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„Inzidenz-Starrsinn“: Wie „Bild“ im Vorfeld des Bund-Länder-Gipfels Stimmung für offene Kitas und Schule macht – mit Erfolg

BERLIN. Vor dem Bund-Länder-Gipfel am heutigen Nachmittag, bei dem auch über erneute Schulschließungen beraten werden soll, macht „Bild“ Stimmung – mit der längst widerlegten These, Schulen spielen im Infektionsgeschehen keine Rolle. Wie das Zusammenspiel von verantwortlichen Politikern und dem Haus Springer läuft, das gerne mit populistischen Kampagnen die Grenzen zwischen Politik und Journalismus verwischt, wurde in den vergangenen Tagen wieder mal besonders deutlich. Sie gipfelte in der von Ministerpräsidentin Schwesig gestern bei „Anne Will“ vor einem Millionenpublikum vertretenen „Bild“-Behauptung, Lehrer stecken vor allem Schüler an – kaum umgekehrt.

Die “Bild”-Zeitung verliert zwar seit Jahren stetig an Auflage – “Bild”-Online erreicht dagegen 25 Millionen Menschen. Foto: Shutterstock / nitpicker

„Professoren rechnen mit Inzidenz-Starrsinn ab“, so titelte „Bild“ am gestrigen Sonntag – um Stimmung zu machen vor dem heutigen Bund-Länder-Gipfel. „Noch immer bestimmt der Inzidenzwert unseren Alltag. An ihm machen Kanzleramt und Länderchefs fest, ob Geschäfte schließen müssen und Kinder nicht mehr zur Schule gehen dürfen“, schreibt „Bild“. Und behauptet:Doch immer mehr Experten fordern, den Inzidenzwert als Hauptmaßstab für die Maßnahmen abzuschaffen.“

Vor allem die Kitas und Schulen sind im Fokus von „Bild“. Das Blatt schreibt: „Zwar werden bei Kindern und Jugendlichen unter 15 Jahren seit der letzten Februarwoche mehr Ansteckungen gemessen. Aber das liegt unter anderem an massenhaften Tests. Denn seit einigen Wochen dürfen Schüler bestimmter Jahrgänge wieder zur Schule gehen. In vielen Klassenzimmern und Turnhallen wird seitdem intensiv getestet.“ Fakt hingegen ist: Zwar hat die Ministerpräsidentenkonferenz flächendeckende Tests von Schülerinnen und Schülern vor zwei Wochen beschlossen – tatsächlich aber haben die Kultusministerien diesen Beschluss in der Praxis kaum umgesetzt. So gab es bislang lediglich vereinzelt Schnelltests an Schulen. Und das zumeist auch erst seit vergangener Woche.

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Wissenschaftler registrieren schon seit den Schulöffnungen Mitte Februar einen Anstieg der Infektionszahlen unter Kinder und Jugendlichen. „Das eine wirklich erschreckende Entwicklung, die wir dort sehen“, so berichtet der Epidemiologe Prof. Markus Scholz von der Universität Leipzig, der für die sächsische Landesregierung die Entwicklung im Freistaat beobachtet, gegenüber News4teachers (hier geht es zum Interview).

„Seit dem 15. Februar sind die Grundschulen in Sachsen geöffnet – ohne Masken im Klassenzimmer, ohne Luftfilter in den Klassenräumen und ohne Testkonzepte, also praktisch im gleichen Modus wie im Sommer, als wir eine ganz niedrige Inzidenzlage hatten. Und seitdem die Schulen geöffnet sind, steigen dort im Alterssegment der Schüler die Zahlen rapide. Wir hatten dort innerhalb von nur 3 Wochen eine Verdreifachung der Inzidenz, während alle anderen Altersgruppen nicht oder nur minimal stiegen. Das betrifft auch den Kita-Bereich. Auch bei den Kleinkindern steigen die Infektionszahlen massiv an“, so erklärt er.

„Steigende Inzidenzen bei Kindern führen nicht zu steigenden Inzidenzen in anderen Altersgruppen“- behauptet „Bild“

Was macht „Bild“ daraus? „LMU-Wissenschaftler“ hätten festgestellt, dass Kitas und Schulen keine Pandemietreiber seien. Der (angebliche) Beleg: „Steigende Inzidenzen bei Kindern führen nicht zu steigenden Inzidenzen in anderen Altersgruppen.“ Gemeint ist mit „LMU-Wissenschaftlern“ (die „Bild“ kurzerhand zu den „besten Statistikern des Landes“ ernennt) ein Team um Prof. Göran Kauermann, Statistik-Professor an der LMU München – kein Epidemiologe oder Virologe also –, der unlängst eine Arbeit vorgelegt hat, nach der steigende Infektionszahlen bei Schulkindern keinen unmittelbaren Anstieg von Infektionszahlen in anderen Alterskategorien bewirken.

„Salopp gesagt: Eltern infizieren die Kinder, aber nicht umgekehrt“, behauptet er. Deshalb könnten die Schulen ohne weitere Hygienemaßnahmen geöffnet bleiben. Das Problem dieser Studie ist allerdings: Sie baut (mal wieder) auf unvollständige Daten der Gesundheitsämter. Kauermann selbst hatte unlängst erst beklagt: „Für uns ist es erschreckend zu sehen, dass die Datenqualität in Deutschland noch immer eine einzige Katastrophe ist.“ Aber dieselbe Datenqualität soll jetzt plötzlich gut genug sein, um für die Kitas und Schulen Entwarnung zu geben?

Kauermanns These steht eben auch in klarem Widerspruch zu den neuesten Erkenntnissen der Uni Leipzig. „Ums nochmal zu betonen: Die anderen Altersgruppen blieben fast gleich und steigen erst seit Kurzem wieder deutlich”, sagt Epidemiologe Scholz. „Das ist ein klares Zeichen, dass es Infektionen unter Kindern gibt und nicht nur Übertragungen von Erwachsenen auf Kindern, wie immer wieder behauptet wird, denn dann müssten die Zahlen auch bei den Erwachsenen eher steigen. Es ist offenbar umgekehrt: Die Zahlen steigen zuerst bei den Kindern – und jetzt steigen sie in der Folge davon auch langsam bei den Erwachsenen. Bei den Schulschließungen gab es übrigens den umgekehrten Effekt.“

«Wenn wir Kitas und Schulen öffnen, müssen wir auch höhere Infektionszahlen in Kauf nehmen»

Dieser Befund wird aktuell auch in anderen Bundesländern bestätigt. «Wir sehen bereits seit vier bis fünf Wochen einen Anstieg der Fallzahlen in Baden-Württemberg», sagt der Leiter des Referats Gesundheitsschutz und Epidemiologie beim dortigen Landesgesundheitsamt (LGA), Stefan Brockmann. «Zu Beginn war der Anstieg noch moderat, doch nun steigen die Zahlen deutlich an mit ungefähr 2000 Neuinfektionen an einem Tag.» Zurückzuführen sei dieser Anstieg klar auf die Virusvarianten. Zugleich beobachtet der Pandemie-Experte des LGA einen starken Zuwachs der Infektionen bei Kindern und Jugendlichen. Deren Anteil habe zuletzt deutlich zugenommen und liege nun bei etwa 20 Prozent aller Infektionen. Dies sei auf die Öffnung von Kitas und Schulen zurückzuführen, sagt Brockmann. Diese Entwicklung ist für den Mediziner nicht überraschend. «Wenn wir Kitas und Schulen öffnen, müssen wir auch höhere Infektionszahlen in Kauf nehmen.»

Die „Bild“-Berichterstattung verfängt gleichwohl unter Deutschlands verantwortlichen Politikern. Manuela Schwesig (SPD), Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, behauptete gestern Abend in der ARD-Sendung Anne Will, dass das Coronavirus, wenn überhaupt, zumeist von infizierten Lehrern und Erzieher in die Kitas und Schulen getragen werde, die sich damit außerhalb angesteckt hätten – passend zur „Bild“-These.

Das Zusammenspiel von „Bild“ und Politik war auch schon am Donnerstag zu beobachten. Am Morgen forderte die Redaktion via Schlagzeile: „Schafft endlich den Inzidenzwert als Maß aller Dinge ab!“ Im KMK-Beschluss, der dann am Donnerstagabend erfolgte, liest sich das dann so: „Bei Entscheidungen über den Schulbetrieb ist daher perspektivisch zu prüfen, das Kriterium der Inzidenz um weitere Kriterien zu ergänzen.“ Keine Inzidenz mehr als Maßstab? Dann würden die Kitas und Schulen geöffnet bleiben können, egal wie heftig die Corona-Pandemie in Deutschland wütet.

„Bild“ führt seit Monaten eine Kampagne für offene Kitas und Schulen und bedient damit auch die Szene der Corona-Skeptiker und „Querdenker“. Tiefpunkt war der Versuch, den Charité-Chefvirologen Prof. Christian Drosten in den Dreck zu ziehen – womit das Blatt allerdings böse auf dem Bauch landete. „Fragwürdige Methoden – Drosten-Studie über ansteckende Kinder grob falsch! Wie lange weiß der Star-Virologe schon davon?“, so titelte das Blatt und drängte in der Folge auf sofortige weite Schulöffnungen.

Schnell wurde klar: Von einem Skandal konnte keine Rede sein. „Bild“ versuchte, eine wissenschaftliche Debatte um Details von Drostens Arbeit zu instrumentalisieren. In der Studie hatten er und sein Team gezeigt, dass infizierte Kinder dieselbe Virenlast tragen können wie Erwachsene. Dabei waren unter dem Druck, schnell Ergebnisse liefern zu müssen, recht grobe statistische Methoden angewendet worden, wie der Wissenschaftler selbst einräumte. Drosten überarbeitete die Untersuchung leicht – und hält an seinen Ergebnissen fest. Nach wie vor warnt er vor unüberlegten Schulöffnungen. „Bild“ hingegen wurde wegen unsauberen Zitaten und unbelegten Behauptungen vom Deutschen Presserat öffentlich gerügt. News4teachers / mit Material der dpa

Streit um Schulöffnungen wird nun schmutzig – „Bild“-Kampagne gegen Drosten

 

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