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Krisenbilanz: PISA-Chef Schleicher kritisiert zu hohe Unterrichtsverpflichtung für Lehrer

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BERLIN. Die Corona-Krise hat nach Ansicht des Bildungsdirektors der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), Andreas Schleicher, die mangelnde Selbstständigkeit an deutschen Schulen als Schwäche zutage treten lassen. «In den deutschen Schulen gibt es keine Kultur, die Lehrer zu Selbstständigkeit ermutigt», sagte Schleicher dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. «Das rächt sich in der Corona-Krise», fügte er hinzu. Die monatelangen Schulschließungen könnten sich durchaus bei PISA negativ bemerkbar machen.

Fordert mehr pädagogische Freiheit für Lehrer: PISA-Chef Andreas Schleicher. Foto: flickr / Organisation for Economic Co-operation and Develop is licensed under CC BY-NC-ND 2.0

«In deutschen Schulen wird zu viel nach oben geschaut: Der Lehrer schaut auf den Schulleiter und der Schulleiter auf das Ministerium», kritisiert Schleicher. Es müssten aber alle zuerst auf die Schüler schauen. Lehrer in Deutschland hätten «eine höhere Zahl von Unterrichtsstunden als in anderen Ländern, aber weniger Zeit und Freiraum, selbst oder gemeinsam mit ihren Kollegen kreative Unterrichtskonzepte zu erarbeiten, oder mit Schülern außerhalb des Klassenverbandes zu arbeiten». In der Krise sei man darauf angewiesen, dass auch jeder Lehrer etwa beim Online-Unterricht individuell nach Lösungen suche, die besonders gut zu seinen Schülern passen.

“Nichts gegen Kreativität von Lehrern, aber…”

Tatsächlich ist das in der Praxis schwierig. Wie stark auch der Datenschutz den Freiraum von Lehrern bei der Nutzung digitaler Lernmittel einengt, wurde in der vergangenen Woche deutlich – der Thüringer Datenschutzbeauftragte Lutz Hasse hat angekündigt, Lehrer mit Geldstrafen zu belegen, die in der Corona-Krise möglicherweise unsichere Kommunikationswege zu ihren Schülern genutzt haben (News4teachers berichtet groß über den Fall, der bundesweit Schlagzeilen macht – hier).

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„Nichts gegen Kreativität. Aber sobald Kinderdaten rechtswidrig verarbeitet worden sein sollten und die Gefahr besteht, dass diese von unbefugten Dritten zur Profilbildung genutzt werden könnten, hört der Spaß auf“, erklärte Hasse und betonte: „Ein Lehrer, der solche Systeme einsetzt, muss sich zudem rückversichern bei seiner Schulleitung. Von sich aus darf er schulrechtlich gar keine elektronischen Lehrmittel einsetzen. Ein Schulleiter müsste sich rückversichern beim Schulamt oder Ministerium. Und der Lehrer muss die Eltern beziehungsweise je nach Alter die Schüler vorher umfassend über alles informieren und anschließend um eine Einwilligung bitten.“

Die Konsequenz beschrieb die Vorsitzende des Thüringer Philologenverbandes, Heike Schimke: „Die Engagierten, die dennoch Lösungen suchten und nicht sich, sondern ihre Schüler im Blick hatten, werden nun bestraft. Das werden sie sich in der nächsten Situation dreimal überlegen.“

Schleicher: Jetzt kein Zurück in die Schule von gestern

Die vergangenen Monate hätten gezeigt, so sagt Schleicher nun, dass es in Deutschland für den Digitalunterricht noch stark an der Infrastruktur mangele. Auch seien Lehrer in großen Teilen nicht auf das Online-Unterrichten vorbereitet gewesen, meint er. Mit Blick auf die Rückkehr zum geregelten Unterricht mahnt Schleicher: «Es darf nicht darum gehen, jetzt zurück in die Schulen von gestern zu gehen. Wir müssen in die Schulen von morgen.» Sonst werde Deutschland im internationalen Vergleich zurückfallen, warnt der Bildungsexperte, der unter anderem die internationale Schul-Vergleichsstudie PISA organisiert.

Die wochenlangen Schulschließungen und der weiterhin nur eingeschränkte Schulbetrieb könnten sich ihm zufolge durchaus in den nächsten PISA-Testergebnissen niederschlagen. Es sei gut möglich, dass die «sozialen Disparitäten» in späteren PISA-Vergleichen weiter zunähmen, sagt Schleicher. Die Veröffentlichung der letzten PISA-Ergebnisse vor einem halben Jahr, am 3. Dezember, hatte den Zusammenhang, wonach Schulerfolg in Deutschland stark von der sozialen Herkunft abhängt, erneut bestätigt.

Die soziale Schere unter den Schülern öffnet sich weiter

Schleicher schließt nun nicht aus, dass sich dieser Effekt verstärken könnte. Kinder aus wohlhabenden Familien kämen oft mit Schulschließungen zurecht. «Kinder aus ungünstigem sozialem Umfeld haben dagegen meist nur eine einzige wirkliche Chance im Leben, das sind gute Lehrer und eine leistungsfähige Schule.» Ihnen fehle der Zugang zu guten Angeboten zum Online-Lernen und manchmal auch ein Platz, um zu Hause in Ruhe zu lernen.

Die Ausnahmesituation an den Schulen könnte nach Angaben des Bildungsexperten sogar Auswirkungen auf das spätere Erwerbsleben der Schüler haben. «Letztlich können sie ein verlorenes Schuljahr mit sieben bis zehn Prozent verlorenem Lebenseinkommen gleichsetzen», sagt er. News4teachers / mit Material der dpa

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

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