„Schule gegen sexuelle Gewalt“: VBE bezweifelt Ernsthaftigkeit der Initiative

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STUTTGART. Sexueller Missbrauch in jungen Jahren verletzt die Betroffenen tief. Eine Initiative an Schulen soll nun dafür sorgen, dass es gar nicht so weit kommt. Allerdings: Personal, das für den Umgang mit dem Problem geschult ist, gibt es dafür nicht – der VBE bezweifelt deshalb die Ernsthaftigkeit der Initiative.

ScDie Polizei setzt darauf, dass Grundschullehrer betroffene Kinder erkennen (Symbolfoto). Foto: Jacek NL / Flickr (CC BY – NC 2.0)hulen sollen sich verstärkt um das Thema Missbrauch kümmern. Foto: Jacek NL / Flickr (CC BY – NC 2.0)
Lehrer sollen für das Thema Missbrauch sensibilisiert werden. (Symbolfoto). Foto: Jacek NL / Flickr (CC BY – NC 2.0)

Ziel der bundesweiten Initiative «Schule gegen sexuelle Gewalt» ist es, Schulen zu helfen, eigene Konzepte zum Schutz vor sexueller Gewalt zu erarbeiten oder weiterzuentwickeln. Fachinformationen sollen den 2500 Schulen im Land zugesandt werden. Überdies soll ein Fachportal den Lehrern Fragen, etwa zur rechtlichen Lage, beantworten. «Da gibt es kein Ignorieren, Beschönigen oder Wegschauen», sagte Baden-Württembergs Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) zum Start der Initiative in Baden-Württemberg (der in anderen Bundesländern schon erfolgte). Sexuelle Übergriffe von Schülern untereinander oder zwischen Lehrern und Schülern müssten stärker als Thema in der Aus- und Fortbildung von Pädagogen verankert werden.

Kein Lehrer dürfe in den Schulbetrieb kommen, ohne vorher mit dem Thema befasst gewesen zu sein. Die Schüler müssten so gestärkt werden, dass sie Grenzen setzen und sich im Ernstfall ohne Scham offenbaren könnten. Sie müssten ein wichtiges Wort lernen: nein.

Die GEW forderte mehr Fortbildungsangebote zum Thema. Um sich Zeit für die einzelnen womöglich Betroffenen nehmen zu können, müssten die Grundschulen endlich sogenannte Poolstunden erhalten. Währenddessen könne der Lehrer sich um solche Fragen kümmern.

„Keine Psychologen“

Der VBE geht noch einen Schritt weiter. „Beim Thema sexuelle Gewalt an Schulen handelt es sich ohne Wenn und Aber um ein wichtiges Thema. Der VBE unterstützt die Initiative deswegen auch ohne zu zögern“, erklärte Landesvorsitzender Gerhard Brand zwar in einer Pressemitteilung. Er frage sich aber, wie viel Ernsthaftigkeit tatsächlich hinter der Initiative steckt. Der VBE verkenne zwar keineswegs, dass Lehrkräfte in der Früherkennung von Fällen sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche eine wichtige Funktion einnehmen. „Lehrerinnen und Lehrer haben das Kindeswohl im Unterrichtsalltag natürlich im Blick und merken in der Regel, wenn etwas nicht stimmt. Auch nehmen Lehrkräfte ihre Rolle in der Früherkennung sehr ernst. Dem Land sollte aber klar sein: Wir Lehrerinnen und Lehrer sind keine Psychologen“, meint Brand.

Der VBE-Chef betont: „Für mich ist klar: Wenn man das Thema mit der gebotenen Ernsthaftigkeit angehen würde, dann würde man diese Aufgabe nicht auf dem Rücken der Lehrerinnen und Lehrer abladen. Sondern dann würde man die Schulen mit multiprofessionellen Teams, bestehend aus Schulpsychologen und Schulsozialarbeitern unterstützen. Diese haben nämlich die Ausbildung und das Knowhow, um angemessen mit Fällen von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche umzugehen.“ Um Schulen dazu in die Lage zu versetzen, angemessen mit sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche umzugehen und um der Initiative die notwendige Ernsthaftigkeit zu verleihen, fordert der VBE Baden-Württemberg die Bereitstellung von multiprofessionellen Teams, die Schulen in dieser Hinsicht unterstützen.

«Schule gegen sexuelle Gewalt» ist eine bundesweite Kampagne des Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, in Kooperation mit den 16 Kultusministerien. Baden-Württemberg ist das achte Bundesland, in dem das Projekt realisiert wird. Im vergangenen Jahr registrierte die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik deutschlandweit knapp 12.000 Ermittlungsfahren wegen sexuellen Kindesmissbrauchs, davon 1.127 in Baden-Württemberg. Die Dunkelziffer ist dabei aber hoch.

Keine eindeutigen Anhaltspunkte

Nach aktuellen Umfragen haben dem Ulmer Experten Jörg Fegert zufolge 13 Prozent der Menschen sexuelle Übergriffe erlebt und 2 Prozent sehr massive und fortgesetzte Gewalttaten, etwa mit Penetration. Nach Rörigs Worten muss jeder Lehrer damit rechnen, ein bis zwei Kinder in der Klasse zu haben, die missbraucht worden sind oder es gerade werden.

Rörig forderte eine konzertierte Aktion für den Kinderschutz. Er denke dabei nicht nur an Kultus- und Jugendministerien, sondern auch an die Finanz- und Justizressorts sowie Kirchen, Sportvereine und Angehörige. Auch IT-Unternehmen und Chat-Anbieter seien gefragt, weil Kinder und Jugendliche mittels digitaler Medien sexuellen Übergriffen ausgesetzt seien. Als Beispiele nannte er sexuelle Belästigung über das Internet (Cybergrooming) oder die ungewollte Verbreitung von eigenen sexuellen Darstellungen an Dritte (Sexting). Medienbildung ist Eisenmann zufolge an allen Schulen als Leitthema verankert.

Ist Eltern der offene Umgang mit dem Thema sexuelle Gewalt überhaupt lieb? Professor Fegert fand bei einer Befragung heraus, dass 90 Prozent der Mütter und Väter das wünschen. «Ich habe das nicht so erwartet. Zumal ich von vielen Lehrern gehört habe, sie würden sich mit dem Thema nicht gerne auseinandersetzen, sonst gäbe es Ärger mit den Eltern.» Dazu passt, dass nach Fegerts Angaben nur 25 Prozent der Eltern von der Schule – etwa bei Elternabenden – mit dem Thema konfrontiert werden.

Eindeutige Anhaltspunkte für sexuellen Missbrauch von Kindern existieren nach Ansicht Fegerts nicht. Aber viele Kinder sprächen über das Erlebte mit Lehrern oder Mitschülern. «Das zentrale Signal ist die Aussage des Kindes.» Doch das werde häufig ignoriert, sagte der Ärztliche Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Ulmer Uniklinik. dpa

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