeiten mit dem Schreiben“ seien „alles andere als ein isoliertes Problem“, sondern verbunden „mit einem fatalen Niveauverlust auf sämtlichen Ebenen, in allen Fächern“. Lesen und Mathematik seien ebenso betroffen wie andere Bereiche. Einzelne Unsicherheiten seien unproblematisch, doch: „Richtig brisant freilich wird es dann, wenn bereits grundlegende Einsichten in Aufbau und Struktur unserer Alphabetschrift fehlen.“ Er berichtet von Berufsschullehrkräften, die Texte ihrer Schülerinnen und Schüler „nicht mehr entschlüsseln können“. Betriebe erwarteten jedoch, „dass ihre Auszubildenden und Mitarbeiter vernünftig lesen, schreiben, miteinander kommunizieren können“.

Fehlende Rechtschreibsicherheit wirke sich auch langfristig aus. „Wenn Kinder noch in der 5. Klasse bei jedem Wort angestrengt überlegen müssen, wie man es denn schreibt, wenn sie also Texte nur mühsam entziffern können, anstatt sie rasch zu überfliegen, hält sie das in ihrer gesamten Schullaufbahn auf.“ Digitale Korrekturprogramme könnten helfen, aber nicht dort, wo grundlegende Strukturen nicht verstanden würden: „Nicht aber bei Wortruinen.“

Schließlich verweist Schönweiss auf die gesellschaftliche Bedeutung. Der Umgang mit Geschriebenem werde „so schnell nicht aus Alltag und Schule verschwinden“. Eine gemeinsame schriftliche Kommunikationskultur sei notwendig. Fehlende Rechtschreibsicherheit „behindert die Kinder generell in ihrer Entwicklung und ist für eine Gesellschaft, die auf Bildung, Technologie und Arbeitsteilung setzen muss, einfach nur bedrohlich“. News4teachers 

Hier geht es zur vollständigen dreiteiligen Reihe. 

Rechtschreibung auf der Kippe: Die Wirtschaft klagt über Orthografie-Defizite bei Schulabgängern – was die Wissenschaft sagt

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4 Kommentare
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Tabasco
1 Stunde zuvor

Und nun? Englisch in der Grundsschule zugunsten von Deutsch wieder abschaffen? Erst in die Sek I versetzen, wenn Mindeststandards(!) im Lesen und Schreiben erreicht sind, auch wenn manche dann noch mit 15+ in Klasse 4 sitzen?
Die SuS, die die Mindeststandards im Lesen und schreiben nicht erfüllen, haben arge Schwierigkeiten (= Euphemismus für „ehrlich gesagt KEINE Chance“) stofflich in der SEK I mitzukommen. Das ist für sie problematisch, das hält aber auch alle anderen unnötig auf – unnötig, weil die Klassenstufe eben gar nicht hätte erreicht werden dürfen bei den fehlenden Fähigkeiten.
Ganz anders sieht es bei denen aus, die LRS/F 81.0 bedingte Schwierigkeiten haben. Für die fehlt es an Ressourcen: Schulinterne Kurse sind oft zu groß, so sie denn überhaupt eingerichtet werden, je nach Bundesland besteht auch nicht die Möglichkeit, Klassenarbeiten oder Klausuren durch mündliche Überprüfungen zu ersetzen etc. Es gibt für diese SuS derzeit keine wirklich geeigneten Nachteilsausgleichsmaßnahmen, die sich in den Schulbetrieb ohne größere Disruption eingliedern lassen. Also zurück auf Anfang: Und nun?

Sporack
19 Minuten zuvor
Antwortet  Tabasco

> Und nun? Englisch in der Grundsschule zugunsten von Deutsch wieder abschaffen?

Ja!

> Erst in die Sek I versetzen, wenn Mindeststandards(!) im Lesen und Schreiben erreicht sind, auch wenn manche dann noch mit 15+ in Klasse 4 sitzen?

Ja!

Fräulein Rottenmeier
8 Minuten zuvor
Antwortet  Sporack

„> Erst in die Sek I versetzen, wenn Mindeststandards(!) im Lesen und Schreiben erreicht sind, auch wenn manche dann noch mit 15+ in Klasse 4 sitzen?

Ja!“

Nein! Auf keinen Fall…..möchten Sie 9 jährige zusammen mit 14 jährigen in einer Klasse unterrichten? Ich nicht!

Muxi
29 Minuten zuvor

Rechtschreibung zu ignorieren, ist ungefähr so intelligent, wie Leute keinen Sport mehr machen zu lassen, weil wir ja Autos und Rolltreppen haben.
Nur weil es Hilfsmittel gibt, die Schwächen (teilweise) kompensieren können, heißt das nicht, dass Schwächen kein Problem sind. Wir müssen heute Leute nicht mehr rausprüfen wegen Legasthenie oder Dyskalkulie, man kann heute auch damit akademische Leistungen bringen. Aber deshalb zu sagen, man müsse das nicht mehr lernen, ist Unsinn.