KONSTANZ. Jugendliche mit Migrationsgeschichte fühlen sich beim Übergang auf die weiterführende Schule besonders häufig zu niedrig eingestuft und ungerecht behandelt – selbst dann, wenn ihre Leistungen durchschnittlich sind. Ein neues Policy Paper des Exzellenzclusters „The Politics of Inequality“ zeigt, wie Informationsdefizite, Schulstigmatisierung und hohe elterliche Erwartungen dieses Gefühl befeuern – und warum mehr Transparenz und mehrsprachige Beratung nötig wären, um fairere Chancen und realistische Bildungswege zu ermöglichen.
Ein wichtiger Moment für viele Familien ist die Entscheidung, auf welche weiterführende Schule Kinder nach der Grundschule gehen. Diese Schulart entscheidet häufig über spätere Qualifikationen, Anschlussmöglichkeiten und Berufsbiografien. Zugleich bestehen deutliche Unterschiede darin, wie Schüler*innen diesen Übergang bewerten. Besonders Jugendliche mit Migrationsgeschichte nehmen ihre Einstufung häufig als zu niedrig wahr – auch unabhängig von ihren tatsächlichen Leistungen. Das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, kann wiederum die Lern- und Leistungsmotivation negativ beeinflussen und dadurch soziale Ungleichheiten verstärken. Das zeigt ein neues Policy Paper des Exzellenzclusters „The Politics of Inequality“ an der Universität Konstanz.
Basierend auf einer Umfrage mit über 3.000 Schülerinnen aus drei deutschen Bundesländern wird deutlich: Knapp 25 Prozent der Befragten mit Migrationsgeschichte sind der Ansicht, eigentlich auf einen höheren Schulzweig zu gehören, während das unter Jugendlichen ohne Migrationsgeschichte nur jeder Zehnte so sieht. Claudia Diehl, Professorin für Mikrosoziologie an der Universität Konstanz und Co-Sprecherin des Exzellenzclusters, erläutert: „Wir sehen, dass das Gefühl auf einen höheren Schulzweig zu gehören, unter Jugendlichen mit Migrationsgeschichte selbst bei denjenigen ausgeprägt ist, deren eigene schulische Leistungen eher durchschnittlich ausfallen.“
„Das Gefühl, unfairerweise auf einem zu niedrigen Schulzweig gelandet zu sein, ist gerade unter Hauptschüler*innen verbreitet“
Besonders ausgeprägt sind Unfairnesswahrnehmungen an Hauptschulen – einer stigmatisierten Schulform: „Das Gefühl, unfairerweise auf einem zu niedrigen Schulzweig gelandet zu sein, ist gerade unter Hauptschüler*innen verbreitet. Dort sind schulische Frustrationen und der Eindruck vorherrschend, vom Bildungserfolg dauerhaft ausgeschlossen zu sein“, so Katja Pomianowicz, Postdoktorandin am Exzellenzcluster und Ko-Autorin des Papers. Jugendliche mit Migrationsgeschichte sind von dieser Dynamik besonders betroffen, weil sie überproportional häufig eine Hauptschule besuchen. „Angesichts der Diskriminierungserfahrungen, die viele Schülerinnen und Schüler mit Migrationsgeschichte im Laufe ihrer Bildungskarriere machen, liegt eine solche Interpretation ihres schulischen Misserfolgs durchaus nahe – selbst dann, wenn im konkreten Fall keine Ungleichbehandlung vorliegt.“
Aber auch vergleichsweise höhere Bildungserwartungen zugewanderter Eltern prägen die Wahrnehmungen ihrer Kinder. Dass zugewanderte Eltern für ihre Kinder besonders hohe Bildungserwartungen haben, ist ein gut gesicherter Befund der empirischen Bildungsforschung. Zugewanderten Eltern ist meist sehr wichtig, dass es ihre Kinder „einmal besser haben“ und studieren, bevorzugt prestigeträchtige Fächer wie etwa Jura oder Medizin. Dies gilt in Deutschland besonders für die Gruppe der Türkeistämmigen – und zwar unabhängig vom Geschlecht der Kinder.
Diese hohen „Bildungsaspirationen“ sind darauf zurückzuführen, dass Einwanderer häufig besonders ehrgeizig und anstrengungsbereit sind. Gleichzeitig mussten sie selbst durch die Migration häufig einen Statusverlust hinnehmen – etwa, weil ihre Abschlüsse im Zielland nicht anerkannt wurden, oder weil sie im Herkunftsland nicht die Gelegenheit hatten, einen höheren Bildungsabschluss zu erwerben. Im Hinblick auf diese hohen Aspirationen unterscheiden sich Eltern deutschstämmiger und zugewanderter Kinder erheblich. Nur 28 Prozent der Eltern deutschstämmiger Nicht-Gymnasiasten geben an, dass ihr Kind einmal Abitur machen soll. Bei Kindern mit Migrationsgeschichte wünschen sich dies 54 Prozent der Eltern.
„Wenn Schüler*innen überzeugt sind, ungerecht behandelt worden zu sein, kann dies ihre Lern- und Leistungsbereitschaft beeinträchtigen“
Wenn der schulische Erfolg hinter den familiären Erwartungen zurückbleibt, wird ein ausbleibender Aufstieg häufiger als ungerecht wahrgenommen. Thomas Hinz, Professor für Empirische Umfrageforschung und Mitglied des Exzellenzclusters, ergänzt: „Wenn Schüler*innen überzeugt sind, ungerecht behandelt worden zu sein, kann dies ihre Lern- und Leistungsbereitschaft beeinträchtigen. Wer das Gefühl hat, trotz eigener Bemühungen keine fairen Chancen zu erhalten, investiert häufig weniger in schulische Aufgaben, verliert Vertrauen in schulische Entscheidungen und sieht weniger Perspektiven für den eigenen Bildungsaufstieg“.
Aus den Ergebnissen leiten die Forschenden klare Handlungsempfehlungen für Schule und Bildungspolitik ab. Um Jugendliche mit und ohne Migrationsgeschichte sowie deren Eltern besser zu unterstützen, müsse bereits in der Grundschule offen kommuniziert werden, welche Kompetenzen für den Übergang auf das Gymnasium ausschlaggebend sind. Mehrsprachige Informationsmaterialien, transparente Erläuterungen von Übergangsempfehlungen und verpflichtende Beratungsgespräche zwischen Grund- und weiterführenden Schulen könnten dazu beitragen, realistische und zugleich ambitionierte Bildungswege zu eröffnen – selbst dann, wenn der direkte Übergang aufs Gymnasium zunächst nicht gelingt. News4teachers
Hier geht es zum vollständigen Policy Paper.
