Ein Kommentar von News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek
BERLIN. Der Bundesrat hat die vom Bundestag bereits beschlossene Neufassung des Infektionsschutzgesetztes abgenickt – und damit den Weg freigemacht für eine bundesweite Notbremse im Kita- und Schulbetrieb. So unbefriedigend hoch die mit dem seltsamen Inzidenzwert von 165 auch angesetzt ist: Dass Bundeskanzlerin Angela Merkel die Grenzen des Nichtstuns in der größten Krise Deutschlands seit dem Zweiten Weltkrieg auf diese Art markieren musste, ist ein Armutszeugnis für die Provinzfürsten, die sich in über einem Jahr Pandemie nicht auf einen gemeinsamen Kurs einigen konnten.
Bundesratspräsident Reiner Haseloff gab den Grabredner auf einer Beerdigung. „Der heutige Tag ist für mich ein Tiefpunkt in der föderalen Kultur der Bundesrepublik Deutschland“, sprach der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt mit belegter Stimme. Die Länderkammer berate ein Gesetz, „dessen Entstehung, Ausgestaltung und Ergebnis unbefriedigend sind“. Gemeint war der Neuentwurf für ein Infektionsschutzgesetz, mit dem der Bund den Landesfürsten (endlich!) Grenzen bei der Nichtbeachtung der Corona-Pandemie setzt und den Präsenzbetrieb in den Bildungseinrichtungen ab einem Inzidenzwert von 165 verbietet. Diesen scheinbar auf dem Basar ausgehandelten Wert kann man durchaus als unwissenschaftlich kritisieren. Die allermeisten Virologen und Epidemiologen halten ihn für viel zu hoch.
Haseloffs Auftritt ist an Scheinheiligkeit allerdings kaum zu überbieten: Zum einen hätte Sachsen-Anhalt im Bundesrat durchaus Widerspruch gegen die Neufassung des Infektionsschutzgesetz einlegen können. Die Verantwortung, Deutschland bei der Pandemiebekämpfung ausgebremst zu haben, wollte der Christdemokrat aber offenbar dann doch nicht übernehmen. Zum anderen waren es gerade Corona-Ignoranten wie Haseloff und sein sächsischer Amtskollege und Parteifreund Michael Kretschmer, die die Notbremse des Bundes für den Kita- und Schulbetrieb unumgänglich gemacht haben.
Ein Deich ist immer nur so stark wie seine schwächste Stelle
Sachsen-Anhalt und Sachsen waren nämlich erklärtermaßen gewillt, den Präsenzbetrieb in den Bildungseinrichtungen unabhängig vom Infektionsgeschehen aufrechtzuerhalten – wie Covidioten, die meinen, in der Hochphase der Pandemie eine Party veranstalten zu müssen und uns alle damit gefährden. Dass Sachsen-Anhalt und Sachsen den Inzidenzwert für Deutschland statistisch kräftig nach oben treiben, ist also kein Zufall. Ein Deich ist immer nur so stark wie seine schwächste Stelle. In einem Jahr Pandemie haben es die deutschen Bundesländer nicht vermocht, eine gemeinsame Linie in Form eines Stufenplans zu finden. Das ist erbärmlich, und daran haben die Oberheuchler unter den Ministerpräsidenten einen gehörigen Anteil.
Am Wochenende haben die Spitzen des Staates der mittlerweile fast 80.000 Corona-Toten in Deutschland gedacht. Sinngemäß sagte der Bundespräsident dabei: Jetzt sei nicht die Zeit für eine Abrechnung, wir müssten erst einmal nach vorne schauen. Das ist sicher richtig. Rollende Köpfe bringen uns in der aktuellen Lage nicht weiter. Ein Hinweis an die Amtsträger sei allerdings gestattet: Tote (nicht Wählerstimmen) sind die Währung, nach der später abgerechnet wird. Da sieht die Bilanz für die dickfelligsten Corona-Verharmloser in den Landesregierungen düster aus: Sachsen liegt auf Platz eins mit 216 Todesfällen auf 100.000 Einwohner, Sachsen-Anhalt mit 135 (nach Thüringen, 172, und Brandenburg, 138) auf Platz vier der Horrorliste.
„Wenn dereinst die Geschichte der Coronapandemie geschrieben wird…”
Gescheitert sind aber nicht nur diese Landesregierungen im Osten, gescheitert sind alle 16 – und zwar vor allem in ihrer Verantwortung für Schulen und Kitas. „Wenn dereinst die Geschichte der Coronapandemie geschrieben wird, geht als eines der schlimmsten Versäumnisse in die Annalen ein, was die Regierenden den Kindern – und ihren Eltern – angetan haben: als sie es versäumten, Schulen und Kitas zu sicheren Orten zu machen“, so schrieb unlängst der „Spiegel“.
Tatsächlich ist die Schuld noch weitaus größer als das angesprochene Versäumnis. Die Kultus- und Familienminister ließen nicht nur jeden Elan vermissen, sich um Arbeitsschutz für Schüler und Lehrer, Kinder und Erzieher, um Lüftungsanlagen und Plexiglaswände in den Klassen- und Gruppenräumen, um einen sicheren Schülertransport und um die Einhaltung der elementarsten Hygieneregeln (Abstand!) oder auch nur der Quarantäne-Vorgaben des RKI in den Bildungseinrichtungen zu kümmern. Die Minister zwangen Lehrer und Erzieher sowie die Schüler zudem tagtäglich ins volle Risiko, während sie selbst sicher per Video konferierten. Sie lernten auch nicht aus ihren Fehlern. Und: Sie taten auch noch alles, um ihr Versagen zu verschleiern.
Wissenschaftliche Stichproben zum Infektionsgeschehen in Kitas und Schulen wurden nach dem Sommer 2020 nicht mehr veröffentlicht (die davor waren wertlos, weil sie nur den Effekt des Lockdowns maßen) – stattdessen: Gefälligkeitsstudien auf Grundlage der löchrigen Daten der Gesundheitsämter, die Kinder schon deshalb kaum testeten, weil junge Menschen nun einmal selten Symptome zeigen. In Hamburg verschwand eine Untersuchung zu einem großen Schul-Ausbruch, die wichtige Erkenntnisse zum Infektionsschutz hätte liefern können, in der Schublade des Bildungssenators. Pressemitteilungen wurden verfälscht. Daten wurden zurückgehalten, dann auf öffentlichen Druck hin kleckerweise herausgegeben – in Prozentwerten, die viel kleiner aussehen als Inzidenzen.
Statt den Rat seriöser Wissenschaftler einzuholen, wurden Scharlatane und Kinderärzte-Lobbyisten vorgeschoben. Empfehlungen der Gesellschaft für Virologie wurden genauso ignoriert wie die der Leopoldina oder des Robert-Koch-Instituts. Die Bundeskanzlerin wurde mit ihrem Wunsch nach einem Stufenplan für den Schulbetrieb brüskiert. Steigende Infektionszahlen unter Kita-Kindern und Schülern nach den Herbstferien? Egal. Die Kitas und Schulen blieben schutzlos geöffnet.
Deutschland ist also einen Sonderweg gegangen. Und zahlt wohl jetzt den Preis dafür
Eine Übersicht der OECD, die dieser Tage erschien, zeigt ein bemerkenswertes Bild: Nicht Schweden, dessen lockerer Kurs in der Corona-Pandemie (mit vielen Toten!) als Sonderweg gilt, verzeichnet für 2020 bei den weiterführenden Schulen die wenigsten Tage mit Schulschließungen – Deutschland und Dänemark sind es, die in der Vergleichstabelle weit nach unten ausschlagen. Deutschland ist also einen Sonderweg gegangen. Und zahlt wohl jetzt den Preis dafür.
Immer deutlicher wird das Bild: Anders als die Kultusminister immer wieder behaupten, sind die Kitas und Schulen sehr wohl Treiber der Pandemie. Waren die Schulen geschlossen, sanken die Inzidenzen. Sind sie geöffnet – steigen sie. Kein Wunder: Nirgends sonst kommen so viele Menschen praktisch ungeschützt täglich aufeinander. Das Märchen von den angeblich kaum ansteckenden Kindern, das die Kultusminister monatelang verbreiteten, ist längst widerlegt. Die Vermutung, dass die Kitas und Schulen dem Virus spätestens seit vergangenem Herbst als Verteilzentren dienen und die Grundlage des vom RKI so benannten „diffusen Infektionsgeschehens“ bilden, liegt also nahe.
Wie schlampig die Kultusminister – die wohl eigentlichen Treiber der Pandemie – darüber hinaus arbeiten, lässt sich anhand der von den Ministerpräsidenten bereits Anfang März beschlossenen Selbsttests in den Schulen zeigen. Schulen wurden pädagogisch sinnfrei kurz vor den Osterferien aufgerissen, obwohl die Testkits, die zur Sicherung des Schulbetriebs dienen sollten, noch gar nicht ausgeliefert worden waren. Dass die Inzidenzen unter Kindern und Jugendlichen unterdessen in die Höhe schossen? Egal. Frech wurde behauptet, dass ja nun auch mehr getestet würde (was zu diesem Zeitpunkt nicht stimmte). Die Feststellung des RKI, dass bei den Tests die Positivenquote steigt, was belegt, dass sich das Virus tatsächlich ausbreitet, wird geflissentlich überhört.
NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer beklagt, dass sie ja leider nicht über eine Glaskugel verfügt
Dazu kommt eine Wissenschaftsferne, die schmerzt. NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer etwa beklagt, dass sie ja leider nicht über eine Glaskugel verfüge, um das Infektionsgeschehen in den kommenden Wochen vorhersagen zu können. Auf (echte) Wissenschaftler zu hören, die seit Monaten das Infektionsgeschehen aufgrund von präzisen Simulationen korrekt vorhersagen, kommt ihr offenbar nicht in den Sinn. Das Ergebnis der Planlosigkeit: ein Hin und Her, Schulen auf – Schulen zu, im Wochentakt.
Jetzt, nach mehr als einem Jahr Pandemie, bekommen die Lehrer, Schüler und Eltern in Nordrhein-Westfalen dank der Bundes-Notbremse nun erstmals eine konkrete Information darüber, was das Kriterium für offene/geschlossene Schulen ist, ein höherer/niedriger Inzidenzwert als 165 eben. Fun Fact: Der Hauptverantwortliche für dieses Chaos (Ministerpräsident Armin Laschet) will jetzt Bundeskanzler von Deutschland werden.
Nicht einmal als mit Auftauchen der „britischen“ Mutation B.1.1.7 die Gelegenheit zur gesichtswahrenden Kurskorrektur kam, reagierten die Landesregierungen. Die Mutante gelangte in Großbritannien nachweislich (wie viel bessere Erhebungen als in Deutschland belegen) über die Kitas und Schulen in die Familien und erreichte so die vulnerablen Älteren. Eine dritte Corona-Welle mit Zehntausenden von Toten war die Folge. In Deutschland ist mit drei Monaten Zeitverzug die gleiche Katastrophe absehbar. Unser Land steht vor dunklen Wochen, bis die Impfquote so hoch ist, dass sie Wirkung entfalten kann.
Die Landesregierungen waren also frühzeitig gewarnt. Sie hätten behaupten können, dass erst jetzt, mit der ansteckenderen und gefährlicheren Variante, die Notwendigkeit des Eingreifens gekommen sei – und endlich handeln können, ohne damit ihr Versagen im Herbst anzuerkennen. Stattdessen blieben die Länder bei ihrem Kurs. So beschloss die Kultusministerkonferenz Anfang April allen Ernstes, dass Inzidenzwerte gar nicht mehr so aussagekräftig seien – weil ja jetzt eben mehr getestet werde –, und stattdessen „perspektivisch“ andere Kriterien für die Verbreitung der Seuche herangezogen werden sollen. Welche, das erklärten die Kultusminister in ihrem Beschluss nicht.
Mein Vorschlag: Nehmt doch die Statistik der Corona-Toten.
Der Journalist und Sozialwissenschaftler Andrej Priboschek beschäftigt sich seit 25 Jahren professionell mit dem Thema Bildung. Er ist Gründer und Leiter der Agentur für Bildungsjournalismus – eine auf den Bildungsbereich spezialisierte Kommunikationsagentur, die für renommierte Verlage sowie in eigener Verantwortung Medien im Bereich Bildung produziert und für ausgewählte Kunden Content Marketing, PR und Öffentlichkeitsarbeit betreibt. Andrej Priboschek leitete sieben Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit des Schulministeriums von Nordrhein-Westfalen.
In eigener verlegerischer Verantwortung bringt die Agentur für Bildungsjournalismus tagesaktuell News4teachers heraus, die reichweitenstärkste Nachrichtenseite zur Bildung im deutschsprachigen Raum mit (nach Google Analytics) im Schnitt mehr als einer Million Lesern monatlich und einer starken Präsenz in den Sozialen Medien und auf Google. Die Redaktion von News4teachers besteht aus Lehrern und qualifizierten Journalisten. Neben News4teachers produziert die Agentur für Bildungsjournalismus die Zeitschriften „Schulmanager“ und „Kitaleitung“ (Wolters Kluwer) sowie „Die Grundschule“ (Westermann Verlag). Die Agentur für Bildungsjournalismus ist Mitglied im didacta-Verband der Bildungswirtschaft.
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