Diagnose Down-Syndrom: Neun von zehn Frauen treiben ab

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KARLSRUHE. Menschen mit Down-Syndrom kennt irgendwie jeder. Sie lachen uns von Plakaten an, scheinen sehr präsent. Die vorgeburtliche Diagnostik zielt aber vor allem auch auf diese Behinderung. Ein merkwürdiger Gegensatz.

Ein Baby mit Down-Syndrom. Foto: Himileanmedia /  Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)
Ein Baby mit Down-Syndrom. Foto: Himileanmedia / Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

Irma ist jetzt ein Jahr alt. Als ihre Mutter Susanne Schulz wenige Tage nach der Geburt den Begriff «Down-Syndrom» googelte, gab es wegen des bevorstehenden Welt-Down-Syndrom-Tags – der am 21. März begangen wird – besonders viele aktuelle Einträge. Geholfen bei der Bewältigung der Diagnose hat ihr die Recherche nicht. «Man kann sich auch totgoogeln», sagt sie und hält ihre kleine dunkeläugige Tochter fest im Arm. Irma ist ein bisschen müde. Ihren Kopf halten kann sie noch nicht so gut, sich drehen auch nicht. Dass das kleine Mädchen das Chromosom 21 drei- statt zweimal besitzt und damit das Down-Syndrom hat, wussten ihre Eltern vor der Geburt nicht.

Susanne Schulz gehörte nicht in die Risikogruppe der Spätgebärenden ab 35. Und auch nicht jede ältere Schwangere lässt ein sogenanntes Erst-Trimester-Screening oder eine Fruchtwasseruntersuchung vornehmen. Steht die Diagnose «Trisomie 21» oder eine andere geistige Behinderung aber im Raum, lassen laut einer aktuellen Schweizer Untersuchung neun von zehn Frauen das Kind abtreiben. «Es gibt unglaublich viel Angst vor Chromosomen-Anomalien», sagt die Humangenetikerin Elisabeth Gödde. «Das Risiko wird völlig überschätzt.» Nur bis zu vier Prozent aller Babys hätten überhaupt irgendeine Anomalie – und genetisch bedingt sei davon nur ein Bruchteil.

«Das Down-Syndrom ist der Prototyp für die Katastrophe», sagt Gödde, Leitende Ärztin an der Vestischen Kinder- und Jugendklinik Datteln. «Bei aller Aufgeklärtheit: Es ist eine völlig verkehrte Welt.» Das Risiko, ein Kind mit Trisomie 21 zu bekommen, stehe in keinem Verhältnis zu den diesbezüglichen Ängsten werdender Eltern.

Gleichzeitig sind «Downies», wie sie sich selbst gelegentlich nennen, nach Worten von Elzbieta Szczebak vom Deutschen Down Syndrom Info-Center «sehr gute und dankbare Sympathieträger» auf Bildern und Plakaten, wann immer es um Themen wie Behinderung und Inklusion geht. Bis zu 50 000 Menschen mit Down-Syndrom leben derzeit in Deutschland.

Um ihre Förderung und gesellschaftliche Akzeptanz ist es inzwischen recht gut bestellt. «Im Vergleich zu früher leben wir auf einer Insel der Glückseligkeit», sagt Bernd Breidohr, der vor 15 Jahren den ersten Karlsruher Arbeitskreis Down-Syndrom gründete. Der 68-Jährige ist Vater eines inzwischen 41 Jahre alten Sohnes mit Trisomie 21. René kann lesen und schreiben, er arbeitet in einem Lebensmittelladen, hat eine Freundin.

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Niemals hätte er seinen Sohn hergeben wollen, sagt Breidohr. Aber die Zeit nach seiner Geburt sei schwer gewesen. «Wir hatten keinen Ansprechpartner, keine Hilfestellung, nichts.» Heute sei das anders. «Wer sein Down-Kind fördern will, der findet viele Angebote.» Die einjährige Irma etwa geht zur Logopädie, zur Physiotherapie und hat die Zusage für einen Inklusions-Kita-Platz.

Die immer ausgefeiltere pränatale Diagnostik sehen manche Experten mit Argwohn. «Ohne es moralisch bewerten zu wollen: Es ist jedenfalls nicht im Sinne des Kindes. Leben will leben», sagt der Kinderarzt Matthias Gelb, selbst Vater eines 25 Jahre alten Sohnes mit Down-Syndrom und Leiter der Sprechstunde Down-Syndrom am Olgahospital Stuttgart. Die Eltern stürzt das Warten auf ein Ergebnis oft in leidvolle Ungewissheit, nach einem Abbruch drohen lang währende Schuldgefühle.

Ganz neue Risiken sehen Experten bei den seit einiger Zeit erhältlichen nicht-invasiven pränataldiagnostischen Bluttests (NIPT). Eine mütterliche Blutprobe kann damit auf bestimmte Erbgutfehler des Fötus untersucht werden. Erlaubt ist die Suche nach den Trisomien 21, 18 und 13, Klinefelter- und Turner-Syndrom sowie Triple-X- und XYY-Syndrom – möglich wären aber auch weiter reichende Untersuchungen. Kritiker befürchten, dass zunehmend der Wunsch entstehen wird, nach ganz speziellen Erbgut-Eigenheiten des Embryos zu suchen. Klare Regeln seien nötig, um dem so weit wie möglich Einhalt zu gebieten.

Eine Trisomie hat in Deutschland nach wie vor jedes 600. bis 700. Kind: Es gibt wegen der zunehmend genutzten Früherkennungsmethoden zwar mehr Abbrüche, aber auch immer mehr ältere Mütter mit höherem Risiko für eine Erbgutstörung des Embryos. Genaue Statistiken etwa zu den Befunden bei medizinisch indizierten Abtreibungen gebe es in Deutschland nicht, sagt Gödde.

Susanne Schulz will sich auch bei einer zweiten Schwangerschaft nicht testen lassen. Zwölf Monate Leben mit Irma und dem Down-Syndrom liegen hinter ihr. Eine schwere Herz-Operation hat die Kleine gut überstanden, ebenso einen Herzstillstand und die anschließende Reanimation. Die 32-Jährige freut sich über ihr Kind und zeigt stolz ein kleines Handy-Video mit einer laut lachenden Irma auf dem Wickeltisch. «Einfach alles auf sich zukommen lassen», sagt Schulz. Angst macht ihr vor allem ein Gedanke: «Dass Irma irgendwann mal ausgelacht wird.»  Anika von Greve-Dierfeld, dpa

Zum Bericht: Mit Down-Syndrom aufs Gymnasium? Der „Fall Henri“ spaltet Deutschland

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4 Kommentare
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M Schaffer
9 Jahre zuvor

hallo,
welche Quelle behauptet, dass 9/10 Frauen Kinder mit Down Syndrom abtreiben?
LG

Maximilian Schaffer
9 Jahre zuvor
Antwortet  Redaktion

Danke für die schnelle Antwort!

jenny
9 Jahre zuvor

die Mütter bekommen oft erst spät ein erstes Kind. Damit steigt das Risiko für Kinder mit Behinderungen. Viele Spätgebärende werden sich folglich entscheiden müssen: Entweder das Kind mit DS oder gar keins mehr.

in meinem Bekanntenkreis bekommen viele das erste Kind erst mit Ende 30 oder später – so ist das heute nunmal.