Eine Analyse von ANDREJ PRIBOSCHEK.
DÜSSELDORF. Man braucht keine Glaskugel, um vorhersagen zu können: Das kommende Jahr wird ein besonderes für die Lehrerinnen und Lehrer in Deutschland – ein Jahr des Umbruchs. Absehbar ist, dass die vielen Flüchtlingskinder die Schulen an den Rand des Möglichen bringen werden. Allerdings gibt es Zeichen der Hoffnung: Anders als noch bei der Inklusion, die tatsächlich von vielen Politikern als Sparmodell (miss-)verstanden wurde, ist jetzt jedem klar, dass die Schulen mehr Mittel benötigen. Tatsächlich fließt Geld. Und das wird den Unterricht in Deutschland grundlegend verändern.
Valerie Everett / flickr (CC BY-SA 2.0)
Dass es hart werden wird in den Schulen, ließ sich den Worten von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) entnehmen. Er stimmte Lehrer und Eltern im November darauf ein, dass die Standards in der Bildung gesenkt werden müssten. Es bestehe die Notwendigkeit für mehr Improvisation, sagte er. Das bedeute nicht eine „dauerhafte Absenkung von Standards“, sondern sei ein „improvisierter, mit gesundem Menschenverstand“ gewählter Zugang zu Lösungen.
Naheliegend ist folgendes Szenario: Auf die Schnelle sind kaum genügend Lehrkräfte aufzutreiben, um die geschätzt 400.000 Flüchtlingskinder, die wohl 2015 in die Schulen gekommen sind und in den nächsten Wochen und Monaten noch kommen werden, sofort angemessen fördern zu können. Die Klassen werden größer. Manche Eltern werden dafür die Schulen verantwortlich machen. Der Druck wird steigen.
Für Deutschkurse werden überwiegend pensionierte Lehrkräfte herangezogen; wo deren Zahl nicht ausreicht, müssen ehrenamtliche Helfer ohne pädagogische Erfahrung einspringen. Mancherorts wird es auch davon nicht genug geben, sodass so mancher Lehrer Kinder bei sich im Regelunterricht findet, die kein einziges Wort Deutsch sprechen und womöglich sogar (obwohl sie alt genug sind) noch nie eine Schule von innen gesehen haben. Und es wird weitgehend ihm und der Schule überlassen bleiben, ob und wie er diese Kinder integriert bekommt. In den vergangenen Wochen und Monaten haben etliche Kollegien eine Menge an unbezahlten Überstunden am Nachmittag und Abend geleistet, um diesen Kindern Deutsch beizubringen – und ihnen damit überhaupt erst eine Chance zu geben, in diesem Land Fuß zu fassen. Überaus anerkennenswert, wie viel Engagement Lehrerinnen und Lehrer hier gezeigt haben und zeigen.
Hier ist schnelle Hilfe geboten. In absehbarer Zeit werden die Kräfte schwinden. Allerdings ist auch Unterstützung in Sicht: Der Bund hat seine Finanzhilfe für die Bundesländer für 2015 und 2016 um zwei Milliarden Euro aufgestockt, damit diese – auch – in die Schulen investieren können. Immerhin 7.500 Lehrerstellen haben die Bundesländer laut Philologenverband bis jetzt zusätzlich geschaffen, um die schulische Integration der Flüchtlingskinder voranzubringen. Das ist zwar noch nicht genug. Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat aber bereits einen Bedarf von mindestens 20.000 Stellen eingeräumt, um den neuen Schülern gerecht werden zu können. Kommen mehr als die erwarteten 400.000 Kinder – dann mehr. Und: „Mit neuen Lehrerstellen allein ist es nicht getan“, so gab die bisherige KMK-Präsidentin, Sachsens Kultusministerin Brunhild Kurth (CDU), im September zu Protokoll: „Uns als KMK geht es um mehr, um Mittel für mehr Schulsozialarbeiter und Psychologen, die den traumatisierten Asylkindern helfen können, und um mehr Kapazitäten für die Lehrerausbildung an den Universitäten.“ Das klingt gut.
Tatsächlich aber ist die Großzügigkeit der Länder für ihre Schulen bislang recht unterschiedlich ausgeprägt: Die Hälfte (genau: 3.653) der zusätzlichen Lehrerstellen entfällt auf ein einziges Bundesland, nämlich Nordrhein-Westfalen. Aber andere Länder ziehen nach: Niedersachsen beispielsweise stellt im kommenden Schulhalbjahr 1.600 zusätzliche Pädagogen ein, Bayern schafft zum 1. Januar zusätzliche 1.700 Stellen, Baden-Württemberg immerhin 600, nachdem 900 bereits zu Schuljahresbeginn eingerichtet wurden. Letzteres ist insofern bemerkenswert, weil gerade das Ländle noch vor zwei Jahren 11.600 Lehrerstellen hatte streichen wollen – trotz der bevorstehenden Inklusion. Wie News4teachers durch eine Sichtung der Bundestagsprotokolle von der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention nachweisen konnte, gingen seinerzeit alle Parteien (bis auf die FDP) davon aus, dass die Inklusion nicht nur gratis zu haben sei, sondern am Ende sogar Geld spare. Davon ist in der aktuellen Situation, gottlob, keine Rede mehr.
Was aber passiert, wenn die vielen zusätzlichen Stellen gar nicht besetzt werden können – weil der Arbeitsmarkt gar nicht genug Bewerber hergibt? Der Engpass ist absehbar. „Die Länder stehen vor einer Herausforderung, denn der Markt ist, gerade im Osten, weitgehend leer“, sagte Kurth. Sicher, die üblichen Mechanismen wie die Anwerbung von Seiteneinsteigern werden in Gang gesetzt. Dazu kommt jetzt aber eine ganz neue Perspektive ins Spiel: die Digitalisierung des Unterrichts. Die Flüchtlingskinder können nach Meinung etwa von Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) künftig auch stärker per Computer in deutscher Sprache unterrichtet werden. Er habe sich schon verschiedene Möglichkeiten angeschaut. Das Internet biete neue Möglichkeiten. Dies sollte man nun in die Fläche bringen.
Da trifft es sich gut, dass ohnehin der politische Druck wächst, die bislang stiefmütterlich behandelte digitale Bildung in Deutschland voranzubringen – parteiübergreifend. So forderte der Bundestag unlängst mit einer Entschließung die Länder auf, mehr in die IT-Ausstattung der Schulen zu investieren. Ein „Pakt für Digitale Bildung“ aus Politik, Wirtschaft, Schulen und Hochschulen soll den Unterricht verändern. Die nordrhein-westfälische Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) meinte auch schon: „Gerade mit Blick auf Inklusion bieten digitale Medien neue Möglichkeiten für die individuelle Förderung.“ Und was bei der Inklusion denkbar ist, gilt für Flüchtlingskinder sicher nicht minder.
Ich lege mich fest: 2016 wird das Jahr, an dem die flächendeckende Digitalisierung der Schulen in Deutschland beginnt.
