„Erschütternde Ergebnisse“: Studie beleuchtet Kindesmissbrauch in der DDR

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BERLIN. Kindesmissbrauch passte in der DDR nicht ins Ideal einer sozialistischen Gesellschaft. Dass es ihn aber gab, belegen immer mehr Anhörungen von Betroffenen. Eine neue Studie bringt mehr Licht in das Dunkel.

Immer wieder gibt es Fälle von brutaler Gewalt gegen Kinder - Symbolbild. Foto: goldsardine / Flickr (CC BY-ND 2.0)
Immer wieder werden Kinder Opfer von sexuellem Missbrauch (Symbolfoto). Foto: goldsardine / Flickr (CC BY-ND 2.0)

Eltern, die ihre Kinder für den Strich verkaufen, und Erzieher als Sex-Gewalttäter: Einer neuen Fallstudie zufolge gehörte auch das zu den Realitäten in der DDR. In die Untersuchung flossen persönliche Schicksale von mehr als 100 Männern und Frauen ein, die als Kinder und Jugendliche in der DDR sexuelle Übergriffe erlebten, teilte die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs am Mittwoch in Berlin mit. Forscher nennen die Ergebnisse erschütternd.

Die Betroffenen haben der Kommission ihre Leidensgeschichten erzählt oder geschrieben – oft nach Jahrzehnten des Schweigens. Manche von ihnen hatten vorher noch nie darüber gesprochen. Da Kindesmissbrauch im Ideal einer sozialistischen Gesellschaft nicht existierte, sei er in der DDR mehr und länger totgeschwiegen worden als in Westdeutschland, sagt Cornelia Wustmann, Professorin für soziale Beziehungen an der Technischen Universität Dresden. Das gelte insbesondere für die 1970er und 1980er Jahre.

Corinna Thalheim, Vorstandsvorsitzende der Betroffeneninitiative «Missbrauch in DDR-Heimen», gibt ihre Geschichte offen preis. Mitte der 1980er Jahre habe sie mit 16 die Schule geschwänzt. «Ich bin deshalb in den Jugendwerkhof Lutherstadt Wittenberg gekommen», sagt sie. Nach drei Fluchtversuchen sei sie in den berüchtigten Jugendwerkhof Torgau gekommen. «Dort gab es so viel organisierte Gewalt und Missbrauch, dass es mir mein Leben ruiniert hat», sagt sie heute.

Organisierter Missbrauch

Die Untersuchung ist nicht repräsentativ, wirft aber weitere Schlaglichter auf ein dunkles Kapitel der DDR. Noch deutlich häufiger als in Heimen kam es nach der Fallstudie in Familien zu sexueller Gewalt. Zu den Tätern zählten nach der Untersuchung Väter, Mütter, Großväter, Brüder und Cousins – es ging bis hin zu Gruppenvergewaltigungen. Rund 20 Betroffene berichteten bisher von organisiertem Missbrauch, bei der Kinder für sexuelle Dienste verkauft oder wie eine Ware gegen andere Leistungen getauscht wurden. «Ich habe anfangs auch gedacht, das kann es doch in der DDR nicht gegeben haben», sagt die ostdeutsche Forscherin Wustmann. «Ich war selbst betriebsblind sozialistisch.»

Der fortgeschrittene Sozialismus habe als deliktfreie Gesellschaft gegolten, erläutert Wustmann. Dogmatisch sei propagiert worden, dass es keine sexuelle Gewalt gebe. Deshalb seien diese Fälle auch nicht in der Kriminalstatistik aufgetaucht. Um nach außen als heile sozialistische Familie zu wirken, habe es oft nach innen Schweigegebote und Verleugnung der Straftaten gegeben. Opfer hätte sich kaum jemanden anvertrauen können, Therapieangebote habe es selten gegeben. «Verdrängen wurde so für viele Opfer zur Überlebensstrategie», resümiert sie.

Bedrückend für viele Missbrauchsopfer in der DDR war, dass ihnen auch nach dem Mauerfall zunächst kaum jemand zuhörte. Seit der Heimkinderfonds 2014 für neue Anträge geschlossen worden sei, gebe es bis heute auf Bundesebene keine finanziellen Hilfen für Therapien. Auch im neuen Opferschutzgesetz sei dazu nichts vorgesehen. Thalheims Betroffeneninitiative fordert nun einen eigenen Hilfsfonds beim Bundesfamilienministerium.

Missbrauchsopfer in der DDR seien bisher durch alle Raster gefallen, bilanziert auch die ehemalige Bundesfamilienministerin Christine Bergmann. «Die vertraulichen Anhörungen bedeuten für Betroffene Anerkennung», ergänzt sie. «Dort wird jetzt das geglaubt, was jahrzehntelang nicht geglaubt wurde.» Von Ulrike von Leszczynski, dpa

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