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Erziehung: Wenn Eltern zu viel schützen und zu wenig führen – was das für Kita und Schule bedeutet

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BERLIN. Eltern schützen ihre Kinder immer intensiver – und muten ihnen gleichzeitig immer weniger zu. Der Soziologe Norbert F. Schneider und die Psychotherapeutin Maria M. Bellinger warnen in ihrem neuen Buch, dass diese Kultur der Überbehütung Kinder schwächt und Kitas wie Schulen überfordert. Ihre Analyse zeigt, wie stark der gesellschaftliche Erwartungsdruck auf Familien gestiegen ist – und warum es pädagogisch notwendig wäre, Kindern wieder mehr zuzutrauen.

Überbehütung schafft Probleme – auch (und vor allem) in der Schule. (Symbolfoto.) Foto: Shutterstock

In einer Kita platzt im Sommer ein Wasserrohr. Drei Monate lang müssen die Gruppen in die Turnhalle der benachbarten Schule ausweichen, Notbetreuung im Provisorium. Andere Zeiten, andere Gruppenzusammensetzung, anderes Essen, mehr Lärm, weniger Struktur. Am Ende dieser Phase, berichtet eine erfahrene Kita-Leitung, seien „die Eltern […] völlig am Ende, was dort alles passieren könne“, während die Kinder die Ausnahmesituation „als Abenteuer genommen und super vertragen“ haben. Die Episode steht beispielhaft für eine grundsätzliche Frage, die pädagogische Fachkräfte in Kitas und Schulen heute täglich beschäftigt: Was ist Kindern eigentlich zuzumuten – und was nicht?

Mit diesem Beispiel – und der „Frage der Zumutbarkeit“ – setzen der Soziologe Norbert F. Schneider und die Psychiaterin und Psychotherapeutin Maria M. Bellinger in ihrem neuen Buch „Mut tut gut – warum wir unseren Kindern mehr zutrauen können“ an. Ihr Befund, basierend auf 55 Interviews mit Kindern, Eltern sowie Fachkräften, Eltern stehen massiv unter Druck, Kinder wachsen in einer Kultur der Überbehütung auf – und Bildungseinrichtungen geraten in die Rolle von Reparaturbetrieben einer Erziehung, die gut gemeint, aber oft kontraproduktiv ist. Schneider war von 2009 bis 2021 Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, lehrt als Honorarprofessor in Frankfurt und Gastprofessor in Wien. Bellinger leitete bis 2025 die psychosoziale Beratungsstelle eines Bundesministeriums und arbeitet an der Schnittstelle von Gesundheit, Arbeit und Familie.

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„Die Besseren und ihr Streben nach Leistung und Erfolg bleiben dagegen auf der Strecke“

Ihr Buch richtet sich zwar primär an Eltern, ist aber für das Bildungssystem hoch relevant. Denn was Schneider und Bellinger beschreiben, bekommen Erzieherinnen, Erzieher und Lehrkräfte unmittelbar in ihrem Alltag zu spüren: das Verhalten von Kindern, denen vieles zugetraut wird, die mit Veränderungen, Konflikten und Frustrationen umgehen können – und das von anderen, für die schon eine umgestellte Gruppenstruktur oder der erste Lernstandstest zum Drama wird. „Die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Frage der Zumutbarkeit erfährt gegenwärtig eine hohe Aufmerksamkeit und schlägt erstaunliche Volten“, schreiben die Autorin und der Autor. Was Kindern nicht zugemutet werden dürfe, ändere sich rasant – und oft ohne pädagogische Reflexion.

Deutlich wird das an schulnahen Beispielen: Noten in der Grundschule werden abgeschafft, Sitzenbleiben gilt als pädagogisch überholt. Im Kinderfußball, eng an Schule und Ganztagsbetreuung gekoppelt, gelten seit der Saison 2024/25 neue Regeln: Tabellen in G-, F- und E-Jugend sollen weg, Gewinnen und Verlieren werden pädagogisch entschärft. Die dahinterstehende Intention – Druck reduzieren, möglichst niemanden verlieren – mag vielen Lehrkräften vertraut vorkommen. Schneider und Bellinger fragen: Ist Kindern wirklich geholfen, wenn ihnen die Lernerfahrung vorenthalten wird, dass auch Niederlagen zum Leben gehören und dass es andere gibt, die besser sind?

Eine Mutter schildert im Buch, wie ihr Sohn Fußball erlebt: „Mein Sohn will gar nicht entlastet werden … er will sich messen, Tore schießen, gewinnen, besser sein als andere.“ Und was bedeutet es für Kinder, die ein Turnier tatsächlich dominiert haben, wenn ihnen am Ende erklärt wird, am Ende seien doch irgendwie alle Sieger? Die Orientierung verschiebt sich – weg von den Leistungsstarken, hin zum Schutz der Schwächsten. „Die Besseren und ihr Streben nach Leistung und Erfolg bleiben dagegen auf der Strecke“, warnen Bellinger und Schneider. Für Schule heißt das: Wo Leistung nur noch vorsichtig benannt werden darf, fehlen auch die starken Vorbilder, an denen andere wachsen können.

Verunsicherte Eltern verschärfen das Problem noch. Im Kern, so Schneider in einem Interview mit der „Welt“, gehe es um eine Überfrachtung von Elternschaft – und die wirkt unmittelbar in Kita und Schule hinein. „Aus soziologischer Perspektive nehme ich wahr, dass der Erwartungsdruck, der von der Gesellschaft auf Eltern ausgeht, immer weiter steigt. Gleichzeitig wird dieser von den Eltern verinnerlicht, die sich zusätzlich selbst unter Druck setzen“, sagt er dort. Und weiter: „Wir sehen zunehmend überlastete und verunsicherte Eltern, die zur Überbehütung neigen. Das schadet nicht nur den Kindern, sondern auch der Gesellschaft, da die nachwachsende Generation nur schwer Resilienz entwickeln kann. Unser Anliegen ist es, Druck von den Eltern zu nehmen.“

Überbehütung ist für Schneider und Bellinger dabei nur eine Seite der Medaille. In den Gesprächen, die sie für das Buch geführt haben, begegnen ihnen Lehrkräfte aus sogenannten Brennpunktschulen, die das genaue Gegenteil schildern: Eltern, die kaum erreichbar sind, Kinder ohne Frühstücksbox, wochenlanges Fernbleiben vom Unterricht, das auf Hinweise der Schule kaum Reaktion auslöst. Im „Welt“-Interview beschreibt Schneider diese Spannweite so: „Beide (Lehrkräfte, d. Red.) schilderten, wie wenig sich die Eltern für die schulischen Belange ihrer Kinder interessieren. Diese Eltern seien so stark mit sich selbst beschäftigt, dass sie keine Zeit, keine Energie oder keine Motivation aufbringen, sich um ihre Kinder zu kümmern, die nicht mal eine Frühstücksbox in die Schule mitbekommen.“ Kitas und Schulen sehen sich also gleichzeitig mit Überfürsorge und Vernachlässigung konfrontiert – und sollen beides ausgleichen.

„Wir nehmen ihnen zu viel ab, tragen den Schulranzen, erledigen ihre Hausaufgaben. Das kann negative Folgen hervorrufen“

Im Zentrum steht die Frage, ob Kinder vor Frustration, Kritik oder Misserfolg geschützt werden sollten – oder eben nicht. Schneider und Bellinger beschreiben, wie sich eine neue Pädagogik der allgegenwärtigen Bestätigung etabliert. „‚Ihr alle seid prima‘, wird Kindern häufig durch die Erwachsenenwelt vermittelt“, heißt es im Text. Eine Mutter berichtet im Interview mit den Autoren, dass die Vierjährigen in der Kita täglich mit Inbrunst ein Lied singen: „Wir sind super, wir sind Helden …“. Sie fragt sich, was das mit den Kindern macht. Die Autorin und der Autor spitzen zu: Wie viele Helden verträgt eine Gemeinschaft? Was macht exzessive Bewunderung mit einem Kind, das nie erlebt, dass andere etwas besser können – oder dass es selbst an Grenzen stößt?

Für Kitas und Schulen ist das eine zentrale Frage der Feedbackkultur. Geht es darum, jedes Kind permanent zu ermutigen – oder gehört es zur professionellen Aufgabe, auch deutlich zu sagen, wenn etwas nicht gelungen ist? Schneider betont im Gespräch mit der „Welt“, dass genau diese Erfahrungen für die psychische Gesundheit entscheidend sind: „Unsere grundsätzliche Einschätzung: Wir räumen den Kindern zu wenig Freiräume und Entfaltungsmöglichkeiten ein. Wir nehmen ihnen zu viel ab, tragen den Schulranzen, erledigen ihre Hausaufgaben. Das kann negative Folgen hervorrufen. Wenn wir es unter dem Stichwort Überbehütung zusammenfassen, birgt diese ein hohes Risiko für eine geringere Motivation der Kinder, irgendetwas selbst zu tun. Hinzu kommen höhere Risiken für die psychische Gesundheit und die Lebenszufriedenheit. Wir reden hier von der ‚erlernten Hilflosigkeit‘, die oft einhergeht mit einem höheren Risiko für depressive Verstimmungen und Angststörungen.“

Was das im pädagogischen Alltag bedeutet, illustriert Schneider mit einer typischen Szene aus dem Kindergarten: Zwei Kinder, drei und vier Jahre alt, streiten im Sandkasten um die gelbe Schaufel – obwohl noch vier andere danebenliegen. Die Mütter sitzen daneben und versuchen, den Konflikt für die Kinder zu klären. Aus Sicht der Autorinnen und Autoren ist das ein Fehler: „Die Kinder müssen selbst darauf kommen, wie man mit dieser Situation klarkommt. Das ist Befähigung.“ Für Eltern, Erzieher*innen und Lehrkräfte lautet die Botschaft: Nicht jede Auseinandersetzung muss moderiert werden, nicht jedes Problem braucht sofortige Erwachsenenhilfe. Gerade in der Kita werden Grundlagen gelegt für das, was Kinder später in der Schule an sozialer Kompetenz mitbringen.

In einem Interview mit der „Zeit“ analysiert Schneider die dahinterliegenden Bilder vom Mutter- und Vatersein. „Elternschaft wird mit immer mehr Erwartungen aufgeladen – von der Gesellschaft, von Kitas und Schulen, aber auch von Müttern und Vätern selbst“, sagt Schneider dort. „Doch wenn man unerreichbare Standards an die Kindererziehung anlegt, kann das nur zu Überforderung und Verunsicherung führen.“ Gleichzeitig habe sich die Erwartung etabliert, dass Eltern die kindlichen Bedürfnisse „zu jedem Zeitpunkt entwicklungsgemäß begleiten“ müssten – mit dem Effekt einer „Semiprofessionalisierung und Semipädagogisierung“ von Eltern, die mit Intuition wenig zu tun habe.

Eine der schärfsten Passagen in diesem Interview betrifft das, was Schneider als „Servicementalität“ vieler Mütter und Väter bezeichnet – eine Haltung, die Erzieherinnen, Erzieher und Lehrkräfte aus Elternabenden und Entwicklungsgesprächen gut kennen. Zur Verdeutlichung verweist Schneider auf ein Gespräch mit einer Psychiaterin aus seiner Interviewreihe: Wenn ein Kind Tee trinken solle, erklärte sie, sollten Eltern nicht fragen, ob es überhaupt Tee wolle, sondern lediglich, aus welcher Tasse es ihn trinken möchte. Die Grundentscheidung treffe der Erwachsene – das Kind wähle innerhalb eines klaren Rahmens.

„Ich muss Ziele und Regeln formulieren, muss deren Einhaltung kontrollieren und Sanktionen aussprechen“

Viele Eltern, so Schneider weiter, überforderten sich jedoch selbst, indem sie jede Grundsatzentscheidung dem Kind überließen und mehrere völlig unterschiedliche Optionen eröffneten: „Möchtest du Tee, Apfelsaftschorle oder doch lieber Kakao? Hast du jetzt schon Hunger oder willst du lieber später essen?“ Solche Fragen seien, so Schneider, Ausdruck einer „Führungsschwäche“ – weil sie Kinder mit Entscheidungen überfrachten, die eigentlich Erwachsene treffen sollten, und zugleich die Eltern selbst unter Druck setzen.

Schneider betont: Eltern müssten akzeptieren, dass sie einen Wissens- und Erfahrungsvorsprung gegenüber ihrem Kind haben, und daraus klare Entscheidungen ableiten. Im „Welt“-Gespräch formuliert er das so: „Das heißt, ich muss Ziele und Regeln formulieren, muss deren Einhaltung kontrollieren und Sanktionen aussprechen, wenn sie massiv verletzt werden. Das ist wichtig für die Kinder und ihre Entwicklung, ebenso wie für die Eltern.“

Gleichzeitig wendet sich der Soziologe deutlich gegen ein pauschales Schwarz-Weiß-Bild, das im öffentlichen Diskurs über Elternschaft und Kindheit verbreitet ist. „Die aktuelle soziale Konstruktion von Kindern lautet: verletzlich, schutzbedürftig und bedroht“, sagt er gegenüber der „Welt“. „Folgt man dem Forschungsstand der Pädagogik, Psychologie und Soziologie, konnten Kinder noch nie so zufrieden, so gesund und so behütet aufwachsen wie heute.“ Und in der „Zeit“ unterstreicht er: „Kinder werden als schutzbedürftig, verletzlich und bedroht wahrgenommen. Das widerspricht der empirischen Datenlage: Nie konnten Kinder so gesund und sicher in Deutschland aufwachsen wie heute.“ Für Schulen heißt das: Die reale Lage vieler Kinder ist deutlich besser als die Krisenrhetorik vermuten lässt – das Problem liegt eher im Umgang mit dieser komfortablen Situation.

Damit rückt eine andere Ebene in den Fokus: die Rolle der Institutionen selbst. Schneider, über viele Jahre ein prominenter Befürworter des Ausbaus öffentlicher Kinderbetreuung, warnt im „Zeit“-Interview vor einem Missverständnis: „Öffentliche Kinderbetreuung kann Eltern unterstützen, sie kann Eltern entlasten, aber sie kann ihnen niemals die Hauptverantwortlichkeit für ihr Kind abnehmen.“ In der Praxis erleben Kitas und Schulen aktuell jedoch häufig das Gegenteil: Eltern erwarten „Qualität auf Klinikniveau“, also verlässliche Betreuung und Versorgung in jeder Lage – und machen Träger oder Lehrkräfte verantwortlich, wenn der Betrieb angesichts Personalmangels, Krankheit oder Sanierungsstau ins Stocken gerät. Aus pädagogischer Sicht verschärft dieser Vertrauensschwund die Tendenz zur Überkontrolle: Wenn Eltern der Einrichtung nicht trauen, kontrollieren sie umso mehr – Hausaufgaben, Eltern-Chatgruppen, tägliche Rückmeldungen aus der Kita.

Was folgt daraus für den pädagogischen Alltag? Schneider und Bellinger propagieren kein Zurück zu autoritären Erziehungskonzepten, sondern ein „sturdy parenting“, eine robuste, stabile Elternschaft, die klar zwischen den Bedürfnissen der Kinder und den eigenen Wünschen unterscheidet, Grenzen setzt und Frustration aushält. Schneider beschreibt im „Welt“-Interview eine typische Szene: „Eltern nehmen die Gefühle und Wünsche der Kinder wahr und bestätigen sie. Das klingt in etwa so: ‚Ich weiß, du hättest gern ein Eis und bist enttäuscht, wenn du keins bekommst; ich möchte auch manchmal ein Eis und kaufe es mir nicht.‘“ Übertragen auf Schule könnte das heißen: Die Enttäuschung über eine Note wird ernst genommen – aber die fachlichen Anforderungen werden nicht abgesenkt.

Am Ende geht es – gerade mit Blick auf Kita und Schule – um eine kulturelle Verschiebung: weg von der ständigen Sorge, etwas könne „zu viel“ sein, hin zu einem pädagogisch verantworteten „Wir trauen euch das zu“. Schneider bringt das in der „Zeit“ auf eine knappe Formel: „Eltern sollten wieder mehr Gelassenheit wagen und mehr Zutrauen entwickeln, in die eigenen Kompetenzen und die ihrer Kinder.“ In einem Bild, das er dort beschreibt, sitzen ein paar Erwachsene am Rand eines Gartens, in dem acht Kinder frei spielen, streiten und sich wieder vertragen. Nur gelegentlich mischen sich die Erwachsenen ein.

Genau solche Räume brauche es auch in Kitas und Schulen – im Gruppenraum, auf dem Pausenhof, im Klassenrat. Räume, in denen Kinder nicht permanent überbehütet, aber auch nicht allein gelassen werden. In denen sie üben dürfen, Konflikte auszutragen, Niederlagen zu verkraften, Verantwortung zu übernehmen. Und in denen pädagogische Fachkräfte an der Seite von Eltern stehen – nicht als Dienstleister, die jedes Problem ausräumen, sondern als Profis, die Kindern zumuten, woran sie wachsen können. News4teachers 

Studie: Zwei Drittel der Eltern wollen „beste Freunde“ ihrer Kinder sein – wie geht das mit dem Leistungsanspruch der Schule zusammen?

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