Website-Icon News4teachers

Aussortiert oder mitgenommen? Wie Schulen Kinder verlieren – oder halten (ein Podcast mit Lehrkräftepreis-Trägerin Andrea Franke)

Andrea Franke. Foto: Deutscher Lehrkräftepreis / Heraeus Bildungsstiftung

Anzeige

BONN. Was bedeutet es für junge Menschen, wenn sie früh lernen, dass sie nicht in ein leistungsorientiertes System passen? Und was braucht Schule, um genau diese Kinder nicht zu verlieren? Darüber sprechen im Podcast „Bildung, bitte!“ des Bürgerrats Bildung und Lernen die Schulleiterin Andrea Franke (Preisträgerin beim Deutschen Lehrkräftepreis 2025) und Bürgerratsmitglied Maria Sala Achillos mit Host Andreas Bursche. Gemeinsam diskutieren sie, welche Haltung und welche Strukturen darüber bestimmen, ob Schule Kinder aussortiert – oder sie bewusst mitnimmt.

“Wenn Schüler erfolgreich sind, dann feiern wir das ohne Ende”: Schulleiterin Andrea Franke. Foto: Heraeus Bildungsstiftung / Deutscher Lehrkräftepreis

Andrea Franke ist Schulleiterin der Willy-Brandt Schule Berlin. Während die Schule früher vielen als „Reste-Schule“ galt, wird sie heute als Vorbild gehandelt. Für ihre herausragende Arbeit wurde Franke mit dem Deutschen Lehrkräftepreis ausgezeichnet (hier geht es zu einem News4teachers-Interview mit ihr). Sie beschreibt ihre Schule als Ort in einem sozial stark belasteten Kiez.

Viele Familien lebten unter schwierigen Bedingungen, oft fehle den Kindern ein bildungsnahes Elternhaus. Sich selbst nähmen Schülerinnen und Schüler daher häufig nicht als diejenigen wahr, die „in den Mittelpunkt“ gehören, sagt Franke. „Wenn wir auf Berufsmessen gehen und unsere Schülerinnen und Schüler mitnehmen, merkt man das sehr deutlich: Sie gehen nicht selbstverständlich auf die Stände zu oder stellen sich potenziellen Arbeitgebern vor.“ Dem setzt die Schulleiterin eine Haltung entgegen, die sie als konsequent offen beschreibt: Schüler*innen würden ohne Vorbehalte aufgenommen, und die Schule knüpfe dort an, „wo der Schüler einfach steht“.

Anzeige

Verschiedene Ursachen, dass Schüler zurückfallen

Den Fokus auf die Startnachteile zu Beginn einer Bildungskarriere ergänzt Bürgerratsmitglied Maria Sala Achillos noch um eine weitere Perspektive: Sie schildert, wie sie selbst krankheitsbedingt die Leistung, „die eine Schule erwartet“, nicht bringen konnte – und wie das System damals kaum Rücksicht darauf nahm. Chancengerechtigkeit bedeutet für sie daher auch, dass Schule chronische Erkrankungen und fehlende persönliche Ressourcen ernst nehme, nicht nur Armut.

In der Diskussion wird schnell deutlich: Beide sprechen aus unterschiedlichen Rollen, zielen aber auf dasselbe Problem. Sala Achillos beschreibt, was fehlende Unterstützung bei Jugendlichen auslösen kann: „Für mich war diese Zeit sehr schwierig, weil man als junger Mensch massive Selbstwertprobleme entwickelt. Man denkt, man sei nicht gut genug für das System. Man zweifelt an der eigenen Intelligenz und hat das Gefühl, nicht in die Gesellschaft zu passen – nicht in diese leistungsorientierte Gesellschaft. Das macht viel mit einem.“ Die Problematik bestätigt auch Schulleiterin Franke. Sie berichtet, wie genau solche Faktoren – Prüfungsangst, Panikattacken, depressive Tendenzen oder Krankheiten – dazu führen können, dass Jugendliche „von der Schule abgehängt“ werden, wenn sie keine passenden Wege organisiert. Gerade deshalb gebe es diese an ihrer Schule.

Beziehung, Struktur und Haltung als Aufgabe der Schulleitung

Franke beschreibt exemplarisch, was sie mit ihrem Team in einem Fall wie dem von Sala Achillos vorgehen würde: im Rahmen einer Schonhilfekonferenz klären, was Maria braucht, Homeschooling und alternative Prüfungsformate anbieten, die Eltern stark und konsequent einbinden – und vor allem: dranbleiben. „Wir versuchen, gemeinsam den richtigen Weg zu finden. Das ist natürlich mit Aufwand verbunden, keine Frage. Aber wir wollen alle mitnehmen – und wir freuen uns ganz besonders, wenn jemand wie Maria am Ende zu einem Bildungserfolg kommt.“

Damit Schülerinnen und Schüler diese Unterstützung auch annehmen können, brauche es mehr als einzelne Maßnahmen, betont Franke. Entscheidend sei eine Schulkultur, in der Jugendliche sich willkommen fühlen und Vertrauen entwickeln. Lernen funktioniere dabei häufig über Beziehungen. „Als Schüler lernt man ja oft auch für den Lehrer“, sagt Franke. „Man hat so seinen Lieblingslehrer und sagt: Eigentlich mag ich kein Deutsch, aber die Frau X oder der Herr Y, die finde ich ganz großartig.“

Diese Haltung werde an ihrer Schule bewusst gefördert. Wichtig sei dabei auch, Erfolge sichtbar zu machen. „Wenn es dann so ist, dass Schüler erfolgreich sind, dann feiern wir das auch ohne Ende“, sagt Franke. „Dann wird der Schüler herausgehoben.“ Das gelte ausdrücklich auch für das Kollegium. Die Herausforderungen seien deutlich größer als an Schulen mit starkem Rückhalt aus dem Elternhaus. Umso wichtiger sei es, Lehrkräfte zu stärken und wertzuschätzen.

Multiprofessionelle Teams als zentrales Instrument

Ein zentrales Element dieser Kultur seien multiprofessionelle Teams. Regelmäßig treffen sich diese an ihrer Schule für die Jahrgänge 7 bis 10. Beteiligt sind Schulsozialarbeit, Sonderpädagogik, Schulpsychologin, Jahrgangsleitung und Schulleitung. Ziel sei es, systematisch zu erfassen, welche Maßnahmen für einzelne Schülerinnen und Schüler bereits ergriffen wurden, ob sie wirken und wo nachgesteuert werden müsse. Dabei gehe es nicht um endlose Gespräche, sondern um konkrete Schritte. „Nur reden bewegt leider nichts“, betont Franke. „Das Tun bewegt etwas.“

Auch Maria Sala Achillos misst multiprofessionellen Teams große Bedeutung bei. Aus ihrer Perspektive seien sie notwendig, um die unterschiedlichen Lebenslagen von Kindern ernst zu nehmen. „Schule kann nicht nur Schule sein“, sagt sie. „Schule muss mehr als das tun.“ Gerade bei psychischen Belastungen oder auffälligem Verhalten müsse über das Umfeld hinausgeschaut werden.

Zugleich bringt Sala Achillos einen kritischen Punkt ein: die Frage der Beteiligung. „Es macht einen krassen Unterschied, ob ich als Schülerin mit einbezogen werde oder ob über mich geredet wird“, sagt sie. Partizipation sei entscheidend für Selbstwirksamkeit.

Auch daran haben Franke und ihr Kollegium gedacht. Die Schule verfolge daher ein gestuftes Vorgehen. Zunächst tausche sich das pädagogische Team intern aus, um professionell zu klären, wo Unterstützung sinnvoll sei. In einem zweiten Schritt würden dann Gespräche mit den Jugendlichen geführt, um gemeinsam konkrete Wege zu entwickeln. „Über Schülerinnen und Schüler hinweg lässt sich keine tragfähige Lösung planen“, sagt sie – zugleich brauche es aber auch geschützte Räume für fachlichen Austausch.

Schulentwicklung braucht Planung

Ein weiterer Diskussionspunkt ist die Frage nach Ressourcen. Aus dem Bürgerrat Bildung und Lernen berichtet Sala Achillos, dass Ideen zur Weiterentwicklung des Bildungssystems oft an der Frage der Finanzierung gescheitert seien. Sie zeigt sich daher überrascht, Franke ihre Schule ihre Schule ohne zusätzliche Mittel habe entwickeln können.

Franke widerspricht der Erwartung, Schule müsse zunächst auf zusätzliche Mittel warten. Ihre Erfahrung: „Schule muss es selbst tun.“ Zu Beginn habe sie deshalb bewusst externe Vorgaben zunächst zurückgestellt, um Organisations- und Kommunikationsstrukturen zu klären. Erst wenn die Kommunikation im Team geklärt sei, könnten Veränderungen überhaupt greifen. Schulentwicklung, so Franke, müsse aus dem Inneren heraus entstehen und von allen getragen werden – nicht von außen verordnet.

Beim Budget plädiert Franke für konsequente Planung. „Schulen haben ein Budget und das kannst du als Schulleitung nutzen, indem du sinnhaft planst.“ Statt kurzfristiger Einzelentscheidungen brauche es klare Ziele und Standards. An ihrer Schule werde das Budget vollständig ausgeschöpft. „Am Ende des Jahres ist wirklich alles ausgegeben.“

Dabei seien Ideen aus dem Kollegium ausdrücklich erwünscht. „Es kommt kein Kollege zu mir und sagt: Frau Franke, ich habe eine Idee, aber wir haben kein Geld“, berichtet sie. „Ich sage immer: Lassen Sie mal hören. Wie können wir das einbinden in die gesamte Schule? Und selbstverständlich werden wir das finanzieren.“

„Schulleitung muss sich zurücknehmen“

Grundsätzlich wirft Bürgerratsmitglied Maria Sala Achillos allerdings die Frage auf, wie offen Schulen denn für neue Perspektiven seien. Franke vermutet, dass Zurückhaltung auf Leitungsebene häufig aus Angst vor Kritik entstehe. Sie habe zu Beginn der Schulentwicklung viel von ihren Kolleg*innen gelernt. „Mein Kollegium hat mich, ich will mal so sagen, regelrecht erzogen. Als ich angefangen habe, haben sie zu mir gesagt: Frau Franke, laufen Sie nicht so schnell. Geben Sie uns die Zeit, hinterherzukommen. Das hätte ich ignorieren können, aber ich habe gesagt: Ihr habt vollkommen recht. Ich darf nicht so schnell losrennen, sondern muss Schritt für Schritt vorgehen.“

Aus ihrer Sicht müsse sich Schulleitung deshalb grundlegend anders verstehen. „Schulleitung muss sich zurücknehmen“, so Franke. „Sie muss Atmosphäre schaffen, ein Wegbereiter sein, eigentlich der Dienstleister für Schülerinnen und Schüler, für Eltern und für Lehrkräfte.“ Nur so könne Schule ein Ort werden, an dem Chancengerechtigkeit nicht nur gefordert, sondern gelebt werde. News4teachers

Hintergrund

Mehr als 700 zufällig ausgewählte Menschen aus allen Teilen der Republik haben im Rahmen des Bürgerrats Bildung und Lernen in den zurückliegenden fünf Jahren Empfehlungen für eine zukunftsfähige und gerechte Bildung erarbeitet. Was diesen Bürgerrat von vielen anderen unterscheidet: Gemeinsam mit den Erwachsenen saßen hier auch Kinder und Jugendliche (U16) gleichberechtigt mit am Tisch. Ins Leben gerufen wurde der Bürgerrat von der unabhängigen und gemeinnützigen Montag Stiftung Denkwerkstatt in Bonn. Sie hat auch den vorliegenden Podcast bereitgestellt. 

Im Sinne einer lebendigen Demokratie diskutierten die Mitglieder des Bürgerrats gemeinsam über gesellschaftliche und bildungspolitische Fragen. Welche Probleme und Herausforderungen müssen im Bildungsbereich dringend bearbeitet werden? Wie könnten bildungspolitische Reformen aussehen, die Probleme lösen und gleichzeitig in der Gesellschaft mehrheitsfähig sind? Und: Wie soll gerechte Bildung in Zukunft aussehen?

Ein umfassendes Papier mit Empfehlungen wurde in diesem Jahr veröffentlicht (News4teachers berichtete). Leitthema dabei: „Chancengerechtigkeit: Wie viel Freiheit braucht das Lernen?“

Weitere Informationen zum Bürgerrat: www.buergerrat-bildung-lernen.de

Hier geht es zu weiteren Folgen der News4teachers-Podcasts:

Den Podcast finden Sie auch auf

 

Wie demokratisch sind Schulen? Nicht so sehr! Warum Schüler mehr Mitbestimmungsrechte brauchen – eine Podcast-Debatte

Anzeige
Die mobile Version verlassen