Ein Kommentar von News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek.
BERLIN. Eine Virusmutation tritt in einer Freiburger Kita auf – und ein Bundesland nach dem anderen kippt seinen Das-oberste-Ziel-ist-der-Präsenzunterricht-Kurs und setzt plötzlich auf verstärkten Gesundheitsschutz in den Bildungseinrichtungen. Das darf einem nach einem Jahr Pandemie durchaus merkwürdig vorkommen.
Filmreife Dramatik am Mittwoch in Stuttgart: Für 14.30 Uhr ist eine Pressekonferenz der gegeneinander Wahlkampf führenden Politiker Winfried Kretschmann (Grüne) und Susanne Eisenmann (CDU) angesetzt, bei der der Ministerpräsident und die Kultusministerin gemeinsam weite Öffnungen von Kitas und Grundschulen verkünden wollen. Schon die Ankündigung des Termins ist ungewöhnlich: Bereits am Vortag war erklärt worden, dass man die Tage zuvor schon in Aussicht gestellte Öffnung von Kitas und Schulen verkünden wolle – „wenn nicht noch etwas Überraschendes passiert“, so Kretschmann am Dienstag, tat dabei aber so, als wäre die Entscheidung praktisch gefallen („Es ist verantwortbar, das zu machen“). Warum dann eigentlich noch die Pressekonferenz?
Prompt aber passiert am Mittwoch „etwas Überraschendes“: Um 14 Uhr, also eine halbe Stunde vor den angesetzten Verkündigungstermin, erreicht die Staatskanzlei nach eigenem Bekunden die Nachricht, dass es in einer Freiburger Kita zu einem Ausbruch mit einer Corona-Mutante gekommen ist – kurzfristig blasen Kretschmann und Eisenmann alle Öffnungspläne ab. Eisenmann: Der Fall habe sie „völlig überrascht“.
Beides hätte im Wahlkampf Punkte gekostet: Kitas und Grundschulen öffnen – oder Kitas und Grundschulen geschlossen halten
Überrascht? Nach einem Jahr Pandemie – und seit Wochen laufenden Warnungen des Bundeskanzleramts vor Corona-Mutationen? Man muss kein Verschwörungstheoretiker sein, um hinter der plötzlichen Wende ein politisches Manöver zu vermuten.
Beides hätte im Wahlkampf Punkte gekostet: Kitas und Grundschulen öffnen – oder Kitas und Grundschulen geschlossen halten. Wie auch immer entschieden worden wäre (und das gilt für beide, Kretschmann und Eisenmann), nennenswerte Teile der Wähler hätten sich abgewendet. Es sei denn, eine neue Bedrohungssituation für Kitas und Schulen kommt ins Spiel, die einen Kurswechsel rechtfertigt. Siehe da, plötzlich ist diese da. Und beide, Kretschmann wie Eisenmann, können sich als Kämpfer für Kinderrechte inszenieren, die aber am Ende doch verantwortungsbewusst entscheiden. Praktisch.
Doof nur ist zweierlei: Zum einen ist die Bedrohungslage durch B.1.1.7 und Co. ja nicht so neu, weshalb sich schon im Vorhinein alle Öffnungspläne eigentlich verboten hatten. Zum anderen ist der Ausbruch in der Freiburger Kita bereits seit dem 17. Januar bekannt.
Die Corona-Mutationen geben den Kultusministern die Chance, einigermaßen gesichtswahrend umzuschwenken
Das Stuttgarter Possenspiel scheint ein anschauliches Beispiel dafür zu sein, wie sehr Corona im Superwahljahr, neben der Bundestagswahl stehen sechs Landtagswahlen an, von den wahlkämpfenden Polit-Truppen instrumentalisiert wird. Noch eine weitere Erkenntnis lässt sich aus dem Fall ziehen: Die Corona-Mutationen geben den Kultusministern und ihren Regierungschefs jetzt die Chance, einigermaßen gesichtswahrend aus ihrem fatalen Kurs der „Präsenz um jeden Preis in Kitas und Schulen“ auszusteigen.
Beispiel Bremen: Vor zwei Wochen noch forderte Bildungssenatorin Claudia Bogedan (SPD) Eltern auf, ihre Kinder in den weiterhin dort stattfindenden Unterricht zu schicken. Plötzlich schränkt sie den bislang nahezu unbehelligten Kita-Betrieb ein. Beispiel Rheinland-Pfalz: Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD), die monatelang das Mantra „Kitas und Schulen sind keine Pandemietreiber“ wiederholt hatte, bläst die für Montag angekündigten Öffnungen von Grundschulen für den Wechselunterricht ab. Beispiel Nordrhein-Westfalen: Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP), die nach dem jüngsten Bund-Länder-Gipfel noch Zweifel streute, ob sie sich an die Lockdown-Beschlüsse halten werde, berät sich mit Eltern- und Lehrerverbänden – und kündigt danach an, sich konsequent an die Gipfelbeschlüsse halten zu wollen.
Wohlgemerkt: Das “Aussteigerprogramm” macht die neuen Corona-Mutationen nicht ungefährlicher. Es lässt aber hoffen, dass die Kultusminister endlich einen vorsichtigeren Kurs einschlagen, immerhin.
Der Journalist und Sozialwissenschaftler Andrej Priboschek beschäftigt sich seit 25 Jahren professionell mit dem Thema Bildung. Er ist Gründer und Leiter der Agentur für Bildungsjournalismus – eine auf den Bildungsbereich spezialisierte Kommunikationsagentur, die für renommierte Verlage sowie in eigener Verantwortung Medien im Bereich Bildung produziert und für ausgewählte Kunden Content Marketing, PR und Öffentlichkeitsarbeit betreibt. Andrej Priboschek leitete sieben Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit des Schulministeriums von Nordrhein-Westfalen.
In eigener verlegerischer Verantwortung bringt die Agentur für Bildungsjournalismus tagesaktuell News4teachers heraus, die reichweitenstärkste Nachrichtenseite zur Bildung im deutschsprachigen Raum mit (nach Google Analytics) im Schnitt mehr als 100.000 Seitenzugriffen täglich und einer starken Präsenz in den Sozialen Medien und auf Google. Die Redaktion von News4teachers besteht aus Lehrern und qualifizierten Journalisten. Neben News4teachers produziert die Agentur für Bildungsjournalismus die Zeitschriften „Schulmanager“ und „Kitaleitung“ (Wolters Kluwer) sowie „Die Grundschule“ (Westermann Verlag). Die Agentur für Bildungsjournalismus ist Mitglied im Didacta Verband der Bildungswirtschaft.
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Maximale Verunsicherung: Wie die Kultusminister jedes Vertrauen verspielen
