BONN. Wie müssen Schulen gebaut sein, damit sie Kinder und Jugendliche bestmöglich auf die Lebens- und Arbeitswelt von heute und morgen vorbereiten? Mit dieser Frage beschäftigen sich Barbara Pampe und Dr. Meike Kricke, Vorständinnen der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft. Unter dem Leitbegriff Pädagogische Architektur treibt die Stiftung seit Jahren den Wandel im Schulbau voran – weg von Fluren und Klassenzimmern nach Schema F, hin zu offenen, flexiblen Räumen, die Ganztag, Inklusion und zeitgemäße Pädagogik ermöglichen. Wir sprachen mit den Expertinnen zum Auftakt des News4teachers Themenmonats „Schulbau & Schulausstattung“.

News4teachers: Frau Pampe, Sie sind Architektin. Wenn Sie sich ein gewöhnliches Schulgebäude anschauen – was denken Sie dabei?
Barbara Pampe: Dass es in der heutigen Zeit kein Lebens- und Lernort ist.
News4teachers: Warum nicht?
Barbara Pampe: Diese Gebäude sind für ein bestimmtes pädagogisches Setting der frontalen Wissensvermittlung konzipiert – und dieses Setting allein entspricht nicht mehr dem heutigen Auftrag von Schule. Wenn Schule Kinder und Jugendliche auf die Welt von morgen vorbereiten soll, passen diese Bauten so nicht mehr.
Die klassische Schule ist geprägt von Klassenzimmern, Fluren und Treppenhäusern. Alles ist darauf ausgelegt, Frontalunterricht optimal zu ermöglichen. Klassenzimmer sind so gestaltet, dass bis zu 30 Schüler*innen an Tischen sitzen können. Fenster sind meistens so gesetzt, dass beim Schreiben kein Schatten aufs Papier fällt. Neben der Tür gibt es Waschbecken, damit man Tafel und Hände reinigen kann.
Die Abstände im Raum sind so berechnet, dass alle gut an die Tafel sehen und die Lehrkraft hören können. Auch die Flure sind so dimensioniert, dass alle gleichzeitig die Klassenräume betreten und wieder verlassen können – so reicht eine Viertelstunde Pause für den Wechsel. Die Architektur war bzw. ist also exakt auf dieses Lernsetting aus dem 19. Jahrhundert abgestimmt.
Heute aber zeigen Empfehlungen wie z.B. das aktuelle Papier zu einer veränderten Lern- und Prüfungskultur von Expert*innen aus Schul-/Kultusministerien, Landesinstituten und aus der Bildungsforschung, die KMK-Richtlinien für den Ganztag, der OECD Learning Compass, aber auch die pädagogische Praxis an vielen Orten ein völlig anderes Bild: Kinder und Jugendliche lernen den ganzen Tag über in verschiedenen Konstellationen, sie arbeiten alleine oder zusammen, toben, essen, musizieren, spielen Theater, präsentieren, nutzen Rückzugsmöglichkeiten. Wenn ich das als Architektin in Raum übersetze, entsteht etwas völlig anderes als das, was wir in klassischen Schulen sehen.
Hinzu kommt: Qualitativ hochwertige Bildung braucht auch Räume für das (multiprofessionelle) Team: Lehrkräfte, Sozialpädagoginnen, Psychologinnen, Therapeutinnen und Erzieherinnen. Kurz gesagt: Die Heterogenität – der Menschen wie auch der Angebote – fehlt in den traditionellen, am 19. Jahrhundert orientierten Gebäuden.
“Wir wollen zeigen, dass Raum enormes Potenzial entfaltet, wenn man ihn mit zukunftsgerichteter Pädagogik verbindet – und beides zusammen entwickelt”
News4teachers: Ist das also ein Problem alter Schulbauten, etwa der Gebäude aus den 60er- oder 70er-Jahren? Oder gilt das auch für Neubauten?
Barbara Pampe: Man kann das nicht am Baujahr festmachen. Schon früher gab es Strömungen, die andere pädagogische Ansätze vertraten – und dafür auch andere Gebäude geplant und gebaut haben. Heute ist es so: Viele Kommunen haben verstanden, dass Ganztag, Inklusion, Digitalität und somit neue Lernformen andere Räume erfordern. Manche haben eigene Standards entwickelt, andere setzen auf eine sogenannte „Phase Null“ – eine Entwicklungsphase, in der zunächst geklärt wird, welche Aktivitäten zukünftig in Schule stattfinden und was der konkrete Standort auch unter Einbezug des Quartiers braucht.
Aber es gibt auch Kommunen, die diesen Weg noch nicht gehen – aus Ressourcenmangel, aufgrund von veralteten Vorgaben oder aus mangelndem Bewusstsein dafür, dass Schule sich verändern muss, weil sich auch unsere Lebens- und Arbeitswelt verändert hat. Deshalb werden weiterhin klassische Schulen gebaut. Gleichzeitig stellt sich die Frage: Wie können wir bestehende Gebäude im Zuge von Sanierungen so umbauen, dass sie heutigen Ansprüchen entsprechen?
News4teachers: Wie sieht diese Phase Null konkret aus?
Barbara Pampe: In der Phase Null geht es nicht darum, die Schule zu fragen: „Was wollt ihr?“ Es geht darum, alle Akteure einzubeziehen, um die Anforderungen bestmöglich zu erfassen, abzuwägen und zu definieren: Schulgemeinschaft, Schulaufsicht, Kommune, Politik, Finanzverwaltung, Umwelt- und Verkehrsplanung, Stadtentwicklung, das Quartier. Man schaut dabei auch, welche Ressourcen geteilt werden können – etwa Sporthallen, Bibliotheken oder Werkstätten. Nur in so einem Verhandlungsprozess entsteht ein tragfähiges pädagogisch-räumliches Konzept.
News4teachers: Also gibt es die „ideale Schule“, die überall stehen könnte, gar nicht?
Barbara Pampe: Nein.
News4teachers: Frau Dr. Kricke, Sie haben Lehramt studiert. Aus pädagogischer Sicht: Ist Lehrkräften bewusst, welche Bedeutung der Raum hat, in dem gelernt wird?
Meike Kricke: Meiner Einschätzung nach nicht genug. In meiner Ausbildung gab es dazu kaum Sensibilisierung oder Austausch. Wenn überhaupt, dann eher zufällig. Überblicke ich es richtig, gibt es bisher kein institutionalisiertes Angebot zur Wechselwirkung von Pädagogik und Raum.
Das ist schade. Denn wenn wir immer mehr unterschiedliche Schulgebäude haben, stellt sich die Frage: Wie kann ich – wie können wir im Team mit den Lernenden – diese pädagogisch sinnvoll nutzen? Es reicht nicht, einfach in eine Lernlandschaft oder ein Cluster einzuziehen. Wichtig ist die Reflexion: Welche (zusätzlichen) Optionen bietet mir der Raum für meine pädagogische Herangehensweise? Wie lassen sich Didaktik, Organisation und Raum zusammendenken?
Das sollte im Team reflektiert werden – multiprofessionell, etwa mit Partner*innen aus der Jugendhilfe, und auch mit den Schülerinnen und Schülern: Sie haben in der Regel selbst eine sehr gute Vorstellung davon, wo und wie sie gut lernen.
Bisher geschieht das kaum systematisch. Deshalb haben wir erste Pilotprojekte gestartet: Studierende aus dem Lehramt, den Sozialwissenschaften und der Architektur arbeiten früh in ihrer Ausbildung zusammen. So wollen wir zeigen, dass Raum enormes Potenzial entfaltet, wenn man ihn mit zukunftsgerichteter Pädagogik verbindet – und beides zusammen entwickelt.
Die Hochschulen selbst sehen oft nicht besser aus als Schulen – auch dort fehlt das Bewusstsein. Im Ausland gibt es bessere Beispiele: In Dänemark oder Finnland ist die Ausbildung von Pädagoginnen und Pädagogen vielerorts darauf ausgerichtet, dass sie räumliche Erfahrungen mit neuen didaktischen Ansätzen verbinden.
Wir alle waren selbst Schüler*innen. Die meisten kennen vordergründig klassische Pädagogik und die dazu viablen typischen Klassenzimmer. Vielleicht hatten manche das Glück, auf eine reformpädagogische Schule zu gehen. Aber die Verbindung von Pädagogik, Didaktik, Organisation und Raum in einem Gesamtkonzept – das ist bis heute selten als Ausbildungsmodul.
“Wir dürfen es nicht bei reinen Reparaturen und kosmetischen Maßnahmen belassen – bunte Farben oder neues Mobiliar”
News4teachers: Im Moment kommt viel Geld auf die Schulträger zu.
Meike Kricke: Ja, und das ist sehr positiv, aber auch überfällig: mit 67,8 Mrd. Euro ist der Investitionsstau bei Schulgebäuden wieder einmal mit Abstand der höchste in Deutschland. Wichtig ist jetzt: Wir dürfen es nicht bei reinen Reparaturen und kosmetischen Maßnahmen belassen – bunte Farben oder neues Mobiliar. Es braucht kluge, auch einfache Lösungen, die fast überall umsetzbar sind und die die pädagogischen Optionen direkt erweitern: mehr Transparenz, neue Brandschutzkonzepte, durchdachte Möblierung – abgestimmt auf die pädagogischen Bedarfe. Solche Lösungen gibt es bereits.
All das muss mit einem didaktisch-organisatorischen Gesamtkonzept verbunden sein – entwickelt in multiprofessionellen Teams, die auch Schulentwicklungsfragen berücksichtigen. Frau Pampe hat die Phase Null angesprochen: Wenn ich ein Gebäude neu baue, steht es 70 oder 80 Jahre. Deshalb müssen wir in die Zukunft blicken: Wie können wir offen bleiben für Entwicklungen, die Schule in 20 oder 30 Jahren ausmachen? Pädagogische Überlegungen wirken sich unmittelbar auf die Planungen der (Innen-)Architektur aus.
News4teachers: Konkret: Was kann ein gut gestalteter Raum bewirken?
Barbara Pampe: Architektur kann vieles erleichtern und ermöglichen. Ein Beispiel: Glastüren oder Glaswände. Sie ersparen das Klopfen, man sieht sofort, ob ein Raum belegt ist, und muss nicht stören, um es herauszufinden. Transparenz erlaubt, dass Schüler*innen überall arbeiten können – während Lehrkräfte sie im Blick behalten und auch umgekehrt. Geschlossene Türen und Wände erzeugen sofort die Sorge: „Wenn sie rausgehen, machen sie Unsinn.“ Transparenz schafft Vertrauen, erleichtert Teamarbeit und ermöglicht Mehrfachnutzung.
Es geht darum, möglichst viel Fläche zur Lernfläche zu erklären, Sichtverbindungen zu schaffen, unterschiedliche Qualitäten anzubieten. Solche baulichen Maßnahmen müssen von Anfang an mitgedacht werden.
Brandschutz ist ein gutes Beispiel: Flure werden oft ohnehin mitgenutzt. Statt dies aufgrund des Brandschutzes nicht zuzulassen, kann der Brandschutz so geplant werden, dass die Flure als Lernflächen ohne Brandschutzanforderungen genutzt werden können.
Auch die Möblierung muss neu gedacht werden. Kinder und Jugendliche tun nicht immer alle gleichzeitig das Gleiche. Daher braucht es nicht zwingend 30 Stühle und Tische, sondern verschiedene Sitzangebote. Ziel sollte es sein, nicht jeder neuen Anforderung einen neuen Raum zuzuordnen. Stattdessen braucht es Gesamtkonzepte, die eine sinnvolle Nutzung von Flächen über den ganzen Tag für eine inklusive Bildung ermöglichen.
Ein Beispiel aus einem unserer Pilotprojekte „Ganztag und Raum“ in Mülheim a. d. Ruhr – an der Grundschule am Dichterviertel: Dort wurden Klassenzimmer komplett leergeräumt. Es gibt keine Einzeltische mehr, sondern große Forumstische für die Klasse. Dadurch entstehen freie Flächen, die unterschiedlich je nach Bedarf bespielt werden können. Hinzu kommt ein abgestimmtes Farb- und Materialkonzept für Möbel, Wände und Vorhänge. Das Ergebnis: Räume mit spürbar höherer Aufenthaltsqualität – abgestimmt auf die Bedürfnisse der Schule.
News4teachers: Und wenn wir auf ein ganzes Gebäude schauen?
Barbara Pampe: In Weimar wurde gerade die Jenaplanschule fertiggestellt, die wir neun Jahre lang in der Phase Null, in der Planung und im Bau begleitet haben. Ein Geschoss umfasst dort ca. 400 Quadratmeter mit drei Stammgruppen und dem pädagogischen Personal. Die Räume sind offen, können mit Vorhängen abgetrennt und durch Möbel gegliedert werden. Es gibt eine gemeinsame Mitte mit Podesten, einen Teamraum, einen Differenzierungs- und Rückzugsraum und eine große Wohnküche mit einem großen Atelier- und Werktisch. Die Wände sind ab Tischhöhe transparent, so dass sich alle sehen und auch die Mitte mit Tageslicht versorgt wird. Die Fenster sind bodentief und ermöglichen durch große Schiebetüren einen Einbezug der Balkone.
Ein oft unterschätzter Bereich sind die Garderoben – hier wurde ausreichend Platz eingeplant, da die Schule eine „Hausschuhschule“ ist.
Das Ergebnis ist eine Vielfalt von Lehr- und Lernsettings mit wohnlicher Atmosphäre und Werkstattcharakter, die die Nutzenden auffordert, sich den Raum anzueignen und pädagogisch zu bespielen. In den Decken gibt es Haken für Beleuchtung und sonstige Ausstattung wie Blumenampeln etc.
“Schulen der Zukunft müssen Vielfalt ermöglichen – und hier wird das räumlich umgesetzt”
News4teachers: Ein teurer Spaß?
Barbara Pampe: Nein. Schon früh war klar: Der Neubau soll auch wirtschaftlich sein. Ein Großteil der Kosten entfällt normalerweise auf die Haustechnik. Deshalb wurde auf natürliche Lüftung der Lernflächen gesetzt. Fenster lassen sich leicht öffnen, Querlüftung ist möglich. Schiebefenster erlauben die volle Nutzung der Fassadenflächen. Außerdem wird das allgemeine Wohlbefinden in Räumen gesteigert, wenn Fenster einfach geöffnet werden können.
News4teachers: Gibt es dort auch Arbeitsplätze für Lehrkräfte?
Barbara Pampe: Ja. Auf jeder Etage gibt es Teamstationen. Zusätzlich gibt es Arbeitsplätze und Besprechungsmöglichkeiten in der Verwaltungsetage. Die Arbeitsplätze sind in derselben Qualität gestaltet wie die Räume der Schülerinnen und Schüler: viel Holz, Transparenz, Vorhänge, gleiche Möbel.
News4teachers: Frau Kricke, wie bewerten Sie die Schule pädagogisch?
Meike Kricke: Für mich ist sie ein „Chamäleon“. Durch einfache Mittel – Haken, Vorhänge, variable Räume – passt sie sich den Bedarfen an. Und sie unterstützt Zukunftskompetenzen, wie z.B. Kommunikation, Kreativität, Kollaboration, kritisches Denken. Es gibt Möglichkeitsräume: Rückzug, Teamarbeit, Nutzung des Außenraums, Öffnung ins Quartier. Schulen der Zukunft müssen Vielfalt ermöglichen – und hier wird das räumlich umgesetzt.
News4teachers: Viele Lehrkräfte befürchten in solchen offenen Räumen Chaos.
Meike Kricke: Diese Ängste sind nachvollziehbar. Es ist eine große Veränderung, die Anpassung erfordert. Aber sie bringt auch viel Positives und neue Möglichkeiten mit sich. Wichtig ist, dass solche Prozesse mit Schulentwicklung verbunden sind. Wenn alle Beteiligten sich zusammen auf diesen Weg begeben, wird für alle deutlich, dass Pädagogik und Didaktik nicht mehr so weiterlaufen können wie vor 100 Jahren. Schule ist kein Museum. Hier sind Schulleitung und Schulaufsicht gefragt, diesen Weg mitzugehen und die Teams zu unterstützen. Schulen des 21. Jahrhunderts sind Teamschulen – man ist nicht allein!
Wir haben dafür zum Beispiel auch die „Phase Zehn“ entwickelt: Nach Fertigstellung eines Gebäudes begleitet man das gesamte Personal und die Schüler*innen dabei, die Räume zu erobern, zu erkunden und zu gestalten. Und auch danach geht die Reflexion im Wechselspiel zwischen Pädagogik und Architektur weiter – denn Schulentwicklung hört nie auf. News4teachers / Andrej Priboschek, Agentur für Bildungsjournalismus, führte das Interview.
Hier gibt es kostenlose Informationen und Materialien der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft zum Schulbau.
Die Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft unterstützt News4teachers bei der Konzeption und Umsetzung der redaktionellen Beiträge des Themenmonats „Schulbau & Schulausstattung“. Hier geht es zu allen Inhalten.
Und noch ein Rekord… Das neue Redaktionskonzept von News4teachers zieht!
Sie müssen offene Lernformen bieten, Rückzuzgsorte, Computer und technische Ausstattung, Filmkameras usw.
Also wie ein Office heutzutage, wo man sich austauscht. Bei der 4 Tage Woche ist man dann auch nicht immer vor Ort.
Im Grunde klappt dann hier auch der online Unterricht von einigen gewünscht.
oh ja wir auch, 4 Tage +1 freier Projekttag
Seitdem sind die Stundenpläne richtig gut und ich muss nur noch an 4 Tagen in die Schule 🙂
Ja, genau, ich schreibe das mal der Stadt, damit die alle anderen Ausgaben auf Eis legen … Sozialausgaben sind ja auch komplett überflüssig.
Schön wäre es, aber derzeit werden nicht so viele Schulen neugebaut. Und das Geld, das da ist, wird in den Brandschutz gesteckt bzw. in die billigsten Maßnahmen, um Barrierefreiheit hinzuwurschteln.
Beliebtes Buzzword: “multiprofessionelle Teams”…
Die Wahrheit vieler Schulgebäude ist doch aber, dass nicht einmal die Basics stimmen: Gesperrte Räume, kaputte Fenster, Toiletten mit der Atmosphäre von Bahnhofsklos. Die im Interview genannten Konzepte finden sich allerhöchstens in Neubauten wieder – und manchmal nicht einmal dort.