Mit Down-Syndrom aufs Gymnasium? Der „Fall Henri“ spaltet Deutschland

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WALLDORF. Der baden-württembergischen Kultusminister Andreas Stoch (SPD) hat den Wusch des geistig behinderten Henri abgelehnt, aufs Gymnasium gehen zu dürfen. Jetzt, nachdem die Diskussion Deutschland erfasst hat – und spaltet -, wollen sich die Eltern des Elfjährigen zunächst nicht mehr öffentlich äußern. «Es gibt eine Zeit zu reden und es gibt eine Zeit zu schweigen», sagte Henris Mutter Kirsten Ehrhardt. Wochenlang hatte sie gekämpft, zuletzt in der Fernsehsendung von Günther Jauch. Letztlich vergebens.

Henri - das hat der Junge jetzt amtlich - darf nicht aufs Gymnasium. Foto: Sigrid Rossmann / pixelio.de
Henri – das hat der Junge jetzt amtlich – darf nicht aufs Gymnasium. Foto: Sigrid Rossmann / pixelio.de

Immer wieder gab sie Fernsehinterviews, schrieb Pressemitteilungen und telefonierte mit Journalisten. Die bundesweite Aufmerksamkeit ist ihr sicher, aber ihr eigentliches Ziel hat sie verfehlt: Ihr geistig behinderter Sohn Henri darf nach den Sommerferien nicht aufs Gymnasium in seinem Heimatort Walldorf bei Heidelberg gehen, auf das die meisten seiner Freunde in die fünfte Klasse wechseln. Kultusminister Stoch will das Gymnasium nicht zwingen, den Elfjährigen aufzunehmen. Die Schule hatte sich vehement gewehrt.

Die Entscheidung des Ministers ist hoch politisch, weil die grün-rote Landesregierung von Baden-Württemberg im Koalitionsvertrag versprochen hat, Eltern von behinderten Kindern ein Wahlrecht einzuräumen. Das Kultusministerium stellte nun klar: Es solle zwar ein Wahlrecht für Eltern von behinderten Kindern eingeführt werden, damit sie sich zwischen Sonder- und Regelschulen entscheiden könnten. Dabei gehe es aber nicht um ein absolutes Wahlrecht für eine bestimmte Schule. Die Schulverwaltung werde den Eltern Vorschläge unterbreiten, welche Schulen für ihr Kind am besten geeignet seien.

Der Fall zeigt, wie viele offene Fragen der gemeinsame Unterricht von behinderten und nicht-behinderten Schülern in der Praxis aufwirft. Das Thema Inklusion haben alle Länder auf der Agenda. Doch bei den Feinheiten hakt es. Die Inklusion körperlich behinderter Kinder ist an vielen Gymnasien längst Normalität, auch an der Wunschschule von Henris Eltern. Doch im Walldorfer Fall geht es um einen geistig Behinderten, der wohl nie Abitur machen könnte. Mutter Ehrhardt weiß das, aber darum geht es ihr nicht. «Wir möchten einfach unsere inklusive Klasse fortsetzen, hier am Ort», sagt sie.

Doch einfach schien nichts in den vergangen Wochen. Und auch nach der Entscheidung des Kultusministeriums ist unklar, wie es mit Henri weitergeht. Der einzige Kompromiss war für Ehrhardt bislang die Realschule im selben Schulzentrum, doch die entschied sich ebenfalls gegen ihren Sohn. Und auch hier möchte das Kultusministerium nicht auf Zwang setzen. Inklusion um jeden Preis soll es auch nicht sein.

Das Thema ist bundesweit ein Aufreger – für beide Seiten. Viele Unterstützer von Henris Eltern werfen Skeptikern Behindertenfeindlichkeit vor und dem Walldorfer Gymnasium Dünkel. Eine Petition für den Gymnasialbesuch des Jungen hat mehr als 25.000 Unterstützer. Die Gegenpetition bringt es auf immerhin gut 3.700. Hier heißt es: «Henri sollte für sein und das Wohl aller nicht auf das Gymnasium gehen.» Viele sehen in dem Fall einen Gradmesser, wie weit die Gesellschaft in Sachen Inklusion schon ist.

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Nicht sehr weit, findet Henris Grundschulleiter Werner Sauer. «Was mich gestört hat ist, dass Leute zu Wort kommen, die gar nichts von der Sache verstehen», sagt er. «Es wurde gleich schweres Geschütz aufgefahren. Da sind Gräben aufgerissen worden.» Die Debatte sei sehr enttäuschend verlaufen. «Es ist eine ganz scheinheilige Diskussion: Man möchte Inklusion, aber man schafft nicht die Voraussetzungen dafür.»

Es seien viele Vorurteile hochgekommen, etwa, dass behinderte Kinder den Unterricht aufhielten und leistungsstärkere Schüler ausbremsten, sagt Sauer. Der Zugewinn an Sozialkompetenz für die Kinder sei kaum Thema gewesen. Sauer ärgert sich, dass er vier Jahre lang Vorarbeit geleistet hat und jetzt keine Lösung für Henri in Sicht ist. «Es kann nicht nach der Grundschule einfach zu Ende sein.»

Das Walldorfer Gymnasium ist seit Wochen in der Defensive. Nach der Entscheidung ist die Vorsitzende des Elternbeirats erleichtert. Die Anfeindungen gegen die Schule seien nur schwer zu ertragen und sehr verletzend gewesen. Momentan sei das Gymnasium einfach noch nicht dafür ausgestattet, ein Kind mit einem anderen Bildungsziel als dem Abitur zu unterrichten, sagt Regina Roll. In einigen Jahren sehe das sicher ganz anders aus. dpa

Zum Bericht: Inklusion: Lehrer schlagen Alarm – „Kinder mit Verhaltensstörungen in Regelschulen kaum zu betreuen“

Zum Bericht: Fall Henri bei Günther Jauch

Zum Kommentar: Der Fall Henri – Kultusminister Stoch drückt sich um eine klare Ansage:

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mehrnachdenken
9 Jahre zuvor

Auch in dem dpa-Artikel wird mit keinem Wort darauf hingewiesen, dass in der UN-Konvention nichts davon steht, ALLE Kinder in EINER Schule zu unterrichten. Zweitens wird auch dieses Mal verschwiegen, dass in der UN-Konvention nicht verlangt wird, ein durchaus LEISTUNGSFÄHIGES und FUNKTIONIERENDES FÖRDERSCHULSYSTEM „platt zu machen“.
Diesen einseitig informierenden – oder sollte ich besser manipulierenden – Journalismus (dann auch noch von der deutschen Presseagentur) kritisiere ich auf das Schärfste.
Die Inklusionsbefürworter berufen sich aber ständig auf die UN-Konvention, um damit ihr durchaus ideologisch motiviertes Ziel einer „Schule für alle“ durchzudrücken.

Ich verstehe auch überhaupt nicht, warum es trotz dieser eindeutigen Faktenlage in den Länderparlamenten gelingen konnte, das Inklusions-Thema so einseitig zu interpretieren. Nicht nur in diesem Fall kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass so manche Volksvertreterin (mancher Volksvertreter) überhaupt nicht weiß, worüber sie oder er da abstimmt.

Henris Lehrer Sauer nennt die „Sozialkompetenz“ als Zugewinn beim inklusiven Unterricht. Das will niemand bestreiten, andererseits reichte mir das als Begründung für den inklusiven Unterricht keineswegs aus.
Zudem erinnert mich diese Argumentation immer an die ideologischen Kampfparolen von Klafki und Genossen, für die Faktenwissen schon immer nicht so wichtig gewesen war.