Die Seidenraupe kehrt in den ältesten Schulgarten Deutschlands zurück

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HALLE. Der erste überlieferte Schulgarten Deutschlands feiert die Rückkehr eines kleinen Exoten: der Seidenraupe. Vor mehr als zwei Jahrhunderten wurde das Tier in Halle gezüchtet, um Seide zu produzieren. Heute ist sie Teil eines lebendigen Unterrichts.

Seidenspinner-Raupen, 21 Tage alt, auf Maulbeerblättern. Foto: Armin Kübelbeck / Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

«Nicht anfassen», ermahnt ein Schüler seinen Sitznachbarn. Dieser zieht seinen Finger schnell wieder aus der pinken Plastikdose heraus. In der Box krabbeln kleine Raupen über Laubblätter – keine gewöhnlichen Würmchen, sondern Seidenraupen. Statt im Klassenzimmer der Gemeinschafts- und Sekundarschule «August Hermann Francke» sitzen die beiden Schüler an diesem Tag in einem riesigen Gewächshaus in Halle, Teil des wohl ältesten überlieferten Schulgartens in Deutschland. Vor mehr als 320 Jahren ließ der Pädagoge August Hermann Francke (1663–1727) den Garten in der ehemaligen Schulstadt am Rande von Halle anlegen. Heute ist er Teil der Franckeschen Stiftungen – und eines sogenannten lebendigen Unterrichts.

Die beiden Sechstklässler füttern die Exoten mit selbst gezupften Blättern eines Maulbeerbaums, der auf dem Gelände des Gartens steht. Mit halbem Ohr hören sie Cornelia Jäger zu – die Raupen sind für sie gerade spannender. Sie leitet das Bildungsprojekt im Schulgarten. Neben Schulklassen kommen auch Kindergartengruppen und Studenten zu ihr. Mit historischen Fotos und Gegenständen zum Anfassen erklärt sie den beiden Jungs und ihren neun Mitschülern, wie die Seidenraupe – die Larve des sogenannten Seidenspinners – einst nach Halle kam.

«Die Seidenspinner werden seit ungefähr 1500 Jahre als Haustiere gehalten», sagt Cornelia Jäger. Ein Mädchen verzieht ihr Gesicht. «Als Haustiere?», fragt sie. Die Leiterin nickt. Ursprünglich seien ihre Raupen wegen der Fäden, aus denen Seide gewonnen wird, in China gezüchtet worden. Später wurden sie nach Europa importiert, um auch hier wertvolle Stoffe produzieren zu können. Der Gründer der damaligen Schulstadt holte die Raupen nach Halle.

«Zu Franckes Zeiten war Seide hierzulande sehr begehrt», erklärt Cornelia Jäger weiter. Für die gefräßigen Raupen wurden daher auf einer großen Plantage unweit des Gartens vor rund 275 Jahren Maulbeerbäume gepflanzt. Wegen der widrigen klimatischen Bedingungen gingen die Bäume ein, die Raupenzucht musste 1805 eingestellt werden. Nach mehr als 210 Jahren ist der Exot nun zurück im Pflanzgarten.

«Das ist die erste eigene Zucht, die geschlüpft ist», sagt Cornelia Jäger. An echten Lebewesen und Pflanzen zu lernen, sei für Kinder wichtig, erklärt sie. Die Raupen seien daher sehr geeignet, um den Kindern komplexe Themen zu vermitteln. Auch das Bildungsministerium in Magdeburg betont die Bedeutung des Lernens in der Natur.

Unterricht im Schulgarten – Teil des Lehrplans

Der Unterricht im Schulgarten sei ein fester Bestandteil des Sachunterrichts, sagt ein Ministeriumssprecher. Daher habe jede Grundschule im Land einen eigenen Garten oder könne zumindest einen der Gemeinde oder eines Schrebervereins mitnutzen. In den Gärten lernten Kinder, die Natur zu schätzen. Eine genaue Anzahl der Schulgärten im Land nannte das Ministerium nicht.

Zudem sei der Praxisbezug sehr groß, erklärt Cornelia Jäger. Nachdem die Kinder die Raupen gefüttert haben, lernen sie, wie sie Basilikum richtig einpflanzen. «Den muss meine Mutter zu Hause gießen», sagt eine Schülerin in die Runde. Sie freue sich schon, dass sie ihn dann mit Tomate-Mozzarella essen könne.

Das grüne Klassenzimmer macht nur einen kleinen Teil der Franckeschen Stiftungen in Halle aus. Auf dem Gelände der ehemaligen Schulstadt, die es mit ihrer besonderen Architektur auf die Unesco-Liste vor einigen Jahren schaffen wollte, stehen heute verschiedenste Bildungsstätten, Museen, Werkstätten, Bibliotheken und andere Einrichtungen. Nach ihrer Gründung um 1700 entwickelten sich die Stiftungen nach eigenen Angaben zu einer der bedeutendsten protestantischen Bildungseinrichtungen Europas. Von Romina Kempt, dpa

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