Wie Schüler Argumentations- und Urteilskompetenz erlangen – Warum es gerade heute eines kompetenzorientierten Politikunterrichts bedarf

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KARLSRUHE. Die „Meldeportale“ der AfD haben auch den Beutelsbacher Konsens wieder in die Schlagzeilen gebracht. Der Politologe Georg Weißeno hat den Konsens einem historischen Blick unterzogen. Bei der Auseinandersetzung mit Parteien, die auf falsche Tatsachen setzen helfe er allerdings nicht weiter. Mehr denn je bedürfe es eines kompetenzorientierten Politikunterrichts.

Vor mehr als 40 Jahren einigten sich namhafte Politikdidaktiker und Schulpraktiker der Bundesrepublik auf den Beutelsbacher Konsens. Er gilt seitdem als Richtschnur politischer Bildung. Der Konsens legt die  drei Grundsätze Überwältigungsverbot, Kontroversitätsgebot und Wahrnehmung eigener Interessen fest. Demnach ist es Lehrern verboten, die Schüler im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und an der “Gewinnung eines selbständigen Urteils” zu hindern. in Wissenschaft und Politik kontrovers diskutierte Themen sind auch im Unterricht kontrovers zu diskutieren. Außerdem sollen Schüler qualifiziert werden, politische Situationen und ihre eigenen Interessenlagen zu analysieren.

Mündige Bürger sind ein Ziel des Politikunterrichts. Foto: Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres / flickr (CC BY 2.0)
Mündige Bürger sind ein Ziel des Politikunterrichts. Foto: Österreichisches Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres / flickr (CC BY 2.0)

Doch ob die Vereinbarung modernen Anforderungen noch gerecht wird, ist fraglich. Forderungen nach Neutralität und Überparteilichkeit von Politiklehrern im Unterricht sind aktuell wieder in den Schlagzeilen. Einzelne Parteien nutzen den Konsens als Hebel zur Einschüchterung von Lehrern.

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Der Karlsruher Politikwissenschaftler Georg Weißeno hat einen historischen Blick auf den 1976 getroffenen Konsens gelegt. Er macht deutlich, dass es sich bei den drei Grundsätzen um einen Minimalkonsens handelt, der radikale Vereinfachungen vorgenommen habe und inhaltsindifferent sei. Im Vordergrund stand damals das Ziel, die Spaltung der Bundlesänder mit sozialliberalem und christdemokratischem Politikunterricht zu vermeiden.

Die Intentionen der Übereinkunft – etwa den Unterricht vom Belehren auf mehr Diskussionen und freiere Arbeitsformen umzustellen – seien zwar aufgegangen. Hinsichtlich der Meinungs- und Bewusstseinsbildung von Jugendlichen gebe es jedoch einige Missverständnisse. Das Überwältigungsverbot beispielsweise helfe nicht weiter, wenn es im Unterricht um die Auseinandersetzung mit Parteien gehe, die auf falsche Tatsachen setzen. Auch sei die Illusion kontraproduktiv, dass sich durch Anwenden des Beutelsbacher Konsens die Qualität des Unterrichts verbessere.

Politische Urteils- und Handlungsfähigkeit werde vielmehr durch kompetenzorientierten Politikunterricht erreicht. In einem solchen Unterricht würden, so Weißeno politische Werte und Fachwissen in die Argumentationsstruktur aufgenommen und Fakten zum Abwägen kontroverser Positionen und politischer Wertaspekte herangezogen. „Argumentieren wird hier unabhängig von individuellen Normen und politischen Meinungsäußerungen, die das Alltagswissen darstellen, modelliert“, differenziert er.

Dabei seien „politische Meinungsäußerungen oder Behauptungen mit und ohne Stützung durch Fakten und Gegenfakten zu gewichten“. Darauf aufbauend könnten dann individuelle Entscheidungen getroffen werden, die politische Urteile sind und nicht nur persönliche Meinungen. Auf diese Weise werde bei Schülern die Basis für eine bewertbare, auf Fachwissen beruhende Argumentations- und Urteilskompetenz gelegt. Eine solche „civic literacy“ ermögliche es dann auch den Jugendlichen, nach der Schulzeit ihre eigenen Interessen zu vertreten und Nachrichten kritisch zu folgen. (zab, pm)

Der ganze Aufsatz von Georg Weißeno ist erschienen im Band „Der Beutelsbacher Konsens. Bedeutung, Wirkung, Kontroversen“ der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg zum 40-jährigen Jubiläum des Beutelsbacher Konsenses. Die Schrift kann für 2,- Euro zzgl. Versandkosten im Webshop der baden-württembergischen Landeszentrale für politische Bildung bestellt werden (www.lpb-bw.de/shop).

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