DÜSSELDORF. Wie gefährlich ist die Richtung, die immer mehr Bundesländer mit dem Verzicht auf die Abstandsregeln in Kitas und Schulen einschlagen? Eine hitzig geführte Diskussion in der Sendung „Markus Lanz“ am späten Abend lieferte bemerkenswerte Einblicke in die Politik der Schul- und Kita-Öffnungen in Corona-Zeiten. Das Fazit zog der Wissenschaftsjournalist Dirk Steffens: Der Kurs ist riskant – mögliche Folgen werden von der Politik verschwiegen. Andrej Priboschek, Herausgeber von News4teachers, hat die Debatte mit Interesse verfolgt.
Hat die NRW-Landesregierung die Entscheidung über die vollständige Öffnung der Grundschulen ohne Abstandsregeln allein auf der Grundlage einer politischen Stellungnahme von vier Ärzteverbänden getroffen, die vor drei Wochen veröffentlicht wurde – und die heftigen Widerspruch von Corona-Experten ausgelöst hat?
Serap Güler, Mitglied des CDU-Bundesvorstands und Staatssekretärin im Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration (das für die Kitas im Land zuständig ist), erklärte dies am späten Abend in der Talkshow „Markus Lanz“ und löste damit Befremden aus. Moderator Lanz hakte ungläubig nach: Kein einziger Virologe sei einbezogen worden? „Das ist aber dünn“, befand er. Auch Prof. Karl Lauterbach, SPD-Gesundheitsexperte und selbst Epidemiologe von Beruf, zeigte sich konsterniert („Das wusste ich nicht“). Das Papier der Ärzte sei „gut gemeint“ gewesen, aber wissenschaftlich nicht haltbar. (News4teachers berichtete seinerzeit ausführlich über die Initiative und die Kritik daran – hier geht es zum Bericht.)
Unter den Lehrerverbänden ist die Ablehnung einhellig
Wissenschaftsjournalist Dirk Steffens („Terra X“), ebenfalls in der Runde, hielt fest: Das sei ein eindrückliches Beispiel dafür, wie Politik sich hinter angeblicher Forschung verschanze – da werde dann eben eine ins Kalkül passende Stellungnahme hergenommen, um die eigene Position zu untermauern. Wissenschaftliche Befunde, die nicht passten, würden ignoriert. Hinsichtlich der Schulöffnungen bedeute das: Der Kurs sei in Wahrheit riskant. Und das müsse die Landesregierung auch klar so kommunizieren – nämlich, dass bei der Wiederaufnahme des Unterrichts ohne Abstandsregel eine steigende Infektionsrate in Kauf genommen werde. Das könne eine Regierung ja in Abwägung der Argumente so entscheiden. Sie müsse dann aber auch die Betroffenen einbinden, und sie fragen, ob sie da mitgehen würden.
Im Fall der Lehrerverbände würde das zu einem klaren Nein führen. Die Eltern im Land zeigen sich zwiegespalten. Einerseits ist Erleichterung spürbar, dass der Schulbetrieb sich wieder normalisiert – andererseits herrscht Unverständnis darüber, dass in Grundschulen plötzlich nicht mehr gelten soll, was im öffentlichen Raum außerhalb des Schulgeländes nach wie vor gilt: nämlich einen Mindestabstand von 1,50 Metern zu anderen Menschen einzuhalten und ansonsten Schutzmasken zu tragen. Diese Diskrepanz sei den Kindern wohl kaum zu vermitteln, meinte Lauterbach.
Vorausgegangen war ein Streit zwischen ihm und Güler um die Frage, ob die praktisch unbeschränkten Öffnungen von Schulen und Kitas in der aktuellen Lage „verantwortungslos“ sind (Lauterbach) oder, im Gegenteil, politisch höchst verantwortlich mit Blick auch auf besonders förderbedürftige Kinder, die sich mit Fernunterricht nicht erreichen lassen. Die Emotionen waren in einer ersten Sendung zum Thema in der vergangenen Woche dabei derart hochgekocht, dass Lanz die beiden Kontrahenten gestern Abend noch einmal aufeinander losließ.
Präsenzunterricht einmal in der Woche reicht für manche Schüler nicht
Und Frau Güler hat ja recht: Natürlich wird ein Präsenzunterricht einmal in der Woche den Bedürfnissen von Kindern aus sozial schwachen Familien nicht gerecht. Tatsächlich steht zu befürchten, dass die ohnehin wenig ausgeprägte Chancengerechtigkeit im deutschen Bildungswesen unter den bislang geltenden Corona-Beschränkungen noch weiter leidet. Keine guten Perspektiven für Gülers Herzensthema, die Integration.
Warum deshalb aber die Abstandsregel nun auf einmal in den oft schlecht belüftbaren Klassen- und Gruppenräumen vollständig verzichtbar sein soll (und nicht zum Beispiel der Präsenzunterricht auf besonders bedürftige Kinder konzentriert wird), darauf blieb sie Antworten schuldig.
Lauterbach hingegen machte deutlich: Dass derzeit kein gefährliches Infektionsgeschehen in den Schulen zu beobachten sei, sei eine Folge des gesellschaftlichen Lockdowns in den vergangenen Monaten. Weil die Lage außerhalb der Schulen weitgehend ruhig sei, gelte das auch innerhalb der Schulen. Wenn die Lockerungen aber dazu führten, dass in den nächsten Wochen und Monaten sich wieder vermehrt Menschen mit dem Coronavirus ansteckten, dann werde das auch in die Schulen hineingetragen – und dort ungebremst weiterverbreitet, wenn es dort keinen ausreichenden Schutz gebe. Und der werde ja gerade abgebaut. In den zwei Wochen bis zu den Sommerferien werde man daraus überhaupt keine Erkenntnisse gewinnen können. „Der richtige Test ist: Was passiert, wenn es wieder mehr Fälle gibt?“
Beispiel Israel: Dort sind Schulen und Kitas die neuen Infektionsherde
Das Muster sei aktuell in Israel zu erkennen, so Lauterbach. Und da hat er recht: Am Wochenende verzeichnete das Land den höchsten Stand der Neuinfektionen seit den umfangreichen Lockerungen vor gut einem Monat. Infektionsherde: die Kitas und Schulen, die dort nun – nachdem sie ähnlich wie derzeit in Deutschland plötzlich wieder ohne Beschränkungen geöffnet worden waren – reihenweise wieder schließen müssen.
Deshalb plädierte der Wissenschaftler und Politiker für eine gute Vorbereitung auf den Herbst. „Das schulden wir in allererster Linie den Kindern“, sagte er. Er forderte mehr Gründlichkeit und Intelligenz bei den Schulöffnungen als bisher – und verwies auf „ausgeklügelte Systeme“ in der Fußball-Bundesliga und in Unternehmen, um dem erforderlichen Hygieneschutz Rechnung zu tragen. Einfach so wieder „auf“ mache niemand. Außer eben Kitas und Schulen.
Die Sendung lässt sich hier – in der Mediathek des ZDF – (bis zum 9.7.2020) vollständig sehen.
Der Journalist und Sozialwissenschaftler Andrej Priboschek beschäftigt sich seit 25 Jahren professionell mit dem Thema Bildung. Er ist Gründer und Leiter der Agentur für Bildungsjournalismus – eine auf den Bildungsbereich spezialisierte Kommunikationsagentur, die für renommierte Verlage sowie in eigener Verantwortung Medien im Bereich Bildung produziert und für ausgewählte Kunden Content Marketing, PR und Öffentlichkeitsarbeit betreibt. Andrej Priboschek leitete sieben Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit des Schulministeriums von Nordrhein-Westfalen.
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