Wie sensibel muss die Gesellschaft mit Minderheiten umgehen? Intersexuelle/r will „drittes Geschlecht“ anerkennen lassen – und zieht deshalb vors Verfassungsgericht

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KARLSRUHE. «Junge oder Mädchen?», fragen die Leute schon vor der Geburt. Aber etwa 80.000 Menschen in Deutschland sind weder Mann noch Frau. Wie Vanja. Mit einer Verfassungsklage kämpft er/sie für mehr Normalität.

Altgriechische Statue eines Hermaphroditen. Foto: Wikimedia Commons / Lady Lever Art Gallery
Altgriechische Statue eines Hermaphroditen. Foto: Wikimedia Commons / Lady Lever Art Gallery

Da ist zum Beispiel die Sache mit den Toiletten. Viele Jahre geht Vanja aufs Frauen-Klo, inzwischen lieber zu den Männern. Nicht weil sich das in irgendeiner Weise richtiger anfühlen würde – es ist nur einfacher. «Da ist es weniger wahrscheinlich, dass Leute mich ansprechen», sagt Vanja, 26 Jahre, die ursprünglich aus Gehrden in der Region Hannover stammt und heute in Leipzig lebt. Die dunklen Haare unter der Kappe trägt Vanja kurz, in letzter Zeit auch einen kleinen Bart. So geht man schlecht als Frau durch. Auch wenn die Behörden Vanja mit dem Geschlecht «weiblich» führen.

Vanja ist intersexuell, also zwischen den Geschlechtern geboren, nicht Mann, nicht Frau. Als Kind trägt sie einen Mädchennamen und Mädchenkleider. Aber darauf hat Vanja bald keine Lust mehr, hat schon im Kindergarten «so ein Grundgefühl, dass das für mich nicht stimmt», auch wenn erst die Pubertät ihr Anderssein offensichtlich macht.

Schätzungsweise 80.000 Intersexuelle gibt es in Deutschland. «Die meisten von ihnen erkennen über die Zeit, dass sie mehr als Mann oder mehr als Frau leben möchten», sagt Lucie Veith, Bundesvorstand des Vereins Intersexuelle Menschen. Anders bei Vanja: «Mir ist relativ schnell klar gewesen, dass Junge auch nicht so richtig passt.»

Seit November 2013 sieht das Gesetz die Möglichkeit vor, die Eintragung offen zu lassen, wenn das Geschlecht eines Neugeborenen nicht eindeutig ist. Das soll auch den Druck von Eltern und Ärzten nehmen, im Zweifel mit einer Operation für Klarheit zu sorgen, an deren Folgen etliche Intersexuelle ein Leben lang leiden. Noch 2014 wurden 177 Kinder bis fünf Jahre operiert.

Nach Angaben der Bundesregierung haben bis Januar 2016 Eltern in etwa zwölf Fällen vorerst auf den Eintrag verzichtet, die Zahlen sind aber unzuverlässig. Menschen wie Vanja eröffnet die Neuregelung den Weg, ihren Geschlechtseintrag noch als Erwachsene löschen zu lassen.

Aber das will Vanja nicht. «Natürlich kann man sagen, dass das vielleicht besser ist, als einen offensichtlich falschen Eintrag zu haben. Aber wenn die einen eine klare Identität bekommen, und die anderen sind nichts oder unbestimmt, dann ist das nicht das Gleiche.»

Mit der Unterstützergruppe «Dritte Option» will Vanja deshalb erreichen, dass in Deutschland ein «drittes Geschlecht» wie «inter» oder «divers» eingeführt wird. Der Deutsche Ethikrat hat das (in der Variante «anderes») schon 2012 empfohlen. Vor den Gerichten ist Vanja bisher gescheitert, zuletzt beim Bundesgerichtshof (BGH). Am Freitag hat die Gruppe in Karlsruhe Verfassungsklage eingelegt.

«Wenn es eine Anerkennung gibt, wird sich vielleicht auch in der Gesellschaft die Überzeugung durchsetzen, dass diese Menschen keine Montagsproduktion des lieben Gottes sind», sagt Veith, deren Verein Vanjas Forderung unterstützt. Sie hofft auf das Verfassungsgericht, das mit mehreren Entscheidungen in der Vergangenheit bereits die Situation transsexueller Menschen maßgeblich verbessert hat.

Die Juristin Angela Kolbe, die für ihre Forschungen zur rechtlichen Stellung intergeschlechtlicher Menschen von der Körber-Stiftung ausgezeichnet wurde, sieht einen klaren Grundrechtsverstoß. «Die Geschlechtsidentität jeder Person wird vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht geschützt», sagt sie. «Das gibt auch ein Recht auf den dazu passenden Geschlechtseintrag.»

Kolbe ist überzeugt, dass der Gesetzgeber auch deshalb vor der Einführung eines «dritten Geschlechts» zurückschreckt, weil das Änderungen insbesondere im Familienrecht notwendig machen würde. Aber im Grunde stellen sich die Fragen schon mit der Neuregelung von 2013: Eine Ehe darf nur von verschiedengeschlechtlichen Menschen eingegangen werden, eine eingetragene Lebenspartnerschaft nur von gleichgeschlechtlichen – was aber, wenn der Eintrag offen bleibt?

Vanja ist klar, dass der Weg zu mehr Normalität ein sehr langer ist. Im Bekleidungsgeschäft hängen selbst die Socken entweder in der Herren- oder in der Damenabteilung. Auf dem Amt winden sich Mitarbeiter vor Verlegenheit, weil auf dem Formular ein «m» oder ein «w» anzukreuzen ist. An den guten Tagen, wenn sich alles stimmig anfühlt, kann Vanja darüber lachen. «Aber klar – manchmal ist es auch einfach anstrengend. Und dann macht es schon auch traurig.» Von Anja Semmelroch, dpa

Zum Bericht: Jetzt nimmt sich auch die CSU des Themas “Sexuelle Vielfalt” an – bald auch Proteste in Bayern?

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