Gemeinsamer Lern- und Lebensraum: Wie sich der Ganztag neu gestalten lässt – ohne Neubau, aber mit Konzept

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MÜLHEIM AN DER RUHR. Wie kann eine Schule räumlich so gestaltet werden, dass sie qualitative ganztägige Bildung ermöglicht – ohne Neu- oder Umbau, aber mit Konzept? Die Grundschule am Dichterviertel in Mülheim an der Ruhr hat es vorgemacht. Der neue Ganztag ist der jüngste Teil einer Entwicklung, in der aus einer maroden Schule ein Lernort wurde, der bundesweit Maßstäbe setzt: pädagogisch, architektonisch und organisatorisch.

Das Kollegium plant. Foto: Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft

„Räume eröffnen andere Perspektiven, andere Möglichkeiten“, sagt Nicola Küppers, Schulleiterin der Grundschule am Dichterviertel in Mülheim an der Ruhr, im Interview mit dem Deutschen Schulportal. „Auch für das Lehrkräfteteam und unser multiprofessionelles Team.“ Schon vor Jahren habe ihre Schule begonnen, Räume so zu verändern, dass sie gutes Lernen ermöglichen. „Gutes Lernen ist im Raum verankert – durch das Material und durch die Art, wie wir Möbel bauen und hinstellen. Eine heterogene Schülerschaft, die selbstgesteuert und individuell lernt, benötigt trotzdem sehr viel Struktur und Klarheit – und Räume können genau das ermöglichen.“

Diese Schule weiß, was Wandel bedeutet. Als Küppers vor zehn Jahren die Leitung übernahm, stand das Dichterviertel kurz vor der Schließung. Nur 13 neue Anmeldungen, 98 Prozent der Kinder auf der niedrigsten Kompetenzstufe – und eine Stadt, die das Grundstück bereits verkaufen wollte. Heute dagegen zählt die Schule zu den innovativsten Grundschulen Deutschlands, wurde zweifache Preisträgerin des Deutschen Schulpreises (2021 und 2023) und gilt als Modell für Inklusion, Potenzialentfaltung und ganztägiges Lernen.

Eine Schule für alle Kinder

Das Motto der Grundschule am Dichterviertel lautet: „Eine Schule für alle Kinder.“ Rund zwei Drittel der Schüler*innen haben eine Zuwanderungsgeschichte, mehr als die Hälfte spricht zu Hause kein Deutsch. „Wenn die Kinder zu uns kommen, dann haben sie Entwicklungsunterschiede von bis zu vier Jahren“, so Küppers. Statt auf homogene Lerngruppen setzt die Schule deshalb auf jahrgangsübergreifendes und individualisiertes Lernen, auf starke Strukturen und kooperative Formate.

„Individualisierter Unterricht braucht sehr starke Strukturen, um die Tiefenstrukturen, die guten Unterricht ausmachen, zu verankern“, betont Küppers. Das gelingt nur mit einem Kollegium, das konsequent zusammenarbeitet. Jede Woche finden feste Teamzeiten statt, um Unterricht zu planen, Materialien zu entwickeln und Förderangebote abzustimmen. „Wir haben die Verantwortung, darüber nachzudenken, wie wir die beste Schule mit der geringsten Arbeitsbelastung werden können“, sagt Küppers. „Und das geht nur, wenn wir zusammenarbeiten.“

Mit Erfolg: Seit 2013 haben sich die Anmeldezahlen verfünffacht. Die Leistungen liegen heute über dem Landesschnitt, doppelt so viele Kinder wie früher erhalten eine Gymnasialempfehlung.

Nicht jedes Kind braucht einen Tisch und einen Stuhl

Mit der Verleihung des Deutschen Schulpreises kam auch öffentliche Aufmerksamkeit – und schließlich die Beteiligung am Pilotprojekt „Ganztag und Raum“ der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft. Ziel: Schulen fit zu machen für den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung ab dem Schuljahr 2026/2027 – und zwar im Bestand, nicht durch An- oder Neubauten.

„In zeitgemäßer Pädagogik geht es um einen guten ganzen Tag“, sagt Küppers im Interview mit dem Deutschen Schulportal. „Und letztendlich muss man sich vorstellen, dass Schule nicht mehr Schule ist, sondern hoffentlich irgendwann der beste Ort des Aufenthalts für alle Kinder sein wird. Also ein wirklicher Kernort des Lebens und Lernens.“

Küppers’ Schule ist dabei ein Labor für genau das: Sie denkt Unterricht, Organisation und Architektur neu. „Wir brauchen gar nicht unbedingt für jedes Kind einen Tisch und einen Stuhl“, sagt sie. „Davon bin ich fest überzeugt – zumindest gilt das für die Grundschule –, sondern vor allem einen Versammlungsort. Unterschiedliche Lernhandlungen brauchen individuell unterschiedliche Plätze.“

In der Praxis bedeutet das: Statt klassischer Tischreihen gibt es „Lernwaben“, Rückzugsinseln und Bewegungsräume. Einige Kinder schreiben im Liegen, andere lernen auf Wackelstühlen, wieder andere in der „Bibliothekswabe“, einem kleinen Rückzugsort aus Holz und Stoff. „Wir haben mit ganz wenigen Mitteln versucht, den ganzen Lernraum so zu gestalten, dass es verschiedene Lerninseln gibt. Gute Orte, wo unterschiedliche Lernhandlungen durchgeführt werden können.“

Ein Schulhaus wird neu gedacht

Mit dem Start des Projekts „Ganztag und Raum“ im September 2023 begann ein intensiver Beteiligungsprozess. Unter Leitung der Pädagogin Karin Babbe und der Architektin Fee Kyriakopoulos, die von der Montag Stiftung beauftragt wurden, den Prozess vor Ort zu gestalten, wurden alle Beteiligten einbezogen: Schulleitung, Lehrkräfte, pädagogische Mitarbeitende, Kinder, Eltern, Jugendhilfe, Bauverwaltung und Immobilienservice.

„Es galt, die spezifische DNA der Schule zu ergründen und die identifizierten Ressourcen und Potentiale für die weitere Arbeit zu nutzen“, schreiben Babbe und Kyriakopoulos in einem Blogbeitrag. Besonders eindrucksvoll: die sogenannte „Wunderfrage“, mit der die Prozessbegleiterinnen am Ende jedes Interviews die Beteiligten einluden, sich vorzustellen, wie ihre Schule aussähe, wenn über Nacht ein Wunder geschehen und alle Wünsche in Erfüllung gegangen wären. „Was würden sie am nächsten Morgen wahrnehmen? Was wäre anders – im Unterricht, im Gebäude, in der Atmosphäre?“

Aus den Antworten dieser „Wunderfrage“ entstand ein Füllhorn an Ideen: von mehr Rückzugsorten und Licht im Gebäude über ein stärkeres Miteinander von Vormittag und Nachmittag bis zu einem durchlässigen Ganztag mit Musik, Bewegung und Werkstätten. Diese Visionen verdichteten die Prozessbegleiterinnen zu einer Hörgeschichte mit dem Titel „Wunder-Voll“, die in einem Podcast umgesetzt wurde. Darin erleben imaginierte Kinder einen Schultag der Zukunft – om Morgenkreis bis zum Forschen im „grünen Labor“. Beim Anhören, so die Dokumentation, konnten alle Beteiligten „ihre eigenen Vorstellungen einer guten Schule sinnlich und emotional erfahren“ – ein entscheidender Schritt auf dem Weg zum Nutzungskonzept.

Neue Modelle für einen neuen Tag

Im Verlauf der weiteren Arbeit wurde der Aspekt der Rhythmisierung des Schultages besonders virulent“, heißt es in der Dokumentation. Vier neue Rhythmisierungsmodelle wurden entwickelt. Ziel war ein „Nutzungskonzept für die gute inklusive Schule den ganzen Tag lang“ – partizipativ, realistisch und pädagogisch fundiert.

Die Modelle greifen zentrale Fragen auf: „Wie kann Lernen, Bewegung, Erholung und Betreuung über den Tag hinweg ineinandergreifen – ohne Brüche, ohne Wechselstress?“ Die Montag Stiftung beschreibt sie als „pädagogische und räumliche Taktungen“, die das Verhältnis von Unterricht, freiem Lernen und Freizeit neu ordnen.

Ein Modell etwa sieht „wechselnde Lernphasen und Erholungszeiten“ vor, die nicht nach dem alten Vormittags-Nachmittags-Schema getrennt sind, sondern fließend aufeinander folgen. Ein anderes Modell verschränkt „Projekt- und Fachunterricht mit Phasen selbstgesteuerten Lernens und gemeinsamer Reflexion“. Auch Formen der „Teamzeit für Lehr- und OGS-Kräfte“ wurden darin verankert, um pädagogische Absprachen innerhalb des Tagesrhythmus zu ermöglichen.

Allen Modellen gemeinsam ist das Ziel, die Kinder „den ganzen Tag lang in einen lernförderlichen Rhythmus zu bringen“, der Anspannung und Entspannung, Konzentration und Bewegung ausbalanciert. So entstehen Lernräume, die nicht nur funktional, sondern auch biografisch und emotional anschlussfähig sind – wie die Stiftung schreibt: „Ein guter ganzer Tag entsteht dort, wo sich pädagogische Haltung, räumliche Qualität und gemeinsames Tun begegnen.“

Geringe Umbauten, große Wirkung

Am Ende des Prozesses entstand ein integriertes Nutzungskonzept, das Pädagogik, Raum und Organisation miteinander verzahnt. „Multiprofessionelle Teamarbeit, eine kindgerechte Rhythmisierung, ein anderes Brandschutzkonzept und eine darauf angepasste Möblierung ermöglichen die Verzahnung von Vormittag und Nachmittag bei geringen Umbaumaßnahmen“, heißt es in der Pressemitteilung der Stadt Mülheim.

Konkret heißt das: Flure werden zu Lernzonen, Räume werden geöffnet, Materialien so platziert, dass sie gemeinsam genutzt werden können. Statt getrennter Nutzung von Schul- und OGS-Bereichen entsteht ein gemeinsamer Lern- und Lebensraum. „Das Projekt zeichnet sich dadurch aus, dass es von Anfang an Architektur und Pädagogik zusammendenkt und so zeitgemäße Lehr- und Lernformen in den bestehenden Räumlichkeiten ganztägig möglich macht“, betont Barbara Pampe, Vorständin der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft.

Die Kinder selbst haben Ideen beigesteuert, die nun Gestalt annehmen. Sie wünschen sich, dass jede Etage ein eigenes Thema bekommt: das Meer, den Wald, den Himmel. „Sie kommen morgens ins Erdgeschoss, hören Meeresrauschen, und es riecht nach Meer“, erzählt Küppers. „In der ersten Etage liegt der Wald, der sie mit Vogelzwitschern und einem erdigen Geruch begrüßt.“ Diese symbolische Gliederung soll Orientierung schaffen – und Geborgenheit. „Die Kinder wollen, dass die ganze Schule Ebenen mit unterschiedlichen Namen bekommt. Sie wünschen sich, dass sie von Farben, Namen und Gerüchen geleitet werden.“

Vom Lernraum zum Lebensraum

Mit dem Startchancen-Programm des Bundes erhält die Schule nun zusätzlich Fördermittel, um ihre baulichen Ideen umzusetzen. „Im Planungsprozess muss man gucken, dass man das Geld nicht zu schnell rausschießt und erst alles bis zum Ende durchdenkt“, sagt Küppers. Viele Möbel werden eigens angefertigt, andere aus Projekten der Baupiloten übernommen.

Geplant sind neue Lernwaben für Bibliotheken, Rückzugsorte und Gemeinschaftsbereiche – aber auch neue Teamzonen. „Bei uns gibt es schon mal kein Lehrerzimmer, sondern nur ein Teamzimmer“, erklärt Küppers. „Wir planen Areale, wo nichts – auch kein blöder Tisch – steht. Orte, an denen Lehrkräfte in kleinen Gesprächsgruppen im Austausch sein können und in denen auch mal eine echte Pause gemacht werden kann.“

Nebenbei entstehen neue Arbeitsräume für das Kollegium und die Eltern: „Co-Learning Spaces, die wir uns mit den Kindern teilen. Das sind Einzelarbeitsplätze, die von Erwachsenen und Kindern, aber auch von Eltern genutzt werden können, um dort konzentriert zu arbeiten.“

Ein guter ganzer Tag

Für Küppers ist die räumliche Veränderung mehr als Architektur – sie ist Ausdruck einer pädagogischen Haltung. „In zeitgemäßer Pädagogik geht es um einen guten ganzen Tag“, sagt sie. „Das heißt, dass Schule nicht mehr nur Unterrichtsstätte ist, sondern ein Ort des Lebens, Lernens und Zusammenkommens.“ Sind die Ideen übertragbar? „Mal eben nicht“, betont Küppers. „Man kann nicht Tische und Stühle rausschmeißen, wenn man noch kein Konzept des selbstgesteuerten Lernens hat.“ Jede Schule müsse ihren eigenen Weg finden.News4teachers

Hier lässt sich die vollständige Dokumentation des Projekts herunterladen.

Die Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft unterstützt News4teachers bei der inhaltlichen Gestaltung dieses und weiterer Beiträge des Themenmonats „Schulbau und Schulausstattung“.

Hier geht es zu allen Beiträgen des Themenmonats “Schulbau & Schulausstattung”. 

Und noch ein Rekord… Das neue Redaktionskonzept von News4teachers zieht!

 

 

 

 

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Palim
3 Stunden zuvor

So beeindruckend ich die Vorstellung der Schulen finde, die das bestehende Gebäude nutzbar machen, um so schwieriger finde ich Überschriften, die mit einer Schlagzeile intendieren, man hätte kein Geld investiert.

Die Schulträger und Landkreise müssen ab 2026 den Ganztagsanspruch ab Klasse 1 umsetzen, haben an vielen Orten geschlafen, aufgeschoben, auf Stur geschaltet und dann kommen Schlagzeilen, die zu einer Haltung beitragen, man, nein, die Lehrkräfte an den Schulen (!) könnten den Ganztag ohne Mittel umsetzen.

Man kann Ganztag nicht ohne Lehrkräfte umsetzen, wieder ein Teil der Arbeitszeit, den niemand sehen will,
man kann den Ganztag aber ich nicht umsetzen, wenn Landkreis und. Gemeinde sich nicht engagieren wollen
und ebenfalls nicht, wenn Ganztag als Konzept zum Sparen verkommt.

Marie
3 Stunden zuvor

Flure werden zu Lernzonen, Räume werden geöffnet, Materialien so platziert, dass sie gemeinsam genutzt werden können“ Und was genau ist daran jetzt neu? Das machen wir seit vielen Jahren so.
“Wir planen Areale, wo nichts – auch kein blöder Tisch – steht. Orte, an denen Lehrkräfte in kleinen Gesprächsgruppen im Austausch sein können und in denen auch mal eine echte Pause gemacht werden kann.“ Sorry, aber wer will denn in einem komplett leeren Raum Pause machen? Wenn ich den ganzen Vormittag durch den Klassenraum wusele, brauche ich in der Pause zumindest mal eine Sitzgelegenheit. Aber eine, die in der Höhe zum Tisch passt (s. bild oben, die Bänke sind viel zu hoch) und an der ich mich rückenentlastend auch mal anlehnen darf.

Fräulein Rottenmeier
3 Stunden zuvor
Antwortet  Marie

Wir haben unsere Lounge mit Sofas und Hochtischen mit Hochbönken und Stühlen ausgestattet (ähnlich einem american Diner)…..darin erinnert nichts an ein Lehrerzimmer….und wird von allen gerne genutzt….

Marie
2 Stunden zuvor

Die Lounge würde ich auch nehmen. Leider ist bei uns auch das letzte Zipfelchen Platz anderweitig genutzt, wir müssten anbauen.

Lera
3 Stunden zuvor

Nur mal so für nen Freund gefragt:

Wenn nicht jeder Schüler einen Tisch und einen Stuhl hat, von dem er die Tafel sehen kann – wie genau erstelle ich dann ein Tafelbild mit der Klasse, das anschließend ins Heft übertragen wird?

Ist das etwa gar nicht mehr vorgesehen??

Wie wirkt sich das auf die pädagogische Freiheit der Lehrer aus?