Konkurrenz für den Duden: Im Netz entsteht ein großes Sprachlexikon

3

BERLIN. Es ist vielleicht das ehrgeizigste Projekt der Sprachwissenschaft: Forscher wollen das größte deutsche Online-Wörterbuch erstellen. Auch Anglizismen wie das «Gendersternchen» könnten dort demnächst auftauchen. Die Duden-Redaktion sieht das Projekt kritisch.

Die Rechtschreibung hat in den Schulen offenbar an Stellenwert verloren. Foto: Claudia-Hautumm / pixelio.de
Die Rechtschreibung – ewiger Zankapfel. Foto: Claudia-Hautumm / pixelio.de

Kollegen sind heute oft nicht mehr nur Kollegen, sondern Kolleg*innen. Wähler werden zu Wähler*innen. Während das «Gendersternchen» manchen ein Dorn im Auge ist, halten andere es für die korrekte Form, Männer und Frauen sprachlich gleichzubehandeln und auch Geschlechter jenseits von Mann und Frau sichtbar zu machen. Sprachwissenschaftler und Germanisten haben das Gendersternchen am Dienstag in Berlin zum «Anglizismus des Jahres» gekürt.

Es habe sich sprunghaft verbreitetet, begründet die Jury um den Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch von der Freien Universität Berlin. Das Sternchen habe zudem eine zentrale Bedeutung in der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem schwierigen und heftig umstrittenen Thema der sprachlichen Gleichbehandlung aller Geschlechter (siehe Beitrag unten).

Obwohl derzeit weit verbreitet, ist die Bezeichnung in großen deutschen Wörterbüchern noch nicht zu finden. Doch das kann sich schnell ändern. «Wenn es häufig genutzt wird, wird das Wort sicher auch bald in unserem Wörterbuch zu finden sein», sagt der Sprachwissenschaftler Wolfgang Klein.

Der Berliner Professor hat sich für die kommenden Jahre wohl eines der ehrgeizigsten Projekte der Sprachwissenschaft vorgenommen: Mit Kollegen der Wissenschaftsakademien in Berlin, Göttingen, Mainz, Leipzig sowie dem Institut für Deutsche Sprache in Mannheim soll der deutsche Wortschatz im größten digitalen Wörterbuch erfasst werden.

«Zentrum für digitale Lexikographie der deutschen Sprache» (ZDL) heißt das Projekt, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung zunächst für fünf Jahre mit elf Millionen Euro und je nach Erfolg drei weitere Jahre gefördert wird.

Schüler, Studenten, Lehrer, Übersetzer, Journalisten, Deutschlerner in aller Welt – sie alle sollen künftig von dem kostenlosen Online-Lexikon profitieren, das auf aktuelle Sprachentwicklungen flexibel reagieren kann, anders als gedruckte Wörterbücher. Die haben laut Klein nur noch einen praktischen Vorteil, der digital nicht auszugleichen sei: «Man kann sie unter einen wackeligen Tisch legen».

In der Duden-Redaktion sieht man das etwas anders: «Es wird weiterhin Wörterbücher der deutschen Sprache auf Papier geben», sagt Leiterin Kathrin Kunkel-Razum. Nicht mehr rentabel sei allerdings das «Große Wörterbuch der deutschen Sprache» in Papierform. Die aktuelle Auflage sei 2011 nur noch in digitaler Form erschienen. Gleichzeitig sei auch das Nachschlagen im Onlinewörterbuch die Zukunft. Der Verlag arbeite daher parallel kontinuierlich am Online-Duden.

Wie groß der deutsche Wortschatz genau ist, weiß niemand. Sicher ist laut Klein nur, dass derzeit mehr als fünf Millionen verschiedene Wörter tatsächlich genutzt werden. Selbst beim größten deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm gibt es nur eine Schätzung zur Stichwortzahl: 350.000. «Die deutsche Sprache ändert sich fortlaufend, der Wortschatz wächst ständig. Allein im 20. Jahrhundert hat er sich um 30 Prozent vermehrt», so der Wissenschaftler.

«Es gibt immer mehr Ideen und Dinge, die es früher nicht gab, andererseits werden auch Wörter von vor 100 Jahren kaum noch genutzt wie etwa „Droschken“ und „abzwecken“», erläutert er. Momentan sorgten vor allem Internet und Smartphone für immer neue Begriffe. Und diese seien nicht immer schlecht. «Das Wort „liken“ mag ich sehr. Es ist eine echte Bereicherung», erläutert Klein. Es beschreibe im Deutschen eine ganz spezielle Handlung und sei sogar präziser als im Englischen, wo es nur «etwas mögen» bedeute.

Gendersternchen? „Ich finde es hässlich“

Dem jetzt ausgezeichneten Anglizismus «Gendersternchen» würde Klein nur die Note «6 plus» verleihen. «Ich finde es hässlich, wenn man deutsche und englische Wörter kombiniert, und die Verwendung des Sternchens verstößt gegen jede grammatikalische Regel. Aber das ist vielleicht mehr eine Frage der Sache als des Wortes», so Klein.

Welche Wörter eine Chance haben, ausführlich im Lexikon bearbeitet zu werden, hängt laut Klein auch davon ab, wie weit ihre Verbreitung in verschiedenen Textformen ist. Bei ihrer Suche nutzen die Wissenschaftler digitalisierte Texte aus Literatur,  Wissenschaft, Zeitungen oder auch Ratgebern aus vier Jahrhunderten.

«Wir versuchen, schrittweise so viele Wörter wie möglich zu erfassen, die in unseren Daten vorkommen», erläutert Klein. Alle Wörter zu beschreiben, sei aber wegen ihrer Vielzahl unmöglich, da es Jahrhunderte oder gar Jahrtausende dauern würde. Momentan sind Kleins Mitarbeiter damit beschäftigt, Artikel über Wörter neu zu bearbeiten, deren einstige Verwendung nicht mehr dem heutigen Zeigeist entspricht. «Dazu gehören zum Beispiel «Neger» oder «Zigeuner», sagt Lexikograph Sebastian Göttel.

«Wir haben auch lange überlegt, ob wir Texte und Begriffe aus der Zeit des Nationalsozialismus aufnehmen sollen», so Klein. Das Team habe sich dafür entschieden. «Schließlich gehören diese Begriffe leider auch zum deutschen Wortschatz und man kann sie nicht einfach unter den Teppich kehren.»

Für das neue Lexikon bauen die Wissenschaftler auf dem bestehenden Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache mit 120.000 Stichwörtern auf. Es hat wird laut Klein monatlich etwa vier Millionen Mal aufgerufen. Der Online-Duden hat rund 27 Millionen Nutzerkontakte monatlich. Kunkel-Razum freut sich, dass das Thema Wörterbücher durch das neue Projekt eine breite Aufmerksamkeit bekomme. Allerdings ist sie überzeugt, dass «Duden auch in Zukunft die wichtigste Instanz für Wörterbücher der deutschen Sprache bleiben wird». Mal sehen. Von Anja Sokolow, dpa

Zur Person

BERLIN. Die unabhängige Initiative „Anglizismus des Jahres“ würdigt seit 2010 jährlich den positiven Beitrag des Englischen zur Entwicklung des deutschen Wortschatzes. Bisherige Anglizismen des Jahres waren leaken (2010), Shitstorm (2011), Crowdfunding (2012), die Nachsilbe -gate (2013), Blackfacing (2014), Refugees Welcome (2015), Fake News (2016), und Influencer (2017). Für 2018 gekürt: das Gendersternchen.

Aus der Begründung der Jury: „Das Wort Gendersternchen bezeichnet ein „typografisches Zeichen (*), das bei Personenbezeichnungen zwischen der männlichen und der zusätzlich angefügten weiblichen Endung gesetzt wird, um neben Männern und Frauen auch Menschen mit anderer geschlechtlicher Identität miteinzubeziehen und sichtbar zu machen“ (DWDS.de) – z.B. Freund*in. Im allgemeinen Sprachgebrauch findet sich ab 2013 zunächst die Form Gender Star. Obwohl das Wort aus englischen Wortbestandteilen zusammengesetzt ist und die für das Englische typische Getrenntschreibung aufweist, handelt es sich dabei um eine genuin deutsche Wortschöpfung – einen sogenannten „Scheinanglizismus“. Schon im Folgejahr übernimmt die englisch-deutsche Mischform Genderstern – mit deutschem Zweitglied und in der für das deutsche obligatorischen Zusammenschreibung. Ab 2016 setzt sich dann zunehmend die Diminutivform Gendersternchen durch.“

Weiter heißt es: „Überzeugt hat die Jury an Gendersternchen neben der sprunghaften Verbreitung im öffentlichen Sprachgebrauch zum einen die zentralen Bedeutung, die es in der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem schwierigen und heftig umstrittenen Thema der sprachlichen Gleichbehandlung aller Geschlechter eingenommen hat und wohl auch weiter einnehmen wird. Zum anderen zeigt die Geschichte des Wortes, dass die Entlehnung von Wörtern kein passiver Prozess ist, sondern dass Sprachgemeinschaften das entlehnte Wortgut produktiv zur Bildung neuer Wörter nutzen.“

Anzeige


Info bei neuen Kommentaren
Benachrichtige mich bei

3 Kommentare
Älteste
Neuste Oft bewertet
Inline Feedbacks
View all comments
Herr Mückenfuß
5 Jahre zuvor

Interessant ist auch, worauf sich eigentlich die Aussagen gründen, dass die vielen Anglizismen im Deutschen einen verschwindend kleinen Prozentanteil ausmachen, wenn doch niemand genau weiß, wie viele Wörter der deutsche Wortschatz umfasst – zumal die Zahl der „Alltagswörter“ doch enorm geringer ist. Das sind doch nur wenige Tausend. (Wie hoch ist der Anteil der Anglizismen eigentlich inzwischen daran?)

Herr Mückenfuß
5 Jahre zuvor
Antwortet  Herr Mückenfuß

Zitat: „«Das Wort “liken” mag ich sehr. Es ist eine echte Bereicherung», erläutert Klein. Es beschreibe im Deutschen eine ganz spezielle Handlung und sei sogar präziser als im Englischen, wo es nur «etwas mögen» bedeute.“

Das stimmt vermutlich sogar, dass das Verb „liken“ genauer sei, weil es eine bestimmte Handlung bezeichnet, nämlich „auf Gefällt-mir klicken“. Nichtsdestotrotz ist es ja nicht so, dass wir das auf Deutsch nicht sagen könnten (wie gerade geschehen). So ist es mit den allermeisten scheinbar unverzichtbaren Anglizismen. Blow-ups, wie man jetzt in Zeitungen lesen kann, sind eben doch nur Risse im Asphalt.

FElixa
5 Jahre zuvor

Das Projekt wird also im Schnitt mit 2,2 Mio. € pro Jahr gefördert. Gibt es dazu irgendeine Kostenaufstellung? Es würde mich mal interessieren, wie diese hohe Summe entsteht. Auf der Seite vom BMBF heißt es nur, dass man computergestützt bekannte Werke überarbeiten möchte und somit, neben bereits 170.000 bekannten Wörtern, rund 30.000 neue Wörter erfassen möchte. Das macht dann 55€ pro Wort bzw. 367€ pro neu erfasstes Wort. Einfach nur wow.

Interessant auch:

Was passiert mit einem Wort, das es in das Wörterbuch „schafft“?

„Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Häufig stellen wir einfach nur fest, dass es dieses Wort gibt. Wir versehen es mit grammatischen Angaben, wie man zum Beispiel den Plural und den Genitiv bildet. Damit ist die erste Etappe abgeschlossen.“

Sehr gewinnbringend und ein Feature was es natürlich noch gar nicht gibt…

„Die zweite besteht darin, die Bedeutung des Wortes zu ermitteln. Dafür schauen wir uns wieder die maschinelle Auswertung der Texte an. Wir betrachten dabei die direkte Umgebung des Wortes und schließen aus den jeweiligen Satzkontexten auf die Bedeutung.“

Prinzipiell ja sinnvoll, aber zu welchem Preis? Wie viele Wörter werden danach untersucht?

„In einem letzten Schritt stellen wir sprachliche Verbindungen dar, die das Wort oft eingeht. Für das Wort „Interview“ wäre eine solche typische Verbindung zum Beispiel „führen“. Oder auch „beenden““

Auch hier gibt es keinerlei Mehrwert zu bereits bekannten Online-Lexika.

Irgendwie muss man ja die Sprachwissenschaftler beschäftigen. Manchmal kann man nur einfach den Kopf schütteln.