Die Abschaffung der Sonderschulpflicht für behinderte Kinder in Baden-Württemberg rückt näher. Kultusminister Andreas Stoch (SPD) hat den entsprechenden Gesetzentwurf am Donnerstag in den Landtag eingebracht. «Es geht um nicht mehr und nicht weniger, als darum, was unsere Gesellschaft in ihrem Innersten eigentlich zusammenhält», sagte der Minister in Stuttgart. Die Integration behinderter Kinder an allen allgemeinbildenden Schularten sei eine Kraftanstrengung für alle Beteiligten und nur als langfristiger Prozess zu verstehen. Dafür stellt das Land im Schuljahr 2015/2016 den kommunalen Schulträgern rund 18 Millionen Euro bereit sowie 200 Stellen für die allgemeinbildenden Schulen.
Redner der Regierungsfraktionen sprachen von einem historischen Tag für die Teilhabe Behinderter; die Opposition warf Stoch in zentralen Punkten Unklarheit und Unschärfe vor, bekannte sich aber im Grundsatz zu der sogenannten Inklusion an den allgemeinbildenden Schulen.
Der FDP-Abgeordnete Timm Kern befand, das Gesetz sei mit «heißer Nadel gestrickt». Er bedauerte, dass die Oppositionsfraktionen nicht am Gesetzesentwurf beteiligt worden seien und die Inklusion an Privatschulen ungenügend bezuschusst sei. Die mehrfach verschobene Gesetzgebung sei «in letzter Sekunde durchgepeitscht» worden, bemängelte die CDU-Abgeordnete Monika Stolz.
Sie vermisse klare Aussagen dazu, welchen Umfang die Unterstützung der Regelschul-Lehrer durch Sonderpädagogen haben werde. Sie dürften am Ende nicht mit der Aufgabe alleingelassen werden. Bei der Gruppeninklusion stelle sich die Frage, wie man dem möglicherweise sehr unterschiedlichen Förderbedarf der Kinder gerecht werden könne. Nicht ohne Grund gebe es im Südwesten neun Sonderschularten.
Zudem fehlten klare Kriterien für die Zuordnung behinderter Kinder zu den Schulen: Die mit der Steuerung beauftragten Schulämter seien im Zwiespalt zwischen pädagogischen und verteilungspolitischen Erwägungen. Ebenso im Dunkeln lägen die dringend benötigte Fortbildung für die Regelschullehrer und Konzepte gegen den Mangel an Sonderpädagogen. Auch die Finanzierung des Vorhabens stehe auf «tönernen Füßen», da die Regierung von einer Inklusionsquote von 28 Prozent ausgehe. Diese liege bereits jetzt höher. «Inklusion kann nur gelingen, wenn sie gut gemacht wird», sagte die ehemalige Sozialministerin.
Kern und Stolz räumten als Pluspunkte ein, dass das Gesetz den Bestand der Sonderschulen gewähre und Sonderpädagogik als eigenständiges Lehramt erhalten bleibe. Euphorie herrschte dagegen bei den Fraktionen von Grünen und SPD, die das Gesetz als «Meilenstein» in der Bildungsgeschichte Baden-Württembergs feierten. «Mädchen und Jungen mit Behinderung werden nicht mehr aussortiert, wenn sie dies nicht wollen», sagte der SPD-Abgeordnete Klaus Käppeler. Thomas Poreski (Grüne) mahnte die CDU, ihre «Ja, Aber»-Haltung aufzugeben und dem Gesetzentwurf in der zweiten Lesung zuzustimmen.
Der Gemeindetag macht wie Stolz auf Unsicherheiten bei der Finanzierung aufmerksam. Keine Modellrechnung könne vorhersehen, wie viele Eltern tatsächlich eine inklusive Beschulung für ihr Kind wählen. Es sei deshalb von zentraler Bedeutung, dass das Land wie versprochen auch eventuell über die Prognose hinausgehende Kosten übernehmen werde. Gemeinde- und Städtetag bemängelten, dass es trotz positiver Erfahrungen in anderen Bundesländern keinen Einstieg in die Inklusion über Schwerpunktschulen gebe. Grün-Rot befürchte, dass damit durch die Hintertür neue Sonderschulen entstehen.
Auch in Rheinland-Pfalz war der gemeinsame Unterricht kurz vor der Sommerpause noch einmal Thema. In vielen Schulen wird nach Ansicht der CDU gemeinsamer Unterricht von behinderten und nicht behinderten Kindern angeboten, obwohl die Voraussetzungen fehlen. In mehr als 300 Klassen an den sogenannten Schwerpunktschulen säßen vier oder teilweise bis zu zwölf Schüler mit einer Beeinträchtigung oder Behinderung, sagte die bildungspolitische Sprecherin der CDU-Landtagsfraktion, Bettina Dickes, am Donnerstag in Mainz.
«Dann kann man auch nicht mehr von einer inklusiven Beschulung sprechen», sagte Dickes. Der Richtwert in solchen Fällen läge bei zwei bis drei Kindern. Sei der Anteil deutlich höher, werde der Unterricht zum Teil notgedrungen für alle Schüler komplett umgestellt.
Rot-Grün hatte im vergangenen Jahr eine Novelle des Schulgesetzes beschlossen. Eltern behinderter Kinder können seitdem wählen, ob ihr Kind auf eine Förderschule oder eine Schwerpunktschule geht. Das gemeinsame Lernen behinderter und nicht behinderter Kinder soll an den Schwerpunktschulen gefördert werden.
«Wir können nur so viel Inklusion anbieten, wie Ressourcen zur Verfügung stehen», argumentierte Dickes. Bevor der gemeinsame Unterricht ausgeweitet wird, müssten eindeutige Mindeststandards festgeschrieben werden. «Und diese Standards müssen einfach gelten – im Sinne des Kindes.» Die CDU zog ihre Bilanz der Schulgesetznovelle nach eigenen Angaben auf Basis mehrerer Anfragen von Unions-Landtagsabgeordneten.
Die Grünen im Mainzer Landtag warfen Dickes und der Union eine «Fundamentalopposition» vor. «Rheinland-Pfalz kommt mit dem Gesetz seiner Verantwortung nach, allen Menschen einen gleichberechtigten Zugang zu Bildungsangeboten zu gewähren», sagte die bildungspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, Ruth Ratter. Julia Giertz/dpa
