ERFURT. Das Schulmassaker am Erfurter Gutenberg-Gymnasium liegt 15 Jahre zurück. Mit einer Gedenkstunde will die Schule am 15. Jahrestag an die Opfer der Bluttat vom 26. April 2002 erinnern. Für die Schulen in Deutschland bedeutete das Geschehen einen Umbruch: Sie sind heute mit Sicherheitskonzepten besser auf solche Albtraum-Szenarien vorbereitet. Der Deutsche Lehrerverband sieht allerdings noch weiteren Handlungsbedarf – und fordert zum Beispiel mehr Schulpsychologen.
Am 26. April 2002 wird die Ärztin Simone Liebl-Biereige nach einem anstrengenden Nachtdienst in ihrer Wohnung in Erfurt von Telefonklingeln geweckt. «Am Gutenberg-Gymnasium wird geschossen», ruft ihr eine aufgeregte Stimme ins Ohr. 15 Jahre liegt es zurück, dass sich in der thüringischen Landeshauptstadt ein in dieser Dimension in Deutschland bis dahin nicht gekanntes Schulmassaker ereignet. Innerhalb einer knappen Viertelstunde erschießt ein 19-Jähriger in der Schule 16 Menschen, bevor er sich selbst tötet. Am Mittwoch (26. April) erinnert die Schule in einer Gedenkveranstaltung an die Opfer, dabei soll auch eine eigens dafür gegossene Schulglocke erklingen.
Liebl-Biereige gehört zu den Notärzten, die in der Schule im Einsatz sind. Sie hat die Bilder von damals noch vor Augen. «Mein Auftrag lautete, nach verletzten Schülern zu suchen», erzählt die heute 47-Jährige, die unter dem Schutz eines Spezialeinsatzkommandos (SEK) in das Schulgebäude kommt. Hilfe leisten kann sie nicht mehr. Elf Lehrer, eine Referendarin, eine Sekretärin, zwei Schüler und einen Polizisten hat der Amokschütze, ein ehemaliger Schüler des Gymnasiums, getötet. Die Toten liegen im Sekretariat, im Treppenhaus, in Unterrichtsräumen. Auch eine frühere Lehrerin der Ärztin ist unter ihnen.
Die Opfer hätten vor allem Kopf- und Bauchverletzungen erlitten, beschreibt die Ärztin. Teilweise seien die Schüsse aus nächster Nähe abgegeben worden. «Es war wie eine Hinrichtung.» Der 19-Jährige, Mitglied in einem Schützenverein und deshalb zum Waffenbesitz berechtigt, war kurz vor der Tat wegen eines gefälschten Arzt-Attests von der Schule verwiesen worden. Die Lehrer erschießt er gezielt, die Schüler trifft er durch eine geschlossene Tür.
Am Gutenberg-Gymnasium lernen heute 650 Schüler, 15 der 55 Lehrer haben die Tragödie damals miterlebt. Nicht alle wollten über ihre Erlebnisse sprechen, sagt Dominik, ein 17 Jahre alter Schüler, der kurz vor dem Abitur steht. Allerdings: «Wenn ein Klassenbuch auf den Tisch fällt oder es einen Knall gibt, zuckt mancher zusammen.» Eine 15-Jährige, die anonym bleiben möchte, erzählt von ihrer Schwester. Sie sei damals während der Schüsse in der Schule gewesen. «Sie hat nie darüber erzählt. Sie schweigt.»
«Als wir nach der Grundschule aufs Gutenberg-Gymnasium gewechselt sind, hatten einige Angst, dass sich sowas wiederholt», erzählt der 18-jährige Nick. Im Schulalltag spielten die Ereignisse aber kaum eine Rolle. «Es sollte endlich mal gut sein», sagt ein Anwohner, der seinen Namen nicht nennen möchte. «Die Schüler von damals sind längst aus der Schule. Man macht die jetzigen Schüler nur noch verrückt.»
«Niemand war damals auf ein solches Ereignis vorbereitet», sagt die Medizinerin Liebl-Biereige, die sich vor allem an Kommunikationsschwierigkeiten unter den zwei Einsatzleitungen erinnert. Während SEK-Kräfte auf der Suche nach einem vermeintlichen zweiten Täter mehrere Stunden lang jeden einzelnen Raum durchkämmten, konnten Rettungskräfte nicht ins Gebäude. In Klassenzimmern harrten völlig verängstigte Schüler teils bis zum Nachmittag aus, unter ihnen auch zwei Neffen der Ärztin.
Wenn der Amok-Notruf kommt – Fehlalarme sorgen zunehmend für Aufregung in Schulen
Der Polizeieinsatz führte später zu kontroversen Diskussionen, die Landesregierung setzte eine Kommission zur Untersuchung der Abläufe ein. Diese kam zu dem Schluss, dass die Kommunikation zwischen den Einsatzkräften viele Schwachstellen gehabt habe, was zum Teil auf die Technik zurückzuführen sei. Im Grundsatz aber stellte sich der Bericht hinter das Vorgehen von Polizei und Rettungsdienst. Dennoch gab es Konsequenzen: Die Polizeitaktik ist zum Beispiel für solche Fälle überarbeitet worden. Nunmehr sollen auch Streifenpolizisten bei Amokläufen sofort in das Gebäude zum Täter vordringen.
«Heute gibt es in allen Bundesländern Notfallpläne für Amokläufe an Schulen», sagt Ilka Hoffmann, Mitglied im Bundesvorstand der Bildungsgewerkschaft GEW. «Da ist wirklich etwas passiert.» Vorreiter war Thüringen, wo als Konsequenz aus dem Schulmassaker praktische Hinweise für Krisensituationen erarbeitet und schulische Krisenteams aufgebaut wurden. Das Gutenberg-Gymnasium selbst ist seit einem Umbau nach dem Schulmassaker mit einem modernen Informationssystem ausgestattet, über die Warnungen in jeden einzelnen Raum in dem Gebäude durchgegeben werden können.
Hier sei allerdings an anderen Schulen noch einiges zu tun, findet Christiane Alt, damals wie heute Direktorin des Gutenberg-Gymnasiums. «Es ist erstaunlich, dass es 15 Jahre danach immer noch Bedarf gibt.»
Auch Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbands, sieht weiterhin Handlungsbedarf. Er stellt zwar Fortschritte bei der Erarbeitung von schulischen Sicherheitskonzepten und Notfallplänen fest – kritisiert aber, dass “eine als präventives Frühwarnsystem notwendige Kultur des Hinhörens und des Hinsehens immer noch zu wenig ausgeprägt ist”. Er fordert (siehe Beitrag unten), insbesondere dem Medienkonsum von Jugendlichen mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Auch fordert Kraus mehr Schulpsychologen. Laut Bundesverband Deutscher Psychologen auch heute kein einziges Bundesland den aus seiner Sicht anzustrebenden Versorgungsschlüssel von einem Psychologen für 1500 Schüler. N4t / mit Material der dpa
In einer Pressemitteilung hat Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Fortschritte bei der Prävention von Amokläufen gelobt – aber auch Defizite beschrieben. Kraus betont: “Die Vorbereitung der Schulen auf einen möglichen Ernstfall durch technische Ausrüstung und durch eingeübte Konzepte ist ein sehr wichtiger Aspekt. Ebenfalls wichtig sind gesellschaftliche Vorgänge wie die Verschärfung des Waffenrechts. Gleichzeitig kann es aber nicht darum gehen, mit einem Übermaß an Kontrollen die Schulen zu Festungen auszubauen.”
Noch mehr Aufmerksamkeit als bislang – vor allem auch angesichts des verstärkt um sich greifenden Cyber-Mobbings – müsse dem Medienkonsum von Jugendlichen und der zunehmenden Verbreitung von Gewalt via Computern, Spielekonsolen, Fernseher und Smartphones gelten. Untersuchungen zeigen eindeutig: Wenn ein Jugendlicher solche Medien in seinem Zimmer habe, würden diese Medien nicht nur doppelt so lange, sondern auch zum Konsumieren weitaus brutalerer Inhalte genutzt. Ein exzessiver Konsum von Computerspielen führe zu Abnabelung von Freunden und Familie, zum Nachlassen bei schulischen Leistungen und damit auch zu Perspektivlosigkeit. Zwar führe das nicht in jedem Fall zu Gewalt, doch ein Hinsehen von Familie, Freundeskreis, Schule und Gesellschaft auf entsprechend geprägte Heranwachsende sei in jedem Fall notwendig. Der Gewaltbereitschaft junger Menschen könne nur dann wirksam begegnet werden, wenn Politik, Medien, Jugendarbeit und Elternhäuser an einem Strang zögen und die Schulen bei diesem Problem nicht allein gelassen würden.
Kraus erneuerte seine Forderung nach regionalen Anti-Gewalt-Gipfeln, bei denen alle betroffenen gesellschaftlichen Gruppen über Vorgehensweisen beraten und sich vernetzen könnten. Dabei müsse auch sichergestellt werden, dass die besprochenen Maßnahmen umgesetzt würden und nicht bloße Beschlüsse blieben. Außerdem fordert Kraus eine bessere Ausstattung der Schulen mit Schulpsychologen, damit auffällige Schüler bereits dort früher erkannt und einer professionellen Betreuung zugeführt werden könnten.
Zitat: “Lehrerverbands-Chef Kraus fordert mehr Aufmerksamkeit für Medienkonsum von Jugendlichen”
Ich denke, das ist eine gesellschaftliche Frage. Sie gehört zu den “Nachteilen” einer freiheitlichen Gesellschaft, die ich sehr schätze. Man müsste gewisse gewaltverherrlichende Filme, Videospiele etc. verbieten, aber das geht eben in einer freiheitlichen Gesellschaft nicht, weil die Menschen das als Einschränkung ihrer Freiheit verstehen würden und dazu mehrheitlich nicht bereit sind. Da werden wir wohl damit leben müssen, dass natürlich nicht jeder, der Gewaltfilme schaut und Gewaltspiele spielt, ein Täter wird, aber der eine oder andere eben doch. (Und es ist ja auch nicht die einzige Quelle von Gewalt.)
Hinweise, dass Filme erst ab … gesehen werden sollten, halte ich jedenfalls für wenig hilfreich. Gerade gefährdete Kinder haben meist niemanden, der es ihnen verbietet.
“Man müsste gewisse gewaltverherrlichende Filme, Videospiele etc. verbieten, aber das geht eben in einer freiheitlichen Gesellschaft nicht, ”
Doch, das geht. Das ging in der freiheitlichen Gesellschaft der 80iger auch. Da waren nämlich solche Filme auf dem Index und verboten. Für mich ist das ein falscher Ansatzpunkt. Das Schädliche muss ich ja nicht dulden. Freiheitliche Gesellschaft heißt nicht, dass alles erlaubt sein muss. Denn die Auswüchse schaden ja letztendlich der freiheitlichen Gesellschaft und machen diese wieder unfrei. Wenn ich in einer Gesellschaft leben muss, wo es immer gefährlicher wird, dann bin ich wieder eingeschränkt. Außerdem sehe ich das Freiheitliche besonders unter demokratischen Gesichtspunkten und der Meinungsfreiheit.