BERLIN. Die öffentliche Klage über eine angeblich „immer schlechtere“ Rechtschreibung junger Menschen tönt laut – auf der anderen Seite stehen Politiker wie Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), der den Sinn von Rechtschreibunterricht im Zeitalter der Digitalisierung öffentlich in Zweifel zieht. Dabei bringt die Schwarz-Weiß-Debatte wenig. Ein wissenschaftlicher Blick auf die Entwicklung zeigt: Nicht die Sprache selbst verfällt, sondern die Chancen verteilen sich immer ungleicher. Vor allem Kinder ohne bildungsnahe Unterstützung verlieren den Anschluss. Ein Grund: Die Lehrpläne setzen längst andere Schwerpunkte.
Dies ist Teil zwei einer Reihe zum Thema Rechtschreibung. Hier geht es zurück zu Teil eins.

Der damalige Grünen-Kanzlerkandidat und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sprach im Januar auf einer Wahlkampfveranstaltung über seine persönlichen Schwächen in Sachen Orthografie. „Ich war nicht gut in Rechtschreibung früher und hatte einen leichten Schlag in Richtung Legasthenie”, bekannte Habeck – heute immerhin Gastprofessor der renommierten US-Universität Berkeley –, um dann auf die deutsche Bildungspolitik zu kommen (er forderte eine größere Rolle dabei für den Bund).
So weit wie sein Parteifreund, Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann, ging Habeck dabei allerdings nicht: Der hatte in den vergangenen Jahren immer wieder mal den Sinn des Rechtschreibunterrichts in Zweifel gezogen. Kretschmann, früher selbst Lehrer, fragte sich öffentlich, wie wichtig das Beherrschen der Rechtschreibung für Schüler heute noch ist, „wenn das Schreibprogramm alles korrigiert“. Er befand: „Wir müssen akzeptieren, dass die digitale Welt andere Fähigkeiten braucht.“
Für die Wirtschaft, Abnehmer der Absolventen des Systems Schule, sind Rechtschreib-Kompetenzen durchaus noch wichtig, wie eine aktuelle Umfrage der Industrie- und Handelskammer (IHK) Reutlingen unter Betrieben der Region deutlich macht – und: Die aktuelle Bildungsforschung in Gestalt des IQB-Bildungstrends bestätigt, dass die Leistungen der Schülerinnen und Schüler in der Orthografie zwischen 2015 und 2022 drastisch gesunken sind (News4teachers berichtete im ersten Teil der Serie darüber).
Heißt das im Umkehrschluss aber auch: Früher war alles besser!? Ganz so banal ist es nicht, wie der „Dritte Bericht zur Lage der deutschen Sprache“ der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften von 2021 aufzeigt. Er nähert sich der Debatte von einer anderen Seite. Die umfassende Analyse nimmt langfristige Entwicklungen in den Blick – und widerspricht zunächst der populären Erzählung vom allgemeinen Niedergang.
Gleich zu Beginn heißt es: „Häufig ist in der öffentlichen Diskussion zu hören, dass sich die Schülerinnen und Schüler schriftlich nicht mehr adäquat ausdrücken können und ihre Texte qualitativ immer schlechter werden.“ Die Autorinnen und Autoren verweisen dann aber auf eine Untersuchung aus dem Jahr 2009, in der Texte von Viertklässlern aus den Jahren 1972 und 2002 verglichen wurden.
Der Befund von Wolfgang Steinig, damals Professor für Sprachdidaktik an der Universität Siegen, überraschte seinerzeit viele – und wird im Bericht so zusammengefasst: Es sei „keineswegs zu einem ‚Sprachverfall‘“ gekommen. Festgestellt wird vielmehr, „dass u. a. der Wortschatzumfang in den Texten deutlich angestiegen ist“. Allerdings mit einer wichtigen Einschränkung: „Dieser Anstieg ‚beruht jedoch auf dem überdurchschnittlich starken Wortschatzzuwachs von Kindern aus der oberen Mittelschicht, die in der Regel eine Empfehlung für das Gymnasium bekommen‘.“ Insofern scheine „der Einfluss von sozialer Herkunft, die eng mit der Schulempfehlung assoziiert ist, im Verlauf der drei Jahrzehnte deutlich an Bedeutung gewonnen zu haben“.
Hier schlägt bereits durch, was dann auch im IQB-Bildungstrend 2022 sichtbar wird: Es gibt nicht „die“ Entwicklung, sondern wachsende Unterschiede zwischen sozialen Gruppen und Schulformen. Während Gymnasialkinder oft längere, sprachlich reichere Texte schreiben, bleiben andere Gruppen zurück – gerade dort, wo die Schule die einzige systematische Quelle bildungssprachlicher Anregung wäre.
Großschreibung als Symptom: Was der Rechtschreibunterricht (nicht) leistet
Anschaulich wird der Bericht dort, wo er sich einem Teilbereich der Rechtschreibung widmet: der Großschreibung. Anhand von Grundschultexten über einen Zeitraum von 40 Jahren wird nachgezeichnet, wie sich Fehlerhäufigkeiten verändert haben – und welche Rolle der Unterricht spielt. Ausgangspunkt ist die empirische Beobachtung: „Fehler im Bereich Großschreibung haben sich in den untersuchten Grundschultexten über einen Zeitraum von 40 Jahren mehr als verdreifacht. In diesem Zusammenhang steigt 2002 und insbesondere 2012 der Anteil solcher Texte, die einen vergleichsweise hohen Fehlerquotienten aufweisen.“
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Betzel zeigt dann aber auf, dass diese vermeintlich „natürliche“ Reihenfolge in Wahrheit stark vom Unterricht geprägt ist. Ein Blick in Schulbücher unterschiedlicher Klassenstufen mache deutlich, dass „die unterrichtliche Progression exakt den (…) dargestellten historischen Entwicklungsschritten“ folge. Die Großschreibung werde „in allen Lehrwerken an die lexikalische Kategorie Substantiv gekoppelt“, die Kleinschreibung von Verben und Adjektiven zur Regel erhoben. In den ersten Grundschuljahren wird die Identifizierung von Substantiven „auf semantischer Basis“ eingeführt („was man sehen und anfassen kann“), erst später kommen abstrakte Wörter und schließlich Substantivierungen hinzu.

Die entscheidende Kritik lautet: „Anstatt von Beginn an die Großschreibung syntaxbasiert einzuführen, (…) begünstigt die vorgegebene Unterrichtsprogression einen Lernweg, der ausgehend von der Semantik über Zwischenschritte idealiter zur Syntax als Zielpunkt verläuft.“ Für einen Teil der Kinder werde dieser semantische Zugang aber nicht als „Zwischenschritt“, sondern als Dauerstrategie verfestigt. Die Folge: Abstrakta und Substantivierungen bleiben „bis weit in die Sekundarstufe fehleranfällig“.
Der Bericht fasst das so zusammen: „Die bis weit in die Sekundarstufe fehleranfälligen Abstrakta und Substantivierungen legen die Vermutung nahe, dass eine vermeintlich kindgerechte Strategie, die die Großschreibung an die lexikalische Kategorie Substantiv bindet, die Kleinschreibung aller anderen Wortarten zur Regel erhebt und Substantive zunächst auf wortsemantische Eigenschaften beschränkt, von einem Teil der Schüler/-innen nicht als Zwischenschritt verarbeitet wird, sondern sich in einem Maße verfestigt, dass erforderliche Strategiewechsel im weiteren Lernprozess nicht ausreichend gelingen.“
Politisch brisant wird die Analyse, wenn er mögliche Ursachen für die beobachtete Zunahme von Großschreibungsfehlern diskutiert. Naheliegende Erklärungen, etwa ein gewachsener Wortschatz, lassen sich empirisch nicht halten: „Tendenziell enthalten Texte mit einem vielfältigeren Textvokabular sogar weniger Rechtschreibfehler“, heißt es. Stattdessen wird eine andere Hypothese formuliert: Der Anteil expliziter Rechtschreibarbeit im Deutschunterricht sei seit den 1970er-Jahren zurückgegangen. Steinig und andere hätten auf Grundlage der nordrhein-westfälischen Lehrpläne die Annahme formuliert, „dass der zeitliche Anteil, den die explizite Thematisierung von Rechtschreibphänomenen im Deutschunterricht einnimmt, 2002 gegenüber 1972 zurückgegangen sei.“
Die Konsequenz für leistungsschwächere Kinder beschreibt der Bericht eindringlich: „Jedoch ist anzunehmen, dass dies leistungsstärkeren Kindern auch bei geringerer unterrichtlicher Unterstützung besser gelingt als leistungsschwächeren, die mutmaßlich auf eine stärkere Strukturierung des Lerngegenstandes angewiesen sind und deshalb von einem höheren Anteil an Rechtschreibunterricht profitieren würden. (…) Folgt man dieser Argumentation, würde ein seit 1972 potenziell abnehmender Anteil an expliziter Rechtschreibarbeit insbesondere diejenigen benachteiligen, die auf eine stärkere Strukturierung und eine bewusste Lenkung ihrer aktiven Lernzeit auf formalsprachliche Merkmale angewiesen sind.“
Kurz: Wenn Rechtschreibung im Unterricht weniger Gewicht bekommt, trifft das vor allem diejenigen, die nicht ohnehin aus sprachstarken, bildungsnahen Familien kommen. Genau jene, deren Fehler dann später in Bewerbungen und Einstellungsprüfungen besonders auffallen – und von Kammern und Betrieben als „mangelnde Ausbildungsreife“ beklagt werden.
Zwischenfazit: Keine einfache „Verfallsgeschichte“, sondern eine Verschiebung
Im Fazit zieht der Sprachbericht eine Bilanz, die der Debatte um Rechtschreibung und Sprachverfall einen anderen Rahmen gibt. Wörtlich heißt es: „Ein allgemeiner Sprachverfall, wie er in der Öffentlichkeit häufig befürchtet wird, konnte nicht beobachtet werden. Die heutigen Schüler und Schülerinnen produzieren gegenüber früheren Generationen längere Texte und verfügen über einen größeren Wortschatz; das gilt insbesondere für Schüler und Schülerinnen des Gymnasiums oder solche mit einer Gymnasialempfehlung. Schwerer zu bewältigen scheinen die formalen Anforderungen zu sein, was im Bericht am Beispiel der Kommasetzung und der Großschreibung gezeigt wird. Wir scheinen es also mit einer Verschiebung zu tun zu haben, die auch die Veränderung bildungspolitischer Ansprüche seit den 1980er-Jahren reflektiert, wo von formaler auf funktionale Sprachbildung umgestellt wurde: Die Texte der Schüler und Schülerinnen werden länger und reichhaltiger, formale Normen nehmen demgegenüber einen geringeren Stellenwert ein.“
Dazu kommt die Ausdifferenzierung schriftsprachlicher Varietäten im Zuge von Social Media: „Neben den schriftlichen Standard treten neue schriftsprachliche Varietäten der Social-Media-Plattformen, die das schriftsprachliche Repertoire ausdifferenzieren.“ Ob diese neuen Formen die Standardsprache langfristig verdrängen, sei offen – vieles hänge davon ab, „welchen Bildungsauftrag sich die Schule gibt, welche Rolle die Standardsprache in den Schulen weiter spielt, mit welchen Instrumenten sie gefördert wird und welche Ressourcen dafür zur Verfügung stehen.“
Der Bericht richtet den Blick auf soziale Ungleichheiten. Immer wieder werde sichtbar, dass Schularten Unterschiede in der sprachlichen Bildung reproduzieren: „Gymnasium, Gesamtschule, Realschule, Hauptschule; die Schulartenunterschiede spiegeln – vielfach bestätigt – auch soziale Ungleichheiten, vor allem im Blick auf die familiären Bildungsvoraussetzungen von Schülerinnen und Schülern.“ Fehlende Bildung im Elternhaus scheine „eine Kettenreaktion“ in Gang zu setzen: Kinder ohne bildungssprachliche Anregung in der Familie würden in der Schule abgehängt, landeten häufig an Hauptschulen, „wo sie zu wenige bildungssprachliche Lerngelegenheiten erhalten – und fallen weiter zurück.“
Bemerkenswert ist außerdem der Befund zur Mehrsprachigkeit: Sie erweist sich nicht per se als Hindernis. „Mehrsprachigkeit [stellt] nur dann ein Lernhindernis“ dar, heißt es, „wenn die Kinder zusätzlich aus Elternhäusern kommen, in denen sie keine Bildungsaspiration erfahren, und wenn sie auch in der Schule nicht hinreichend unterstützt werden.“ Hier wird deutlich: Nicht das Sprechen einer anderen Sprache als Deutsch ist das Problem – sondern mangelnde Förderung und fehlende bildungssprachliche Ressourcen.
Und die Rechtschreibung? Die Autorinnen und Autoren schlagen vor, Fehler nicht nur als Defizit zu betrachten, sondern als Spiegel eines Lernprozesses: „Vieles von dem, was vorschnell als Fehler oder Normverstoß charakterisiert wird und mithin die Furcht vor einem Sprachverfall nährt, ist die Folge von Lernprozessen.“ Die zentrale Herausforderung sei der Übergang „von der alltäglichen Mündlichkeit zur bildungssprachlichen Schriftlichkeit“. Doch bei weitem nicht alle hätten die gleichen Chancen, diesen Übergang erfolgreich zu bewältigen. News4teachers
Der dritte Teil der Reihe erscheint in den nächsten Tagen auf News4teachers.
Hier geht es zurück zum ersten Teil:









Ein schönes Bild: Die Buchstabensuppe ist längst übergekocht – eine fade Brühe, in der zerfledderte Buchstaben orientierungslos umherschwimmen.
Und wie beruhigend: Die Groß- und Rechtschreibung schwächelt nicht etwa, weil Kinder mehr Zeit mit Daddelei und Gewhatsappe verbringen – nein, es liegt natürlich nur am „weniger und praxisfernen (nicht lernwegadäquaten) Rechtschreib-Unterricht“. Dass die ständige Tipperei im Messenger mit „ey digga“ und „lol“ keinerlei Einfluss auf Sprachgefühl und Normbewusstsein haben könnte, blendet man lieber aus. Schüler, die „Rechtschreibung“ buchstabieren sollen und schon am ersten Großbuchstaben scheitern. Lehrer, die zwischen „Kompetenzorientierung“ und „Lernfeldverschiebung“ jonglieren, während die Grundlagen zerbröseln.
„Keine einfache ‚Verfallsgeschichte‘, sondern eine Verschiebung.“ Na, da bin ich ja beruhigt – kein Verfall von Kulturtechniken, nur eine Verschiebung von Normen, Werten und Anspruchshaltung. Wir nennen es also nicht Niedergang, wir nennen es Transformation. Wenn das so weitergeht, können wir bald auch den Taschenrechner als „Verschiebung der Kopfrechenkompetenz“ feiern und das Verflachen von Allgemeinbildung als „Neuausrichtung der Prioritäten“ oder “kompetenzorientierte Schrumpfkur”.