DÜSSELDORF. Ein Brief von Eltern – darunter auch etliche Lehrkräfte – an die nordrhein-westfälische Landesregierung sorgt aktuell für Wirbel im Netz. In dem Schreiben, das auch alle Abgeordneten des Landtags in Düsseldorf erhalten haben, fordern Bürgerinnen und Bürger einen besseren Schutz für Kinder, Jugendliche und ihre Familien in der Corona-Pandemie. Die Entscheidung, in der aktuellen dritten Welle die Schulen für den Wechselunterricht zu öffnen, „halten wir für unverantwortlich und können nicht glauben, dass Sie wirklich diese Anordnung getroffen haben”. Wir dokumentieren den lesenswerten Text in Auszügen.
Für Schutz von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien in der Corona-Pandemie
Bonn, 14. April 2021
„Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Laschet, sehr geehrter Herr Minister Dr. Stamp, sehr geehrte Frau Ministerin Gebauer, sehr geehrter Herr Minister Laumann,
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Die Politik beteuert immer wieder, dass sie vorsichtig und den Infektionsschutz beachtend agiert. Wir möchten das sehr gerne glauben. Wir sehen allerdings mit großer Sorge die gerade in den Altersklassen der Kitakinder und Schüler:innen dramatisch steigenden Infektionszahlen [1] und die überquellenden Intensivstationen, in denen nun nicht mehr die Generation der Großeltern, sondern die der Eltern mit schweren Covid-19-Verläufen liegt. Von diesen Patienten werden fast 50% sterben. In den USA haben bislang 40.000 Kinder mindestens ein Elternteil an Covid-19 verloren [2], in Frankreich verloren an einer Schule 20 Kinder einen Elternteil. [3]
Der Besuch von Kita und Schule wird von Voraussetzungen abhängig gemacht, die dem aktuellen Infektionsgeschehen nicht im Ansatz entsprechen, v. a. hinsichtlich der VOC B.1.1.7, die inzwischen 88% der Infektionen in Deutschland ausmacht und sowohl infektiöser als auch pathogener ist, d. h. sich schneller verbreitet und kränker macht.
Wechselunterricht in Schulen soll stattfinden, wenn die AHA+L-Regeln umgesetzt werden, im Besonderen ein Abstand von 1,5m eingehalten werden kann, die Hände gewaschen/desinfiziert werden, ein MNS getragen und alle 20 Minuten gelüftet wird. Neu hinzu kam vor den Osterferien das Testen der Kinder mit einem Schnelltest in der Schule. Geplant ist, Schüler:innen zukünftig 2x pro Woche zu testen – die Testsituation in der Klasse unter Abnahme des MNS ist dabei völlig unzumutbar, wie zahlreiche Berichte von Lehrern und Eltern deutlich machen.
Diese verschiedenen Maßnahmen sollen der Sicherheit vor einer Corona-Infektion dienen. Sie reichen aber wissenschaftlichen Experten nach nicht aus. Bspw. stellen Aerosolforscher anschaulich dar, wie sich Aerosole in Klassenräumen verbreiten und sich somit auch Viren schnell und effektiv zwischen den Personen im Raum bewegen. Dieser bekannten Gesundheitsgefahr wird mit keiner der o.g. Maßnahmen Rechnung getragen. Auch das Lüften kann einen gegenteiligen Effekt haben, wenn „falsch“ gelüftet wird und Aerosole nicht abgeleitet, sondern nur im Raum verteilt werden und damit die Infektionsgefahr deutlich erhöhen und erweitern. Ein Gesundheitsrisiko, wie es das SARS-Cov-2-Virus darstellt, ist mit keinem bislang bekannten Risiko für Kinder und ihre Familie zu vergleichen und darf keinesfalls unterschätzt werden. Keine andere Infektionskrankheit, der Kinder und ihre Familien in Schulen und Kitas ausgesetzt sein könnten, füllt in gleichem Maße die Intensivstationen und hinterlässt so viele Langzeiterkrankte und Multiorgangeschädigte. Dem muss jede politische Maßnahme Rechnung tragen. Covid-19 ist neu und die langfristigen Auswirkungen auf Menschen, Gesundheitssystem und Gesellschaft können nach einem Jahr Pandemie noch lange nicht beurteilt werden.
Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass auch für Kinder ab 12 Jahren ein Impfstoff entwickelt ist
Die Wissenschaft hat in Rekordzeit eine Impfung gegen Covid-19 entwickelt, es stehen weltweit mehrere Impfstoffe zur Verfügung und Länder, in denen der Impffortschritt weit gediehen ist, zeigen Hoffnung auf Beendigung der Pandemie machende Effekte in der Gesundheit der Bevölkerung. Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass auch für Kinder ab 12 Jahren ein Impfstoff entwickelt ist. Das ist für Eltern eine große hoffnungsvolle Erwartung.
Allerdings liegt in Deutschland die Impfquote der Erstimpfung erst bei gut 16%, viele Impfberechtigte der Risikogruppe 1 und Pflegepersonal konnten geimpft werden, auch Lehrer und Erzieher haben – laut Minister Dr. Stamp – ein Impfangebot bekommen. Wir stellen aber fest, dass bei Weitem nicht alle Personen des Bildungssektors schon geimpft werden konnten – ein Angebot allein reicht nicht aus, die Impfung muss auch erfolgen. Ein optimaler Impfschutz ist zudem erst nach Verabreichung beider Impfdosen zu erwarten. Das bedeutet, dass geimpfte Lehrer:innen erst 14 Tage nach der zweiten Impfdosis ausreichend geschützt sind. Ein Einsatz im Präsenzunterricht vor dieser Frist gefährdet das pädagogische Personal wissentlich und ist auch aus unserer Elternsicht nicht zumutbar.
Der Infektionsschutz an Schulen und Kitas mit einer Impfung des pädagogischen Personals ist nur eine Seite der Medaille. Die Kehrseite ist die noch nicht mögliche Impfung der Kinder und die in weiten Teilen noch nicht erfolgte Impfung der Eltern und Familienangehörigen. Schule entspricht erst dann einem pandemieangepassten sicheren Ort des Lernens und Lehrens und der kindlichen Lebenswelt, wenn alle am Bildungsgeschehen Beteiligte und ihre Angehörigen ein realisierbares Impfangebot erhalten haben.
Wir sind sehr besorgt über diese Entwicklungen! Wir sagen Nein zu den chaotischen Schulöffnungs- und Schließszenarien, weil der Infektionsschutz besonders hinsichtlich der über 50% infektiöseren Variante B.1.1.7 NICHT ausreicht. Wir sagen Nein zu Präsenzunterricht und -betreuung, solange Lehrer:innen, Erzieher:innen, Betreuer:innen und Schulbegleiter:innen nicht ausreichend geimpft sind! Wir sagen Nein zu Präsenzbetrieb, solange Eltern und Angehörige nicht geimpft sind!
Die pathogenen Folgen einer SARS-Cov-2-Infektion trifft Kinder im Verhältnis seltener und weniger schwer, darüber sind sich Wissenschaftler einig und darüber sind alle Eltern mehr als froh. Schwere oder tödliche Verläufe sowie bedrohliche Langzeitfolgen wie das Postvirale Entzündungssyndrom (PIMS) treten auf, sind aber vergleichsweise selten.
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Ganz besonders schwer trifft es Kinder von Risikopatienten und Kinder, die von einem Elternteil allein großgezogen werden
Viel größer sind die Folgen der Pandemie für die Kinder allerdings durch Infektion ihrer Eltern und Angehörigen, durch deren mögliche Langzeiterkrankung und Tod. (…) Kinder sind dann besonders betroffen, wenn aufgrund der hohen Infektiosität des Virus beide Eltern erkranken und die Sorge um ihre Kinder nicht mehr wahrnehmen können. Ganz besonders schwer trifft dies Kinder von Risikopatienten und Kinder, die von einem Elternteil allein großgezogen werden. Fällt dieser Elternteil aus, muss stationär aufgenommen oder über Wochen intubiert werden, stehen diese Kinder ohne die sie versorgende Bezugsperson da. Die Ängste der Kinder, einen oder beide Elternteil(e) zu verlieren oder langzeiterkrankt zu erleben, sind immens und beschädigen die seelische Unversehrtheit traumatisch und oft irreparabel.
Diese massiven Risiken für Kinder und ihre Familien in Kauf zu nehmen, um einen durch immer wieder erfolgende Quarantänen, Teilschließungen oder Vollschließungen unterbrochenen Präsenzunterricht mit beschränkten Lernerfolgen und unter eingeschränkten Möglichkeiten zu realisieren, erscheint uns mehr als unverhältnismäßig.
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Die Pflicht der Testung an Bildungseinrichtungen des Landes NRW begrüßen wir grundsätzlich, haben aber einige kritische Anmerkungen dazu:
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Die Testsituationen in den Klassenräumen sind in hohem Maße gefährlich, da Masken abgenommen werden müssen
Wir sehen mit größter Sorge, dass dieses wichtige Werkzeug der Infektionskontrolle im Bereich von Bildungseinrichtungen, Betrieben und Geschäftsbereichen vollkommen falsch verstanden als sogenannter „Türöffner“ missbraucht wird. In Schulen bedeutet das zu unserem Entsetzen, dass bei hohen Inzidenzen Kinder „freigetestet“ werden sollen, um einen scheinbar sicheren Präsenzunterricht durchführen zu können. Die Testsituationen sind in hohem Maße gefährlich, da Masken abgenommen werden müssen und der Testvorgang Husten oder Niesen erzeugen kann, so dass ungeschützt Aerosole in den Raum abgegeben werden können.
Wir sind entsetzt über dieses „Verbrennen“ eines effektiven Mittels der Infektionskontrolle! Wir sagen Nein zu Tests zur scheinbaren Absicherung von Präsenzunterricht. Wir sagen Nein zu gefährlichen Testsituationen in Schulklassen! Wir sagen Nein zur immer höher werdenden Belastung von Lehrkräften und Eltern!
Wir haben klare Vorstellungen, wie wir unsere Kinder und unsere Familien durch die Pandemie bringen wollen. Oberstes Ziel ist uns dabei, gesund zu bleiben. Wir erwarten von Ihnen, Herr Laschet, Herr Dr. Stamp, Frau Gebauer und Herr Laumann und allen anderen Politikern, dass Sie alles dafür tun, das Leben und die Gesundheit der Kinder und ihrer Familien zu schützen und zu bewahren.”
Hier lässt sich das vollständige Schreiben lesen – und mitunterzeichnen.
[1] https://www.ruhr24.de/service/corona-mutation-kinder-b117-covid-19-inzidenz-rki-auswirkung-grossbritannien-zahlen-deutschland-90262186.html [2] https://amp.cnn.com/cnn/2021/04/05/health/parental-deaths-covid-19-wellness/index.html?_twitter_impression=true [3] https://nachrichten.fr/ich-habe-angst-dass-sich-meine-eltern-anstecken-in-dieser-oberschule-in-drancy-sind-bereits-22-klassen-geschlossen/
