BERLIN. Die steigenden Corona-Zahlen und Befürchtungen vor Zuständen wie vor Weihnachten heizen die Debatte über Schulöffnungen wieder an. In Nordrhein-Westfalen streiten Landesregierung und Städte miteinander. In Hessen weigern sich immer mehr Kommunen, die vom Kultusministerium verfügten Schulöffnungen vor den Osterferien durchzuführen. Auch in Thüringen regt sich Widerstand. Das Robert-Koch-Institut hat unterdessen besorgniserregende Daten veröffentlicht, die ein deutliches Bild zum Infektionsgeschehen unter Kindern geben.
Die Diskussion über das Für und Wider von Präsenzunterricht an Schulen ist vor dem Hintergrund steigender Corona-Zahlen erneut entbrannt. Beispielhaft zeigt sich das in Nordrhein-Westfalen: Im bevölkerungsreichsten Bundesland wollen die Großstädte Dortmund und Duisburg die Schulen wieder schließen. Die Landesregierung lehnte dies am Mittwoch weiterhin ab. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier rief dazu auf, nach Möglichkeit nicht gleich wieder alle Schulen und Kitas zuzumachen. Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) sprach von einer «Gratwanderung».
Über das Thema Kitas und Schulen wird seit Beginn der Pandemie vor mehr als einem Jahr besonders gestritten. Je mehr die Corona-Zahlen im vergangenen Herbst stiegen, desto lauter wurde die Debatte. Nun wiederholt sich das im Zuge der schrittweisen Wiederaufnahme des Betriebs nach dem Winter-Lockdown.
Grundsätzlich geht es um die schwierige Abwägung zwischen Gesundheitsschutz für Lehrer, Kita-Personal, Kinder, Schüler und Familien auf der einen sowie Bildung, Struktur, sozialen Kontakten und wichtigen Erfahrungen für Kinder und Jugendliche auf der anderen Seite. Die Meinungsverschiedenheiten ziehen sich quer durch die Gesellschaft.
«Der stärkste Anstieg ist bei Kindern zwischen 0-14 Jahren zu beobachten»
Verschiedene aktuelle Entwicklungen bestärken nun die Kritiker von Öffnungen: Bei den Impfungen von Kita-Personal und Grundschullehrern stockt es, weil die Impfungen mit Astrazeneca gestoppt wurden. Es gibt Kritik, dass keine Schnell- und Selbstests an Schulen vorliegen, um unbemerkte Infektionen festzustellen.
Im aktuellen Lagebericht des Robert Koch-Instituts (RKI) heißt es: «Der stärkste Anstieg ist bei Kindern zwischen 0-14 Jahren zu beobachten, wo sich die 7-Tage-Inzidenzen in den letzten vier Wochen verdoppelt haben.» Bei den 0- bis Vierjährigen liegt die Inzidenz mittlerweile bei 74, bei den Fünf- bis Neunjährigen bei 97, bei den zehn- bis 14-Jährigen bei 76, bei den 15- bis 19-Jährigen bei 103. Die Daten scheinen die Schulöffnungen zu spiegeln: Seit Februar läuft der Betrieb an Kitas, Grundschulen und Abschlussklassen wieder. Im Bevölkerungsschnitt liegt der Inzidenzwert bei 85.
Die Ruhrgebietsstädte Dortmund und Duisburg wollten ihre Schulen angesichts der Lage nun wieder schließen. Die Landesregierung hatte das am Dienstag abgelehnt. NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) sagte dazu am Mittwoch im WDR-Morgenecho, viele Kinder und Jugendliche seien seit Dezember nicht mehr in den Schulen gewesen. Die zumindest tageweise Rückkehr in den Präsenzunterricht für alle Jahrgänge seit diesem Montag im Wechselmodus bleibe richtig. Dortmunds Oberbürgermeister Thomas Westphal (SPD) kritisierte das Festhalten an der Schulrückkehr als zu riskant.
Auch in anderen Bundesländern regt sich Widerstand gegen die Politik der offenen Schulen. Angesichts hoher Corona-Infektionszahlen bei Kindern und jungen Schülern hat sich der Thüringer SPD-Bildungspolitiker Thomas Hartung für einen weiteren Schullockdown mit Distanzunterricht ausgesprochen. «Eigentlich hätte man die Schulen gar nicht wieder aufmachen dürfen», sagte er. Die Infektionszahlen hätten sich bei Kita-Kindern und Schülern in den vergangenen Wochen vervielfacht. Auch die generell steigenden Infektionszahlen in allen Altersgruppen sprächen für Schließungen.
«Die Zahlen sind zu hoch, und sie könnten schwerer beherrschbar werden, wenn wir mehr Präsenzunterricht ermöglichen»
In Thüringen lag die Sieben-Tage-Inzidenz am Mittwoch bei 173,1 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner. Doch die Entwicklung ist insbesondere unter Kindern dramatisch: Nach Angaben des Bildungsministeriums lag der landesweite Inzidenzwert bei Unter-Sechsjährigen am 1. März noch bei 86,8, am Mittwoch erreichte sie 198,3. Noch deutlicher ist der Anstieg in der Altersgruppe der Sechs- bis Elfjährigen: Hier betrug die Inzidenz am 1. März 74, während sie am Mittwoch bei 211,2 lag – und sich damit fast verdreifachte. Hartung: «Das bedeutet: Ich gehe entweder zurück in den Lockdown oder ich ignoriere das, mache alles auf und dann haben wir bald die Intensivstationen in den Krankenhäusern wieder voll – dann aber mit eher jüngeren Menschen», sagte Hartung. Grund sei vor allem die Ausbreitung der britischen Mutante, die sich offenbar bei Jüngeren immer stärker ausbreite.
In Hessen weigern sich immer mehr Kommunen, die Schulen wie geplant noch vor den Osterferien für den Präsenzunterricht zu öffnen. Nach Stadt und Kreis Offenbach haben nun auch Hanau und der Main-Kinzig-Kreis sowie die Kreise Groß-Gerau, Lahn-Dill und Fulda abgesagt. «Angesichts der Tatsache, dass seit ein paar Tagen die Inzidenz bei uns im Kreis wieder über 100 liegt, wird dieser Schritt zur Rückkehr in den Unterricht nicht gegangen», sagte der Landrat von Groß-Gerau, Thomas Will (SPD), am Mittwoch. «Die Zahlen sind zu hoch, und sie könnten schwerer beherrschbar werden, wenn wir nächste und übernächste Woche unbeirrt und unreflektiert mehr Präsenzunterricht ermöglichen», erklärte Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD).
Bundespräsident Steinmeier sagte bei einer Diskussionsrunde mit Jugendlichen, er hoffe auf flexible Lösungen, die verhindern, dass Betreuung, Bildung und Begegnung jetzt schmerzhaft und flächendeckend abgebrochen werden. Wenn Kinder und Jugendliche nun als Erste wieder zurückstecken müssten, bleibe das nicht ohne Folgen.
«Es liegt in der Verantwortung der Politik, alles zu tun, damit der Schulbetrieb nicht zum Roulettespiel wird»
Bildungsministerin Karliczek sprach von einer «Gratwanderung», bei der Interessen der Kinder und Gesundheitsschutz abzuwägen seien. Auf die Frage, ob auch bei einem erneuten harten Lockdown die Schulen geöffnet bleiben sollten, antwortete Karliczek, das müsse regional gesehen werden. «Wenn ich in der Lage bin, mein Maßnahmenbündel noch mal nachzuschärfen und damit die Situation an den Schulen sicher zu halten, kann man das, glaube ich, vor Ort vertreten.»
Der VBE warnte dagegen, das Prinzip Hoffnung habe ausgedient. Die Schutzmaßnahmen an den Schulen seien nicht ausreichend. Das Personal müsse schnellstmöglich Impfangebote bekommen und es brauche mindestens zweimal wöchentlich Schnelltests, forderte der Verbandsvorsitzende Udo Beckmann. «Es liegt in der Verantwortung der Politik, alles zu tun, was notwendig ist, um einen Schulbetrieb zu gewährleisten, der nicht zum Roulettespiel wird.»
An diesem Donnerstag beraten abermals die Kultusminister der Länder. Konkrete Beschlüsse sind zunächst nicht zu erwarten. Wie sie konkret vorgehen, regeln die Länder selbst. Grundsätzlich ist zumindest momentan noch vorgesehen, dass schrittweise nun auch ältere Schüler zurück in die Schulen kommen. Grundschüler sind schon seit Februar wieder in den Klassenzimmern. Unterricht gibt es meist im sogenannten Wechselmodell – also mit geteilten Klassen, die abwechselnd in der Schule und zu Hause am Laptop unterrichtet werden. News4teachers / mit Material der dpa
