Blättern statt Scrollen: Leseclubs für Kinder in digitalen Zeiten begünstigen schulischen und beruflichen Erfolg

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KÖLN. Schon Astrid Lindgren sagte: «Eine Kindheit ohne Bücher wäre keine Kindheit». Hunderte Leseclubs bringen Kindern in ihrer Freizeit Bücher nahe. Das erhöht ihre Bildungschancen. Und könnte helfen, dass das gedruckte Kulturgut die Digitalisierung heil übersteht.

Lesen fördert die Entwicklung in vielerlei Hinsicht.                                      Foto: Berliner Büchertisch / flickr / CC BY-SA 2.0

Mayla und Karim hocken auf dem Boden, ganz vertieft in «Die Kleine Hexe». Karim hält ein Lesezeichen immer unter das Wort, das gerade dran ist. Das hilft dem Achtjährigen. Er liest konzentriert, etwas stockend, stolpert ab und zu. Dann korrigiert ihn Mayla. Das siebenjährige Mädchen liest jede Stelle einmal, der Junge dreimal. Stimmen kommen von der Kissenecke. Dort nehmen sich Antonius (9) und die siebenjährige Zeynep Zeile für Zeile vor. Abwechselnd. «Immer bis zum Punkt.» Manchmal springt Lese-Oma Sylvia Farmand ein. Im «Kapitelchen» in Köln, einem von bundesweit gut 400 Leseclubs. Geht es nach der Stiftung Lesen, sollen es bald doppelt so viele werden für Kinder zwischen 6 und 12 Jahren, geöffnet in deren Freizeit.

«Nur wer lesen kann, hat Chancen auf schulischen und beruflichen Erfolg», betont Daniel Schnock, Sprecher der Stiftung. «Und auch für digitale Medienkompetenz ist Lesen unerlässlich.» Für Kinder aus bildungsbenachteiligten Familien und für geflüchtete Jungen und Mädchen ist das keine Selbstverständlichkeit. «Nicht alle Kinder haben zuhause Zugang zu Büchern», schildert Lehrerin Lilli Föhres, die den Leseclub unterstützt. Noch dazu hat das Buch harte Konkurrenz: «Elektronische Medien sind für viele reizvoller, es wird lieber gescrollt statt geblättert.» Ein breiter Trend, der nicht nur zum Welttag des Buches am 23. April so manchem Sorgen bereitet.

Auch Leseoma Sylvia (76) weiß: «Die Kinder haben inzwischen total auf digital umgestellt.» Das gedruckte Buch habe es seit Jahren immer schwerer beim Nachwuchs. Daten der GfK-Konsumforscher zeigen für den gesamten Buchmarkt: 2016 sank die Zahl der Käufer um 2,3 Millionen auf 30,8 Millionen im Publikumsbereich, also ohne Schul- und Fachbücher. Im ersten Halbjahr 2017 waren es dann noch einmal 600 000 Käufer weniger.

Genug Gründe also, um früh mit der Leseförderung zu starten, Lust auf Bücher zu wecken. Wer konzentriert Texte erfassen kann, hat es leichter – und Blättern und Scrollen ist dabei eben nicht dasselbe, erläutert Pädagogin Ann-Katrin Ostermann. Das elektronische Lesen verlaufe viel selektiver, schneller, führe oft nicht zu dem tiefen Verständnis, das beim Eintauchen in ein Buch erreicht werde. Sie stellt fest: «Die häusliche Lese-Sozialisation sinkt deutlich.» Und betont: «Uns geht es auch darum, die Buchkultur zu bewahren.»

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Es geht nicht um hohe Literatur

Das «Kapitelchen» ist ein gemütlich umgebauter Raum in der Kölner Grundschule Kapitelstraße mit 90 Prozent Migrationsanteil. Die Regale sind gut gefüllt. Die Grundausstattung von rund 1.000 Büchern ist von der Stiftung Lesen gekommen. Es wird regelmäßig nachgeliefert. Zudem gehen Geschenke und Spenden ein. Andernorts sind die Clubs auch in Büchereien, kirchlichen Räumen, Buchläden oder Jugendzentren untergebracht. «Das Angebot wird sehr gut angenommen», berichtet Schnock. Ziel: mehr als 10.000 Kinder jährlich bundesweit in ihrer Freizeit erreichen.

Was in den Clubs angeboten wird, richtet sich nach Bedarf vor Ort. Beispiele: In einem Leseclub in Hamburg mit vielen Kindern afrikanischer Herkunft werden auch französischsprachige Geschichten gelesen. Kommen viele aus arabischen Kulturkreisen in einen Berliner Leserunde, dürfen «Märchen aus 1001 Nacht» nicht fehlen, sagt Schnock. Die Stiftung sorgt für Aus- und Fortbildung der mehr als 1.000 Ehrenamtlichen. In Köln, «nachhaltige Vorlesestadt 2017», fördert auch der Verein Run and Ride for Reading die Clubs – mit Promi-Unterstützung etwa von Fußballprofi Lukas Podolski.

Es gehe nicht um «hohe Literatur», erläutert Schnock, sondern darum, die Lese-Motivation anzuschieben. «Wir haben ein Fußball-Regal, Gruselgeschichten, Krimis», zählt Lilli Föhres auf. Auch Witz-Bücher oder Comics könnten ein Einstieg sein. Der Leseclub solle ein Rückzugsort sein, wo Stöbern ohne Leistungsdruck erlaubt ist, man in eine Fantasiewelt eintaucht.

Im «Kapitelchen» greifen die Kinder freudig zu. Klassiker wie die «Raupe Nimmersatt» gibt es auch auf Italienisch oder Türkisch, an Kinder aus Rumänien, Bulgarien oder Syrien ist bei der Auswahl ebenfalls gedacht. Die Lese-Oma ist stark gefragt. Manchmal fange sie fast bei Null an, aber: «Viele Kinder holen ganz schnell auf.» Und um mit Astrid Lindgren abzuschließen: «Das grenzenloseste aller Abenteuer der Kindheit, das war das Leseabenteuer.» dpa

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