Kindheit im NS-Regime: «Ich habe überlebt» – Zeitzeugen im Gespräch mit Schülerinnen

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OCKENHEIM. Vor sieben Jahrzehnten haben sie Auschwitz oder das Kinderlager Łódź überlebt. Jetzt erzählen die Besucher aus Polen jungen Menschen, wie das gewesen ist. Auch über ihre Freude am Leben und die Hoffnung aufs dritte Urenkelkind.

Als „rassenützlich“ eingestuft: Alodia Witaszek-Napierała (rechts) und ihre jüngere Schwester. Foto: privat

Sichtlich erschöpft ist die Zeitzeugin nach dem langen Gespräch mit Schülerinnen. Aber dann lächelt Alodia Witaszek-Napierała, als ihr der 97 Jahre alte Ignacy Golik entgegenkommt und sie mit dem Satz begrüßt: «Ich lebe noch!» Die beiden Besucher aus Polen haben gerade jungen Menschen aus der Oberstufe der Maria-Ward-Schule in Mainz über ihre Zeit unter deutscher Besatzung berichtet – Golik als Häftling in Auschwitz und als Zwangsarbeiter in Deutschland, Witaszek-Napierała über ihre Verschleppung ins «Jugendverwahrlager Litzmannstadt» im heutigen Łódź und ihre zwangsweise «Germanisierung».

Gebannt hören die 30 Schülerinnen zu, wie Alodia Witaszek-Napierała von ihrer Kindheit im besetzten Polen erzählt. «Ich konnte mir das ehrlich gesagt nicht so richtig vorstellen», sagt die 17-jährige Charlotte nach dem eindringlichen Bericht der 81-Jährigen. «Jetzt darüber zu reden, ist mir sehr nahe gegangen. Ich fand es total schön, wie persönlich sie erzählt hat, dass sie so mit uns reden kann.»

Mit einem Beamer zeigt Witaszek-Napierała auf der Wand des Vortragsraums im ehemaligen Kloster Jakobsberg bei Ockenheim (Kreis Mainz-Bingen) ein Familienfoto im Garten ihrer Heimatstadt Posen: «Ich bin das dritte Kind von unten.» Gut ein Jahr danach, im Januar 1943 wurde ihr Vater hingerichtet. Der Arzt hatte eine polnische Widerstandsgruppe geleitet. Eine Woche danach «kommen SS-Leute zu unserer Wohnung, wo wir fünf kleine Kinder mit unserer Mama waren». Die junge Frau wird nach Auschwitz gebracht, überlebt das Vernichtungslager ebenso wie den Todesmarsch vor dem Eintreffen der sowjetischen Truppen.

Nach zwei Wochen leben die Kinder nicht mehr…

«Kleine Kinder mussten gerade stehen und sagen: 1,2,3», berichtet Witaszek-Napierała aus dem Kinderlager in Łódź. «Wenn jemand fehlte, dauerte der Appell sehr lange.» Die älteren Kinder hätten arbeiten müssen, in der Wäscherei oder beim Ausbessern von Uniformen. Wenn dabei eine Nadel kaputt gegangen sei, seien die Kinder in den Karzer geschickt worden: «Im Keller stehen die Kinder im Wasser und bekommen kein Essen. Und nach zwei Wochen leben die Kinder nicht mehr.»

Seinen blonden Haaren verdankt das kleine Mädchen eine Einstufung als «rassenützlich». Sie kommt schließlich in ein «Lebensborn»-Heim, wird in Alice umbenannt und zur Adoption vermittelt – ihre neue «Mutti» holt sie ab und bringt sie nach Stendal, westlich von Berlin. Nach dem Krieg bringt die leibliche Mutter die Familie schließlich wieder zusammen. Alodia Witaszek-Napierała erzählt, wie ihre beiden Mütter Freundinnen wurden und wie sie sich nach der zwangsweisen Germanisierung wieder in Polen zurechtfand. «Ich habe überlebt, für mich ist das normale Leben zurückgekommen.»

Die Anspannung der Schülerinnen löst sich in freudigen Applaus auf, als die alte Dame zum Schluss von ihrer eigenen Familie erzählt: «Ich habe zwei Kinder, vier Enkel und zwei Urenkel – und jetzt erwarte ich das dritte Urenkel!»

Der Autor Reiner Engelmann schreibt zurzeit an einem Buch über das Leben der Zeitzeugin. Unter dem Titel «Alodia, du bist jetzt Alice» soll es am 9. September erscheinen – «das ist derselbe Tag, an dem wir verhaftet wurden», sagt Witaszek-Napierała.

Schon seit 2001 bringt das Bistum Mainz Zeitzeugen mit Schülern zusammen, gemeinsam mit dem 1973 gegründeten Maximilian-Kolbe-Werk. Aus Rücksicht auf das inzwischen hohe Alter der Zeitzeugen kommen diese jetzt eine Woche lang in Tagungshäuser im Bistum Mainz – neben dem Jakobsberg in Ockenheim auch in Höchst im Odenwald und in Ilbenstadt in der Wetterau. Dort können sie dann von Schulklassen aus Orten der Umgebung besucht werden.

Zu den Besuchern auf dem Jakobsberg gehörte kürzlich auch Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD), die an einem Gespräch der Zeitzeugin Henriette Kretz mit Schülern der Rochus-Realschule plus in Bingen teilnahm. «Mich hat sehr beeindruckt, wie mucksmäuschenstill die Jugendlichen waren, sie haben sehr genau zugehört und waren von den Erzählungen sehr bewegt», sagt die Ministerin, die Kretz beim Holocaust-Gedenktag im Landtag kennengelernt hat. «Sie konnte den Jugendlichen sehr gut nahebringen, warum es so wichtig ist, dass wir auch heute niemand ausgrenzen dürfen. Es geht ihr nicht ums Verzeihen, sondern dass wir aus der NS-Zeit die richtigen Schlussfolgerungen für Gegenwart und Zukunft ziehen.»

Begegnungen mit direkten Zeitzeugen sind immer weniger möglich. Daher werde jetzt auch versucht, die Kinder von bereits verstorbenen Zeitzeugen einzubeziehen, sagt der Friedensreferent des Bistums Mainz, Alois Bauer, der die Arbeit koordiniert. Bei einem Abend in Bingen-Büdesheim appellierte der Mainzer Weihbischof Udo Bentz an alle Teilnehmer der Gespräche, «als Zeugen der Zeitzeugen diese Erinnerung wachzuhalten und weiterzutragen».

Bistumsmitarbeiterin Katja Steiner achtet darauf, dass die Gäste aus Polen neben den Gesprächen mit Schülern auch eine schöne Zeit verbringen können. «Wir dürfen sie nicht auf ihre Rolle als Zeitzeugen reduzieren», sagt die Pädagogin, die sich auch um die ehrenamtlichen Helfer wie Studierende oder Dolmetscher kümmert. Schließlich seien die Überlebenden des NS-Regimes in ihrer Persönlichkeit viel reicher. «Die Woche mit den Zeitzeugengesprächen kostet sie viel Kraft.»

Eine Schülerin fragt Alodia Witaszek-Napierała, ob sie noch oft an ihre Kindheit im NS-Regime denke. «Wenn ich in Ruhe zu Hause sitze, dann kommt das immer wieder hoch», antwortet sie. «Aber ich muss aufpassen, dass ich an meine Gesundheit denke und in der Gegenwart lebe.» Von Peter Zschunke, dpa

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