BERLIN. Die Wirtschaft schlägt Alarm: Schulabgänger beherrschen grundlegende Kulturtechniken immer schlechter – allen voran die Rechtschreibung. Daten aus dem IQB-Bildungstrend bestätigen den Befund: Die Deutschleistungen der Neuntklässler sind seit 2015 massiv eingebrochen. Besonders die Orthografie zeigt dramatische Rückgänge. Was steckt dahinter? In einer Serie auf News4teachers unternehmen wir einen Faktencheck – und beleuchten die Hintergründe.

Die Diagnose klingt vertraut: Laut einer aktuellen Umfrage der Industrie- und Handelskammer (IHK) Reutlingen beklagen Betriebe die mangelnde Ausbildungsreife vieler Schulabgänger. Es fehle an fachlichen Grundlagen und an persönlichen Fähigkeiten. Rund 3.000 Betriebe hat die Kammer angeschrieben, etwa 300 haben geantwortet. Fast alle geben an, dass sie bei Abgängern aller allgemeinbildenden Schularten vor allem Selbständigkeit, Durchhaltevermögen und Motivation vermissen. Manche wünschen sich zudem mehr Kritikfähigkeit, Eigenverantwortung und Belastbarkeit.
Doch es geht nicht nur um „Soft Skills“. Bei den Hauptfächern Mathe und Deutsch, aber auch bei Englisch und Informatik zeigt die Umfrage, dass viele Unternehmen unzufrieden sind. Besonders alarmierend wird es, wenn es um elementare Kulturtechniken geht. IHK-Präsident Johannes Schwörer sagt: „Unseren Schulabgängern fehlt es teilweise an grundlegenden Fertigkeiten wie Rechnen ohne Taschenrechner oder Rechtschreibung ohne digitale Unterstützung.“ Gerade die Rechtschreibung wird also als etwas wahrgenommen, das ohne Korrekturfunktion von Smartphone und PC für viele Jugendliche zur Herausforderung geworden ist.
Aber stimmt das Bild eines allgemeinen Rechtschreib- und Sprachverfalls wirklich? Oder ist die Lage komplizierter, als es der empörte Satz des Kammerpräsidenten nahelegt? Der letzte große wissenschaftliche Befund hilft bei der Einordnung: der IQB-Bildungstrend 2022, der für die Neuntklässlerinnen und Neuntklässler in Deutschland deutliche Kompetenzrückgänge im Fach Deutsch – insbesondere in der Orthografie – konstatiert.
Deutschkompetenzen im Sinkflug – vor allem in der Rechtschreibung
Der IQB-Bildungstrend 2022 ist die derzeit umfassendste Datengrundlage zu den Deutschkompetenzen der Neuntklässler. Getestet wurde zwischen April und Juli 2022 – also „gegen Ende der Corona-Pandemie“, wie das Institut betont, in einer Phase, in der Schulschließungen, Distanz- und Wechselunterricht den regulären Unterricht „nahezu zwei Jahre massiv beeinträchtigt“ hatten. Die Studie kommt zu einem klaren – und ernüchternden – Befund: „Das Kompetenzniveau der Neuntklässlerinnen und Neuntklässler im Fach Deutsch ist zwischen 2015 und 2022 deutlich gesunken.“
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Besonders drastisch fällt der Rückgang bei Jugendlichen aus sozioökonomisch schwächeren Familien und bei Jugendlichen mit Zuwanderungshintergrund aus. Die Studie hält fest, „dass der Anteil der Jugendlichen, die im Jahr 2022 – und damit nach den beiden großen Zuwanderungs- und Flüchtlingswellen ab 2015 – im Fach Deutsch im Lesen, Zuhören und in der Orthografie jeweils den Mindeststandard für den Ersten Schulabschluss (ESA) bzw. den Mittleren Schulabschluss (MSA) verfehlen, gestiegen“ ist. Insbesondere im Verstehen gesprochener Sprache sei das Kompetenzniveau deutlich zurückgegangen.
Zahlen gibt es reichlich – und sie zeigen, dass die Rechtschreibung tatsächlich kein Randproblem ist. Für die Schülerinnen und Schüler, die den Mittleren Schulabschluss anstreben, heißt es im IQB-Bericht: „Im Fach Deutsch erreichen oder übertreffen 49 Prozent der Neuntklässlerinnen und Neuntklässler, die den Mittleren Schulabschluss (MSA) anstreben, den Regelstandard im Lesen für diesen Schulabschluss. Im Zuhören sind es 53 Prozent und in Orthografie 65 Prozent. Das bedeutet gegenüber dem Vergleichsjahr 2015 im Lesen einen signifikanten Rückgang um 9 Prozentpunkte, im Zuhören um 19 Prozentpunkte und in Orthografie um 12 Prozentpunkte.“ Das heißt: In dieser vergleichsweise leistungsstärkeren Gruppe verfehlt zwar nur ein kleinerer Teil den Regelstandard – aber in der Rechtschreibung immerhin rund 35 Prozent.

Noch kritischer fällt der Blick aus, wenn man alle Neuntklässlerinnen und Neuntklässler zusammen betrachtet und nicht auf den angestrebten Abschluss, sondern auf die Mindeststandards schaut. Zunächst geht es um die Mindeststandards für den Ersten Schulabschluss (ESA). Hier hält die Studie fest: „Im Fach Deutsch verfehlen etwa 15 Prozent der Neuntklässlerinnen und Neuntklässler die Mindeststandards für den ESA im Bereich Lesen, fast 18 Prozent im Bereich Zuhören und rund 8 Prozent im Bereich Orthografie.“
Legt man dagegen den Maßstab „Mindeststandard für den Mittleren Schulabschluss (MSA)“ an, steigen die problematischen Anteile nochmal deutlich. Für die Gesamtgruppe aller Neuntklässlerinnen und Neuntklässler gilt: „Die Mindeststandards für den MSA werden in der Gesamtgruppe aller Neuntklässlerinnen und Neuntklässler im Fach Deutsch im Lesen von 33 Prozent der Jugendlichen noch nicht erreicht. Im Zuhören sind es 34 Prozent, in Orthografie sind es 22 Prozent.“ Wichtig ist dabei: Getestet wurde in der 9. Jahrgangsstufe – also mehr als ein Jahr vor dem eigentlichen MSA-Abschluss. Ein Teil der Jugendlichen hat den Zielstandard zum Testzeitpunkt schlicht noch nicht erreicht. Ob sich in dieser Zeit die Rechtschreibleistungen verbessern, ist aber fraglich: Eine gezielte individuelle Förderung der Orthografie-Leistungen findet ja in der Regel dann nicht mehr statt.
Auch an der Richtung der Entwicklung ändert das nichts: Sowohl bei den Regelstandards der MSA-Anstrebenden als auch bei den Mindeststandards für ESA und MSA zeigt sich eine klare Verschlechterung gegenüber 2015.
Die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten sind in diesen Gesamtdaten enthalten, werden im IQB-Bericht aber gesondert betrachtet – und auch hier ist der Trend deutlich negativ. „Für die Neuntklässler:innen, die ein Gymnasium besuchen, ergeben die auf Kompetenzmittelwerte bezogenen Trendanalysen ein ähnliches Ergebnismuster wie für die Gesamtpopulation der Neuntklässler:innen. Im Fach Deutsch erreichen Neuntklässler:innen an Gymnasien im Jahr 2022 bundesweit ein signifikant geringeres Kompetenzniveau als im Jahr 2015. Mit 13 Punkten im Lesen, 32 Punkten im Zuhören und 18 Punkten in der Orthografie ist der Rückgang an Gymnasien zwar geringer ausgeprägt als in der Gesamtpopulation der Neuntklässler:innen, aber ebenfalls substanziell.“
Übersetzt: Das Leistungsniveau an Gymnasien liegt weiterhin über dem der anderen Schularten – aber auch hier geht es in Deutsch insgesamt und in der Rechtschreibung spürbar nach unten.
Das Deutsche Schulportal fasst die Befunde für die Länder so zusammen: „Bundesweit verfehlen 22,3 Prozent der Schülerinnen und Schüler des 9. Jahrgangs im Bereich Orthografie den Mindeststandard für den MSA (ESA 7,9 Prozent). Auch hier ist der Anteil in Bremen mit 35,7 Prozent am höchsten, gefolgt von Nordrhein-Westfalen (29,1 Prozent) und Berlin (26,4 Prozent). Am niedrigsten ist der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die den Mindeststandard verfehlen, in Bayern (17 Prozent), Sachsen (18,3 Prozent) und Sachsen-Anhalt (18,6 Prozent). Den Optimalstandard erreichen bundesweit 7,2 Prozent.“
Die Entwicklung ist nicht nur in Anteilen, sondern auch in Kompetenzpunkten erheblich. Das IQB setzt die Ergebnisse von 2015 auf einen Mittelwert von 500 Punkten. Für 2022 heißt es dann: „Setzt man die Kompetenzwerte des Vergleichsjahres 2015 jeweils auf einen Mittelwert von 500 Punkten und eine Streuung (Standardabweichung) von 100 Punkten, verlieren die Neuntklässlerinnen und Neuntklässler im Jahr 2022 gegenüber dem Vergleichsjahr 2015 bundesweit betrachtet im Fach Deutsch im Lesen im Schnitt 25 Kompetenzpunkte, im Zuhören 44 Punkte und in Orthografie 31 Punkte. Dies sind statistisch signifikante und im Umfang erhebliche Kompetenzrückgänge im Fach Deutsch.“
„In der Orthografie haben sich die Kompetenzmittelwerte in allen Ländern zwischen den Jahren 2015 und 2022 signifikant verringert“
Gerade in der Orthografie ist der Rückgang flächendeckend. „Auch im Kompetenzbereich Orthografie sind, wie im Lesen und im Zuhören, zwischen den Jahren 2015 und 2022 signifikante Kompetenzeinbußen in Deutschland insgesamt festzustellen“, heißt es. Die Differenz beträgt in diesem Kompetenzbereich 31 Punkte. „In der Orthografie haben sich die Kompetenzmittelwerte in allen Ländern zwischen den Jahren 2015 und 2022 signifikant verringert.“ In der Länderauswertung wird deutlich, dass die Niveaus sehr unterschiedlich sind: Bayern fällt von 525 auf 494 Punkte (Minus 30), Sachsen von 507 auf 485 (Minus 22) – Nordrhein-Westfalen von 484 auf 447 (Minus 37, niedrigstes Niveau aller Flächenländer, nur Bremen liegt noch darunter).
Hinzu kommt: Die Streuung der Kompetenzwerte ist größer geworden. Der Bericht stellt fest: „Die Streuung der Kompetenzwerte ist im Bereich Orthografie in Deutschland insgesamt im Zeitraum 2015–2022 um 17 Punkte angestiegen. (…) In fast allen Ländern hat sich die Streuung der Kompetenzwerte ebenfalls signifikant erhöht.“ Mit anderen Worten: Die Unterschiede zwischen starken und schwachen Schülerinnen und Schülern sind gewachsen.
Rechtschreibprobleme sind also kein bloßes Bauchgefühl von Ausbilderinnen und Ausbildern. Sie sind mit Blick auf die Orthografie empirisch gut belegt. Kurz gesagt: Die IQB-Daten stützen die Wahrnehmung, dass formale sprachliche Kompetenzen – insbesondere in der Rechtschreibung – spürbar nachgelassen haben. Sie belegen aber auch eine wachsende Spreizung und starke soziale Unterschiede. News4teachers
Der zweite Teil der Serie erscheint morgen auf News4teachers.









Wer (gut) lesen kann, ist (halt immer noch) klar im Vorteil! Eben auch oder besonders was die Rechtschreibung betrifft!
Ach, die Wirtschaft klagt über Orthografie-Defizite bei Schulabgängern? Wie rührend. Hey, in den von mir unterrichteten Populationen der Neuntklässler zeigen etwa seit 2005 Fachsprache (Fachbegriffe kann der Lehrer überhaupt nicht mehr lesen), chemische Zeichensprache, logisch-abstraktes Denken, Motivation, Belastbarkeit sowie die Fähigkeit zu realistischer Selbstreflexion und Selbstkritik kontinuierliche Rückgänge – mit zunehmender flächendeckender Stetig- und Verlässlichkeit.
Das Zuhören und Konzentrieren auf komplexe Inhalte des Unterrichts? Geht gar nicht mehr. Textverständnis bei Fachtexten in Lehrbüchern? Gaaaanz schwierig. Biologische und chemische Fachbegriffe werden inzwischen so verstümmelt, dass sich ihr fachlicher Sinn ins Gegenteil verkehrt – eine Art semantische Selbstzerstörung im Klassenzimmer. Hintergrund- und Definitionswissen ist praktisch nicht mehr existent, sodass jeder Fachbegriff, den Schüler schon nicht richtig schreiben können, auch inhaltlich nur noch eine leere Worthülse bleibt.
Aber keine Sorge: Die IQB-Bildungsstandards, welche die ehemals wissenschaftspropädeutischen Lehrpläne weichspülten, haben zuverlässig gewirkt. Also bitte weiter bestellen – wir liefern bis zum Ausverkauf ernsthafter fachlicher Bildung. Danach gibt’s nur noch die Restposten: PowerPoint-Kompetenz, „Teamfähigkeit“ und die Fähigkeit, sich selbst für hochbegabt zu halten.
Auch die Wissenschaft hat zu klagen – über die Defizite der Abiturienten.
Wer hätte ahnen können, dass die Rechtschreibkünste nachlassen, wenn man Rechtschreibung nicht mehr unterrichtet? Zum Glück gibt es die Wissenschaft.