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Maximale Verunsicherung: Wie die Kultusminister jedes Vertrauen verspielen

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Ein Kommentar von News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek.

BERLIN. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) und Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) haben in dieser Woche verkündet, Grundschulen und Kitas doch nicht öffnen zu wollen. Eine gute Nachricht mit Blick auf den Infektionsschutz? Nur auf den ersten Blick. Der eigentliche Skandal ist, dass die beiden verantwortlichen Politiker allen Ernstes Schulöffnungen – ausdrücklich gegen den Beschluss des jüngsten Bund-Länder-Gipfels – erwägen, während im Bund sogar laut über eine Verschärfung des Lockdowns nachgedacht wird. So erzeugt die Politik maximale Verunsicherung.

“Die Schulen sind sicher.” Foto: Shutterstock

Die Kriterien der Bundesregierung – namentlich der Bundeskanzlerin – im Umgang mit der Coronakrise sind bekannt: Sie baut auf wissenschaftliche Expertise. Aus ihrer Nähe zum Robert-Koch-Institut und zur Nationalakademie Leopoldina, deren jüngste Stellungnahme die Grundlage für den Lockdown-Beschluss im Dezember legte, macht Angela Merkel kein Geheimnis. Deren Empfehlungen sind für die Kanzlerin relevant. Immer wieder lässt sie Wissenschaftler vor den Ministerpräsidenten auftreten, um zur Vorsicht zu mahnen. Und: Die Vorhersagen der Forscher in der Pandemie sind bislang stets eingetreten.

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Worauf gründet die Entscheidung von Kretschmann/Eisenmann, die Kitas und Schulen jetzt doch nicht zu öffnen?

Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) sah sich in der vergangenen Woche deshalb sogar zu einem für einen Politiker größtmöglichen Eingeständnis veranlasst: Er habe bei der Einschätzung der Pandemie falsch gelegen. Ramelow erklärte, dass er schon im Oktober auf Merkels mahnende Worte hätte hören müssen, die er persönlich und die anderen Länderchefs aber damals „als Belästigung empfunden“ habe (Merkel drängte schon seinerzeit auch auf Einschränkungen im Schulbetrieb). Er habe stets mildere Maßnahmen präferiert „und das war falsch“.

Bei allem Respekt vor Ramelows Mut zum Bekenntnis: In der Schulpolitik lässt Thüringen – Spitzenreiter bei den Inzidenzwerten in Deutschland – die Konsequenz trotzdem weiter vermissen. Die Abschlussklassen dort sind im Präsenzunterricht; knapp 50.000 Kinder tummeln sich in Kitas und Schulen des Freistaats zudem in der „Notbetreuung“.

Und worauf gründet die Einsicht von Kretschmann/Eisenmann vom vergangenen Donnerstag, die Kitas und Schulen jetzt doch nicht öffnen zu können? Das weiß niemand so recht. «Wir sind nach wie vor auf einem hohen Niveau der Infektionen», so sagte Kretschmann. Aber offenbar nicht auf einem so hohen, dass sich eine öffentlichkeitswirksam inszenierte Entscheidung mit Pressekonferenz und allem Tamtam von vorneherein verboten hätte. Eisenmann hatte zuvor sogar Schul- und Kitaöffnungen unabhängig vom Infektionsgeschehen gefordert.

Keiner kennt die Entscheidungsgrundlagen – und das führt zu großer Verunsicherung unter Schülern, Eltern und Lehrern

Klar ist nur: Die grün-schwarze Landesregierung lehnt (wie alle anderen Landesregierungen) die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts, das ab einem Inzidenzwert von 50 Wechselunterricht und generelle Maskenpflicht im Unterricht vorsieht, ab. In Baden-Württemberg liegt der aktuelle Inzidenzwert bei 123,1. Wann ist das Niveau des Infektionsgeschehens für Kretschmann und Eisenmann denn niedrig genug, um die Schulen wieder weit zu öffnen: bei 120? Bei 100? Oder bei unter 50 – wie es der Bund-Länder-Gipfel als Ziel vorgegeben hat? Oder sind ganz andere Zahlen relevant: Umfragewerte für die Wahlkämpfer Kretschmann und Eisenmann nämlich, die gerade (gegeneinander) um das Ministerpräsidentenamt ringen?

Keiner weiß das so genau – und das führt zu großer Verunsicherung unter Schülern, Eltern und Lehrern. Die Kultusministerkonferenz hat willkürliche Entscheidungen in der Corona-Pandemie sogar zum Prinzip erklärt, wie die neue KMK-Präsidentin, Brandenburgs Bildungsministerin Britta Ernst (SPD), in einem Interview mit den ARD-Tagesthemen in dieser Woche erneut deutlich machte. „Die Kultusminister möchten nicht gerne einen Automatismus haben, dass bei einer bestimmten Inzidenz Schulen geschlossen werden. Wir haben in den vergangenen Monaten Situationen, wo der Grund in Pflegeheimen liegt, in Krankenhäusern, in Schlachtbetrieben und wir möchten einfach genau hingucken und die Gesamtsituation beurteilen“, sagte sie. Dass auch Ernst schon laut über Schulöffnungen im Januar nachdachte – gegen den Gipfelbeschluss –, passt ins Bild.

Es lässt sich getrost bezweifeln, dass allen Kultusministern der Ernst der Lage überhaupt bewusst ist

Woher die Kultusminister die Informationen nehmen wollen, um eine „seriöse Gesamtbetrachtung“ vorzunehmen, ließ die KMK-Präsidentin natürlich offen – in Schulen finden Reihenuntersuchungen von Schülern und Lehrern auch nach Corona-Infektionen nur äußerst selten statt. Die Gesundheitsämter können die Infektionsketten längst nicht mehr nachvollziehen. In Hamburg gab es, bundesweit einmalig, eine wissenschaftliche Untersuchung zu einem Ausbruch in einer Schule mit mehreren Dutzend infizierten Schülern und Lehrern. Ergebnis: Es handelte sich um ein sogenanntes Superspreader-Event. Ansteckungen innerhalb der Schule wurden damit zweifelsfrei nachgewiesen. Warum und wie diese möglich waren, obwohl die Hygienemaßnahmen in Schulen, also die offenen Fenster, doch angeblich so wirkungsvoll sind, wie die Kultusminister immer wieder beteuern, dafür sollten sich verantwortliche Politiker eigentlich interessieren, um daraus Schlüsse für den weiteren Schulbetrieb ziehen zu können.

Die Studie, die die Hamburger Gesundheitsbehörde in Auftrag gegeben hatte, ist aber bis heute – knapp drei Monate nach ihrer Fertigstellung – noch immer nicht vollständig veröffentlicht. Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe (SPD) steht in Verdacht, die Untersuchung wochenlang vertuscht zu haben. Mehr noch: Rabe präsentierte im Vorfeld des Bund-Länder-Gipfels am 25. November (bei dem beschlossen wurde, den Wunsch der Bundeskanzlerin nach einer Einschränkung des Kita- und Schulbetriebs abzulehnen) eigene, von seiner Schulbehörde angeblich ermittelte Daten, die belegen sollen, dass der Schulbetrieb sicher sei. Bis heute gibt es keine unabhängige wissenschaftliche Begutachtung dieser Daten. (News4teachers berichtet ausführlich über die Affäre – hier geht es zum aktuellsten Beitrag.)

So lässt sich getrost bezweifeln, dass bei allen Kultusministern überhaupt der politische Wille besteht, den Corona-Schutz in den Schulen zum Maßstab des Handelns zu machen. Bremens Bildungssenatorin Claudia Bogedan (SPD) forderte Eltern in der vergangenen Woche sogar auf, ihre Kinder zur Schule zu schicken. In Bremen läuft der Präsenzunterricht weiter; lediglich die Schulbesuchspflicht wurde ausgesetzt. (Auch darüber berichtete News4teachers groß – hier geht es hin.)

Kultusminister gehen über die Ängste und Sorgen von Lehrer, Eltern und Schülern einfach hinweg

Mal abgesehen davon, dass die Kultusminister mit solchen Auftritten allen Coronaleugnern und -verharmlosern neue Munition liefern – warum soll die Gesellschaft denn krasse Einschränkungen hinnehmen, wenn das gleiche Infektionsgeschehen in den Schulen doch so harmlos ist? –, fühlen sich zahllose Lehrer, Eltern und Schüler von dieser Ignoranz bedroht. Über deren Ängste und Sorgen einfach hinwegzugehen, wie es die Kultusminister täglich tun, demonstriert, wie weit weg sie von den Menschen agieren. Vertrauen ist die Grundlage dafür, dass wir diese Herausforderung bestehen – nur Menschen, die der Politik vertrauen, sind willens, die derzeit nötigen Freiheitsbeschränkungen hinzunehmen. Willkür aber schafft kein Vertrauen, im Gegenteil. News4teachers

Der Autor

Der Journalist und Sozialwissenschaftler Andrej Priboschek beschäftigt sich seit 25 Jahren professionell mit dem Thema Bildung. Er ist Gründer und Leiter der Agentur für Bildungsjournalismus – eine auf den Bildungsbereich spezialisierte Kommunikationsagentur, die für renommierte Verlage sowie in eigener Verantwortung Medien im Bereich Bildung produziert und für ausgewählte Kunden Content Marketing, PR und Öffentlichkeitsarbeit betreibt. Andrej Priboschek leitete sieben Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit des Schulministeriums von Nordrhein-Westfalen.

News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek, Gründer und Leiter der Agentur für Bildungsjournalismus. Foto: Tina Umlauf

In eigener verlegerischer Verantwortung bringt die Agentur für Bildungsjournalismus tagesaktuell News4teachers heraus, die reichweitenstärkste Nachrichtenseite zur Bildung im deutschsprachigen Raum mit (nach Google Analytics) im Schnitt mehr als einer Million Lesern monatlich und einer starken Präsenz in den Sozialen Medien und auf Google. Die Redaktion von News4teachers besteht aus Lehrern und qualifizierten Journalisten. Neben News4teachers produziert die Agentur für Bildungsjournalismus die Zeitschriften „Schulmanager“ und „Kitaleitung“ (Wolters Kluwer) sowie „Die Grundschule“ (Westermann Verlag). Die Agentur für Bildungsjournalismus ist Mitglied im didacta-Verband der Bildungswirtschaft.

Hier geht es zur Seite der Agentur für Bildungsjournalismus.

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