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Virologen widersprechen Ärzte-Verbänden: Für weitere Öffnungen von Schulen und Kitas gibt es keine wissenschaftliche Grundlage

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BERLIN. «Kitas, Kindergärten und Grundschulen sollen möglichst zeitnah wiedereröffnet werden.» Dies hatten vier medizinische Gesellschaften unlängst öffentlich gefordert – und sich dabei auf angebliche wissenschaftliche Erkenntnisse berufen. „Die aktuellen Daten“ belegten eine geringe Ansteckungsgefahr von Kindern unter zehn Jahren, hieß es. Widerspruch kommt jetzt von Deutschlands renommiertesten Virologen. Die Professoren Drosten und Kekulé stellen klar: Es gibt keine wissenschaftliche Grundlage für weitere Öffnungen von Kitas und Schulen.

Immer noch lernen die meisten Schüler in Deutschland überwiegend zu Hause – der Druck steigt, dies zu ändern. Foto: Shutterstock

Vier medizinische Fachgesellschaften fordern ein Ende des Notbetriebs in Kindergärten und Grundschulen und eine umgehende unbeschränkte Wiederöffnung der Einrichtungen. In einer gemeinsamen Stellungnahme rufen unter anderem die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene und der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte trotz Corona-Pandemie dazu auf. Der Schutz von Lehrern, Erziehern, Betreuern und Eltern und die allgemeinen Hygieneregeln stünden dem nicht entgegen, heißt es in dem Papier. «Insbesondere bei Kindern unter 10 Jahren sprechen die aktuellen Daten sowohl für eine geringere Infektions- als auch für eine deutlich geringere Ansteckungsrate.» Im Gegensatz dazu seien die sozialen und gesundheitlichen Folgen der Schließung gravierend, schreiben die Medizinerverbände (News4teachers berichtet ausführlich über das Papier und die Reaktionen darauf – hier geht es hin).

Sachsen sieht sich bestätigt – und kündigt weitere Schulöffnungen an

Die Erklärung sorgt in der Politik für einen gehörigen Wirbel. Der Druck auf schnelle und umfassende Öffnung von Schulen und Kitas hat sich dadurch nochmal bundesweit verschärft.

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Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner beruft sich auf die Stellungnahme, um seiner Forderung mehr Tempo bei der Öffnung von Schulen und Kitas Nachdruck zu verleihen. Die sächsische Landesregierung sieht sich durch das Papier ausdrücklich in ihrem Kurs bestätigt, wie das Kultusministerium erklärte. In Sachsen sind Kitas und Grundschulen bereits seit Anfang der Woche für alle Kinder geöffnet – ohne die in den anderen Bundesländern üblichen Abstandsregeln und ohne Schichtunterricht. Prompt kündigte Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) dann noch an, der Freistaat wolle nach den Sommerferien an allen Schulen – also auch den weiterführenden – wieder regulären Schulunterricht anbieten. Bundesbildungsministerin Anja Karliczek sah sich veranlasst, vor einem “Überbietungswettbewerb” bei Schul- und Kitaöffnungen zu warnen (News4teachers berichtet ausführlich über die Debatte – etwa hier).

Der Virologe Prof. Christian Drosten von der Berliner Charité hat dem Deutschlandfunk gegenüber schriftlich mitgeteilt, als Einzelperson, also nicht als Wissenschaftler, stimme er der Grundhaltung hinsichtlich der sozialen Überlegungen und des Kindeswohls zu. Auf der anderen Seite – so stellte er klar – gebe es im Moment keine wissenschaftliche Grundlage für eine umfassende Öffnung. Die Interpretation der wissenschaftlichen Daten der vier medizinischen Gesellschaften teile er nicht, betonte Drosten. Auch hätten die Autoren der Stellungnahme wichtige Elemente der von ihnen zum Beleg zitierten Arbeiten nicht erwähnt. Das gelte auch für Untersuchungen, die er selbst an der Charité zu verantworten habe.

Lob für Lauterbach – der vor weiteren Schulöffnungen warnt

Zuvor hatte Drosten in seinem „NDR“-Podcast „Coronavirus-Update“ über Fehlinformationen zum Coronavirus Dampf abgelassen. „Es sind zum Teil Ärzte und Professoren dabei, die irgendeinen Quatsch in die Welt setzen, die nie an diesen Themen gearbeitet haben. Denen man aber aufgrund ihrer akademischen Qualifikation glaubt“, erklärte er. „Ich bin auch Professor. Aber ich würde mich nie trauen, irgendwelche Dinge an die Öffentlichkeit zu geben, die auch noch so viel Meinung beinhalten.“ Lob dagegen äußerte Drosten über den SPD-Gesundheitsexperten und Mediziner Prof. Karl Lauterbach (der ausdrücklich vor schnellen Öffnungen von Schulen und Kitas warnt). Lauterbach gebe den „Stand der Dinge“ wieder: „Der kennt sich aus und ist von seiner Grundausbildung Epidemiologe.“ Und: „Er geht in die Öffentlichkeit und informiert mit richtigen Inhalten.“

Lauterbach hatte zur Stellungnahme der medizinischen Gesellschaften auf Twitter erklärt: Die Kinderärzte meinten es sehr gut. Leider sei es aber falsch, dass Kinder eine geringe Bedeutung für die Pandemie hätten. Sie steckten sich und andere pro Kontakt weniger oft an. Da sie aber so viele Kontakte hätten, sei der Gesamtanteil wahrscheinlich hoch.

“Man riskiert am Ende des Tages immer Tote”

Auch der Virologe Prof. Alexander Kekulé sieht den Druck auf schnelle Öffnungen von Schulen und Kitas kritisch. „Da riskiert man letztlich am Ende des Tages immer Tote – ob man Urlaub fordert, ob man Altenheimbesuche fordert“, sagte er im Podcast „Kekulés Corona-Kompass“ vom „MDR“. Gleiches gelte für die Forderung nach Schul- und Kitaöffnungen. Dabei nehme man Opfer in Kauf. „Das muss man so brutal sagen.“ Man könne aber auch nicht um jeden Preis alle Opfer verhindern. „Das wäre gesellschaftlich nicht vertretbar.“ Ein perfekter Schutz sei nicht möglich.

Kekulé nahm auch ausdrücklich Bezug auf die Forderungen der vier medizinischen Fachgesellschaften. Der Virologe äußerte Verständnis für die Stellungnahme und betonte, dass man aufpassen müsse, „dass die Kollateralschäden unserer Maßnahmen nicht schwerer werden als die Schäden durch die Erkrankung selbst“. Er sehe aber nicht, wie man aus den vorhandenen Daten schließen könne, dass Kinder nicht maßgeblich an der Verbreitung des Virus beteiligt seien. „Es kann schon sein, dass wir irgendwann rauskriegen, das mit den ganzen Schulschließungen hätten wir nicht machen müssen – aber bis jetzt gibt es dafür keine Evidenz.“ News4teachers

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

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