Minister Spaenle räumt ein: Lehrer mit Ansturm von Flüchtlingskindern allein überfordert

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MÜNCHEN. Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) hat sich mit einem eindringlichen Appell an die Staatsregierung gewandt: Viele Schulen in Bayern können den Ansturm von Flüchtlingskindern im schulfähigen Alter nicht bewältigen. Eine Einschätzung, die bundesweit gelten dürfte. Mit dem bayerischen Kultusminister Spaenle räumt allerdings zum ersten Mal in Deutschland ein politischer Entscheidungsträger ein: Die Schulen können die Herausforderung nicht mehr allein meistern.

Sieht die Schulen vor einer großen Herausforderung: Bayerns Bildungsminister Ludwig Spaenle. Foto: © StMBW
Sieht die Schulen vor einer großen Herausforderung: Bayerns Bildungsminister Ludwig Spaenle. Foto: © StMBW

Übergangsklassen sind offenbar ein gut funktionierendes Instrument – wenn sie gut ausgestattet sind. In Übergangsklassen werden Schüler während des Schuljahres an der Schule aufgenommen und durch stark differenzierte Unterrichtsformen in der deutschen Sprache so gefördert, dass sie spätestens nach zwei Jahren dem Unterricht in den Regelklassen folgen könnten. In Bayern gibt es nach Auskunft des Kultusministeriums aktuell etwa 300 Übergangsklassen. Weil diese aber vielerorts voll sind, werden laut BLLV immer mehr betroffene Kinder und Jugendliche auf Regelschulen verteilt.

An manchen Schulen müssten „über Nacht“ 20 Flüchtlingskinder untergebracht und intensiv betreut werden. Die Betroffenen seien zum Teil schwer traumatisiert, depressiv, manche seien Selbstmord gefährdet – und sie sprächen kein Deutsch. „Die Lehrerinnen und Lehrer sind auf diese Krisensituation nicht vorbereitet. Die meisten wollen helfen, stoßen aber angesichts des unsagbaren Leids und der fehlenden Unterstützung an ihre Grenzen“, sagte BLLV-Präsident Wenzel. Um die Situation in den Griff bekommen zu können und um allen Beteiligten zu helfen, hat der BLLV vor wenigen Tagen ein Notprogramm von zehn Millionen Euro verlangt, das schnell und unbürokratisch bereit gestellt werden müsse, um die schlimmste Not zu lindern.

Wenzel präsentierte einen Forderungskatalog, den Lehrerinnen und Lehrer erarbeitet haben. Ein zentraler Punkt: ab sofort alle Schulen, die Flüchtlingskinder aufnehmen, besser auszustatten. Wenzel: „Die Schulen brauchen dringend wesentlich mehr Schulsozialarbeiter. Die Mobile Reserve muss aufgestockt, die Möglichkeiten für Team-Teaching verbessert werden.“ In jeder Klasse, die von Flüchtlingskindern besucht wird, solle stets eine zweite pädagogische Fachkraft zur Verfügung stehen. Die Lehrerinnen in Regelklassen stünden sonst vor einem unlösbaren Dilemma: „Sie wollen einerseits ihr Bestes tun, müssen aber gleichzeitig den Regelunterricht aufrecht erhalten – der Schulalltag geht schließlich normal weiter.“ Dies zu bewerkstelligen, ohne die Schüler zu vernachlässigen, sei nicht möglich, sagte Wenzel.

Übergangsklassen sollten von nicht mehr als 16 Schülern besucht werden. „Zwar beläuft sich die Klassenstärkte rein rechnerisch auf 15,5 Schüler pro Übergangsklasse. Das ist aber Augenwischerei“, befand Wenzel. Die Erfahrung zeige, dass im Laufe eines Schuljahres in der Regel weitere Schüler in die Übergangsklassen kämen. Die Arbeit werde zudem deutlich erschwert durch die große Heterogenität: Analphabeten und gymnasialgeeignete Schüler, begleitete und unbegleitete Kinder, Kinder aus Kriegsgebieten und Kinder aus Nachbarländern, Kinder, die über einen deutschen Grundwortschatz verfügen und Kinder, die kein Wort verstehen, Kinder, die ab dem ersten Schultag eines Schuljahres in der Klasse sind, und Kinder, die erst Monate später dazu kommen.

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Viele Lehrkräfte berichteten von jungen Menschen, die unvorstellbaren Terror erlebt hätten und unter schweren Traumata leiden würden, Depressionen hätten oder vollkommen eingeschüchtert, hilflos und apathisch seien. „Die Lehrerinnen und Lehrer können angesichts dieses Leids nur begrenzt helfen. Hier müssen professionelle Kriseninterventionsteams eingesetzt und therapeutische Hilfen angeboten werden“, verlangte Wenzel.

Auch die  Lehrer benötigten Unterstützung – am Beispiel der Schulmaterialien werde dies deutlich: „Die derzeit zur Verfügung stehenden Materialien werden in keiner Weise den Ansprüchen gerecht“, erklärte Wenzel. Der BLLV fordert deshalb die Bereitstellung zusätzlicher Budgets durch den Schulaufwandsträger zur Anschaffung erforderlicher Materialien wie Beamer, Freiarbeitsmaterial, Bildwörterbücher im Klassensatz und auch die Erhöhung des Kopier-Etats.

Die Elternschaft schlägt in die gleiche Kerbe. „Vor dem immer stärker werdenden Andrang junger Flüchtlinge ohne Deutschkenntnisse kapitulieren die Schulen zunehmend“, heißt es beim Bayerischen Elternverband (BEV). Flüchtlingskinder kämen mitten im Schuljahr und ohne ein Wort Deutsch zu können in die Schulen. Diese seien meist weder personell noch materiell ausreichend gerüstet, um diese Aufgabe zu bewältigen. Die Kommunen reagierten regional unterschiedlich, etwa mit Deutschkursen im Zeitraffer. „Die Angebote können den Bedarf jedoch nicht decken und Fachlehrkräfte für ‚Deutsch als Zweitsprache’ sind mittlerweile kaum mehr zu bekommen. Die Nachhaltigkeit solcher Crashkurse ist zudem fraglich, da sie wenig Bezug zum sozialen Kontext der Schule haben. Wo entsprechende Angebote fehlen, sitzen die Kinder in Regelklassen und lassen den Unterricht bestenfalls über sich ergehen“, so der BEV.

„Unsere Schulen, vor allem die Grund- und Mittelschulen sowie die Berufsschulen, erbringen derzeit enorme Leistungen, um junge Menschen in teilweise schwierigster Situationen zu begleiten, sie zu unterrichten und ihnen auch Deutsch zu vermitteln“, erklärte Bildungsminister Ludwig Spaenle (CSU). Sein Ministerium habe mit Blick auf die Entwicklung die personellen Ressourcen für junge Asylbewerber und Flüchtlinge massiv erweitert, unter anderem die Zahl der Übergangsklassen und spezieller Berufsschulangebote spürbar angehoben. Spaenle betonte allerdings auch, dass die Schulen die Herausforderungen nicht allein meistern können. Es gebe ein Netz von Angeboten etwa der Schulberatungsstellen, der Schulpsychologen, der Jugendsozialarbeit, Gesundheitsämter und Jugendhilfe, die hier auch gefordert seien. „Wir müssen hier in engem Schulterschluss handeln, damit die Schulfamilien ihrer Verantwortung gerecht werden können, aber dabei nicht überfordert werden“, sagte Spaenle.

Wie viele Flüchtlingskinder im Moment tatsächlich an bayerischen Schulen sind, konnte das Ministerium nicht sagen. Vorbereitet seien die Schulen auf 5000 Kinder. Der Aufenthaltsstatus von Schülern werde jedoch nicht erfasst. „Fest steht: Wir weisen kein Kind ab“, sagte ein Ministeriumssprecher. News4teachers

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G. Papp
9 Jahre zuvor

Das Ansinnen dieses Artikels ist ehrenhaft und wichtig. Wir brauchen dringend mehr Lehrkräfte, Räume und Materialien für die Übergangsklassen. Aber der Titel und einige Formulierungen sind voll daneben.

…Ansturm von Flüchtlingskindern…
…stärker werdenden Andrang junger Flüchtlinge…
…kapitulieren die Schulen zunehmend…

Wir sind doch nicht im Krieg. Sondern da kommen Menschen zu uns, denen wir helfen müssen.

ketzer
9 Jahre zuvor
Antwortet  G. Papp

Ich kann dieses gutmenschliche Gesülze und Gezetere kaum mehr hören.
Was ist denn jetzt schon wieder falsch an der Überschrift des Artikels und einigen Formulierungen?
Ihr und anderer Leute aufgesetzter Edelmut ist für mich so langsam unerträglich.

Biene
9 Jahre zuvor

Es ist aber wirklich nicht einfach solche Kinder zu unterrichten und je nach kulturellem Hintergrund hat es eine Lehrerin nicht einfach. Die Interkulturellen Kompetenzen müssen auch immer mit gestärkt werden, insbesondere in gemischten Flüchtlingsklassen (bspw. Ukraine, Serbien, Irak, Iran, Afgahnistan, Asien). Da sind die fernen Konflickte plötzlich im Klassenzimmer und die Lehrkraft hat dann mehr mit dem Beruhigen der SuS zu tun wie mit dem Halten von Unterricht.