Finnland schafft die Schreibschrift ab – Kraus: „feinmotorische Verarmung“

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BERLIN. Finnland schafft die Schreibschrift ab  – wir berichteten – und sorgt damit aktuell in Deutschland für Schlagzeilen. Der Deutsche Lehrerverband (DL) und das Schreibmotorik Institut e. V., Heroldsberg, haben das Thema Handschreiben hierzulande schon vor Wochen auf die Agenda gesetzt und eine Umfrage unter Lehrerinnen und Lehrern gestartet. Sie wollen wissen: Wie gravierend sind die Probleme mit dem Handschreiben der Schülerinnen und Schüler? DL-Präsident Josef Kraus sieht Handlungsbedarf, wie er im Interview mit News4teachers darlegt – und bittet deshalb um rege Teilnahme (hier geht es zu der Umfrage).

Ein Mann der klaren Worte: Josef Kraus. Foto: Deutscher Lehrerverband
Ein Mann der klaren Worte: Josef Kraus. Foto: Deutscher Lehrerverband

Finnland reagiert auf die Probleme von Schülern mit dem Handschreiben – und setzt künftig nur noch auf Tastatur und Druckbuchstaben. Auch in Deutschland häufen sich Klagen darüber, dass sich Schülerinnen und Schüler mit der Handschrift zunehmend schwer tun. Was hören Sie als Schulleiter und Präsident des Deutschen Lehrerverbands von den Kolleginnen und Kollegen – nehmen aus Lehrersicht die Probleme beim Schreiben zu?

Kraus: Das Problem hat eine Tiefendimension. Die mangelnden Fertigkeiten, flüssig und lesbar mit der Hand zu schreiben, und die allgemeine Vernachlässigung der Handschrift sind Teil einer Geringschätzung unserer Sprachkultur. Schauen Sie sich an, was hier einer vermeintlichen Modernität alles zum Opfer fällt: Der Wortschatz von Grundschülern wird, curricular vorgegeben, immer geringer. Statt orthographisch korrekt dürfen Grundschüler nach Gehör, das heißt: phonetisch, schreiben. Die Unterrichtsstunden im Fach Deutsch wurden in mehreren Jahrgangsstufen gekürzt. Deutschtests bestehen – PISA-gestylt – immer häufiger aus Ankreuztests oder aus dem Zustöpseln von Lückentexten. Lektüren werden immer häufiger in „leichtem Deutsch“ angeboten. Was die Handschrift betrifft, so bestätigen mir immer mehr Kolleginnen und Kollegen, dass die jungen Leute oft bereits nach wenigen Zeilen schreibmotorisch rasch ermüden und dass das Gekrakel immer schwerer zu lesen ist.

Wie groß ist aus Ihrer Sicht der Anteil von Schülerinnen und Schülern in der Sekundarstufe I mit Problemen beim Handschreiben. Und: Gibt es Ihren Erfahrungen nach Unterschiede im Ausmaß der Schwierigkeiten – etwa zwischen Jungen und Mädchen oder je nach Bildungsstatus des Elternhauses?

Kraus: Letzteres hängt tatsächlich nicht nur mit dem Geschlecht, sondern auch mit der Schulform und damit indirekt mit der sozialen Herkunft der jungen Leute zusammen. Allgemein kann gelten: Mädchen schreiben lesbarer, versierter, sie schreiben also lieber; Gymnasiasten aus bildungsnahen Elternhäusern ebenfalls.  Dem männlichen Nachwuchs dagegen gilt Schreiben oft als unmännlich. Der Anteil der schreibschwachen Kinder und Jugendlichen dürfte – unter Berücksichtigung der eben genannten Differenzierung – zwischen 20 und 50 Prozent liegen. Aber das ist eine Schätzung.

Sehen Sie Zusammenhänge zwischen Lernleistung von Schülern und der Güte ihrer Handschrift?

Kraus: Tendenziell eindeutig!  Wer gut und versiert schreibt, der prägt sich Geschriebenes besser und konzentrierter ein, er ist intensiver bei der Sache, er schreibt bewusster, setzt sich intensiver mit dem Inhalt und dem Gehalt des Geschriebenen auseinander. Es geht ihm auch darum, dass das Geschriebene von anderen nachvollzogen werden kann; das wirkt bereits beim Schreiben implizit als ein Impuls, verständlich zu formulieren. Aber es gibt natürlich auch die Ausnahmen. Höchst leistungsfähige und begabte junge Leute, deren so genannte Klaue man kaum entziffern kann, haben wir natürlich auch in unseren Schulen.

Was sind aus Ihrer Sicht die Ursachen für die sich häufenden Probleme?

Kraus: Es ist ein Bündel an Ursachen, die ich für die Atomisierung der Sprachkultur und im besonderen für das Schwinden der Schreibkultur verantwortlich mache: Die curricularen und schulpolitischen Gründe hatte ich bereits genannt. Auch wird in den Schulen immer weniger Wert auf lesbare Schrift oder gar auf deren Bewertung bzw. Einbeziehung in eine Note gelegt. Beim einzelnen Heranwachsenden kommt hinzu, dass er grob- und feinmotorisch zunehmend verkümmert. Couch-Potatoes und Joystick-Athleten fehlt es nicht nur an motorischer Entladung, sondern auch am Erwerb motorischer Geschicklichkeit. Solche Geschicklichkeit wurde früher beim Basteln oder auch mit den üblichen – feinmotorisch wichtigen – Gesellschaftsspielen trainiert: beim Mensch-ärgere-Dich-nicht, beim Mühle, Halma, Dame und Mikado. All dies findet heute – wenn überhaupt – am Bildschirm statt. Eine erheblich feinmotorische Verarmung, die hier abläuft und indirekt auch die Schreibmotorik hemmt!

Ist es dann nicht sinnvoll, wie Finnland zu sagen: Wir verzichten auf die Vermittlung der Schreibschrift – und vermitteln nur noch Druckbuchstaben? Oder noch konsequenter: Wir verzichten auf Sicht auf Stifte und Füller – und lassen Schülerinnen und Schüler nur noch auf der Tastatur lernen?

Kraus: Die Feinmotorik des Schreibens ist überhaupt die wichtigste Hand- und Denkarbeit des Menschen. Das Schreiben, auch das Abschreiben (und nicht das Einscannen auf den Bildschirm), ist vor allem bei neuen Lernstoffen bereits die halbe Miete für das Auswendiglernen. Zudem geht das Schreiben in der herkömmlichen Schreibschrift erheblich zügiger und flotter vonstatten als ein Schreiben in Druckbuchstaben. Beim Schreiben mit Druckbuchstaben ist man langsamer, und man verkrampft schreibmotorisch schneller, weil man nach jedem Buchstaben für Sekundenbruchteile den Schreibfluss unterbrechen und das Schreibwerkzeug kurzfristig vom Blatt abheben muss. Außerdem verzichtet man mit der Druckschrift auf die höchst individuelle, nicht zu unterschätzende Note beim Geschriebenen. Nicht nur die seriöse Graphologie weiß das zu bestätigen, sondern auch der Alltag.

Was lässt sich gegen die Misere aus Ihrer Sicht unternehmen? 

Kraus: Die Öffentlichkeit aufklären, wie wichtig die herkömmliche Schreibschrift ist und was ihr Nutzen ist! Dazu benötigen wir zunächst einmal eine Bestandsaufnahme. Wir haben deshalb jetzt in Kooperation mit dem Schreibmotorik Institut, Heroldsberg, eine Umfrage gestartet, und ich bitte alle Kolleginnen und Kollegen um rege Beteiligung. Wir wollen wissen: Wie gravierend sind die Probleme mit dem Handschreiben tatsächlich? Und was lässt sich dagegen tun? Dann wollen wir der Politik geeignete Maßnahmen vorschlagen. Ohne den Ergebnissen vorgreifen zu wollen, so ist doch deutlich: Wir benötigen mehr Ressourcen für die Förderung der Grob- und Feinmotorik schon in den Kindertagesstätten und dann auch in den Grundschulen. Darauf wollen wir hinwirken.

Info: Das Schreibmotorik Institut e. V., Heroldsberg, ist eine bundesweit einzigartige Einrichtung. Es beschäftigt sich mit der Forschung auf den Gebieten der Schreibmotorik und der Schreibergonomie, vernetzt relevante Institutionen im Bereich des Handschreibens und versammelt Experten, die sich seit Jahren in Theorie und Praxis mit effizientem Schreiben beschäftigen. Es hat Lehrmaterialien für den Schreibunterricht entwickelt und bietet Seminare für Pädagogen an.

Die Umfrage ist hier erreichbar.

Hier geht es zum Beitrag: Finnland streicht die Schreibschrift aus dem Lehrplan

 

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