BERLIN. Einerseits steigen die Infektionszahlen unter Kindern und Jugendlichen seit Schuljahresbeginn drastisch, andererseits werden Schutzmaßnahmen in Schulen von den Landesregierungen abgebaut. Eltern sehen ihre Kinder einem Durchseuchungskurs ausgesetzt, dem sie aufgrund der Schulpflicht nicht entgehen können. Die Initiative „Sichere Bildung jetzt“ hat nun in einem wissenschaftlich fundierten, offenen Brief an die Kanzlerkandidaten Annalena Baerbock (Grüne), Armin Laschet (CDU) und Olaf Scholz (SPD) dargelegt, warum sie diese Linie für brandgefährlich hält. Wir dokumentieren das lesenswerte Schreiben in zwei Teilen. Im ersten, folgenden geht es um die politischen Forderungen – der zweite liefert die wissenschaftlichen Hintergründe.
Nach mehr als anderthalb Jahren Pandemie schuldet die Politik den Kindern und Jugendlichen derzeit vor allem eines: Solidarität und Schutz. Kinder haben
- alle Maßnahmen mitgetragen, um die Gesellschaft zu schützen und nun verdienen sie denselben Schutz.
- Schulschließungen hinnehmen müssen, obwohl es von Expert:innen erarbeitete Konzepte für einen pandemiesicheren Schulbetrieb und Konzepte zur Sicherung des Kindeswohls distanzbeschulter Kinder gab. Diese Konzepte liegen den Kultusminister:innen seit einem Jahr vor, wurden aber leider nicht umgesetzt.
- sich gefragt, warum die Digitalisierung ihres Unterrichts seit 4 Jahren als Thema für Wahlkampfplakate dient („Das Digitalste an Schulen darf nicht die Pause sein“), aber nicht effektiv in die Tat umgesetzt wird. Und sie haben sich gefragt, warum viele Schulen immer noch keine Infrastruktur für Distanzunterricht haben, obwohl das bereits seit 21 Jahren gefordert wird1.
- bei Minusgraden in Klassenzimmern gefroren, weil die Anschaffung von Luftfiltern von den Kultusminister:innen auch dann noch als unnütz und zu teuer bezeichnet wurde, als deren eigene Arbeitsplätze bereits längst damit ausgestattet waren.
- eine Vielzahl von Sorgen geäußert. Darunter auch Sorgen um ihre eigene Gesundheit und die ihrer Familien. Aber diese Sorgen wurden nicht gehört.
Letzteres mag daran liegen, dass zu Beginn der Pandemie zunächst nicht klar war, inwiefern auch Kinder und Jugendliche von COVID-19 betroffen sind. Inzwischen gibt es Erkenntnisse dazu und diese machen deutlich, dass sich Bildung und Gesundheitsschutz nicht länger ausschließen dürfen.
Kinder brauchen beides. Sie brauchen verlässlichen Unterricht. Aber dafür darf nicht hingenommen werden, dass COVID-19-Infektionen sich weiterhin ungehindert unter ihnen ausbreiten, denn das wäre sowohl im Hinblick auf das Kindeswohl als auch aus epidemiologischen Gründen unverantwortlich.
Die von der Universität Princeton durchgeführte und bisher wohl größte Kontaktverfolgungsstudie mit über 575.000 Menschen hat gezeigt, dass Kindern im Pandemiegeschehen eine zentrale Rolle zukommt2. Wie wir inzwischen wissen, stecken sie sich genauso wie Erwachsene an und können das Virus auch ebenso wie diese weitergeben. Aber im Unterschied zu Erwachsenen kommen sie täglich über mehrere Stunden hinweg in großer Zahl auf relativ engem Raum ohne effektiven Infektionsschutz zusammen und genau das erhöht das Ansteckungsrisiko. Dementsprechend haben sich Schulschließungen auch als eine der effektivsten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie erwiesen3.
Auch die Zwischenergebnisse der von der Kultusministerkonferenz selbst in Auftrag gegebenen – wenn auch methodisch4 leider durchaus fragwürdigen – Studie5 zeigen, dass das Ansteckungsrisiko in Schulen 2- bis 4-mal höher ist als in der Allgemeinbevölkerung. Es handelt sich also nicht lediglich um ein so genanntes allgemeines Lebensrisiko, sondern geht deutlich darüber hinaus.
Vor allem vor dem Hintergrund der Ausbreitung ansteckenderer Virus-Varianten wie der aktuell vorherrschenden Delta-Variante, die eine ähnliche Ansteckungsfähigkeit aufweist wie die Windpocken und sich bereits bei flüchtigem Kontakt übertragen kann6. Dies begünstigt Masseninfektionen an Orten, an denen viele ungeimpfte und nicht ausreichend geschützte Menschen zusammenkommen und das betrifft derzeit vor allem Schulen.
(…)
Bildung und Gesundheitsschutz lassen sich vereinbaren
Kinder haben neben dem Grundrecht auf Bildung ein Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und es ist durchaus möglich, beide Grundrechte und darüber hinaus das ebenfalls im Grundgesetz und auch vielen Schulgesetzen verankerte natürliche Erziehungsrecht der Eltern zu wahren. Familien haben unterschiedliche Bedürfnisse und dem sollten die Verantwortlichen gerecht werden. Bildung und Gesundheitsschutz lassen sich durchaus miteinander vereinbaren. Für viele andere (wirtschaftsnahe) Bereiche wurden in kürzester Zeit große Summen mobilisiert. Das muss für Kinder, die immerhin die Zukunft unseres Landes sind, ebenfalls möglich sein.
Vor diesem Hintergrund fordern wir:
- eine Aussetzung der Präsenzpflicht in allen Bundesländern, d.h. Eltern werden nicht gezwungen ihre Kinder dem Infektionsrisiko auszusetzen und entscheiden selbst, ob ihre Kinder die Schulpflicht in der jeweils aktuellen Lage per Präsenz- oder Distanzunterricht erfüllen; es wird zudem angeregt, die 1938 aus anderen Gründen eingeführte Präsenzpflicht, die es sonst in fast keinem anderen demokratischen Land gibt, mittelfristig wie in anderen Demokratien durch eine Bildungs- oder Unterrichtspflicht zu ersetzen; bei dieser ist die Beschulung nicht an einen bestimmten Ort gebunden, sondern orientiert sich an den Bedürfnissen der Lernenden; das ist insofern anstrebenswert, da es auch unabhängig von der Pandemie Kinder gibt, die stärker von anderen Beschulungsformen profitieren; zudem sind die Argumente für ein Aufrechterhalten der Präsenzpflicht inzwischen seit längerem widerlegbar
- Recht auf Beschulung durch bereits etablierte Online-Schulen – und/oder wie es u.a. in Thüringen geplant ist – die Einrichtung einer staatlichen Online-Schule, über die die Schüler:innen bei Bedarf dem Lehrplan des jeweiligen Bundeslandes entsprechend individuell oder in virtuellen Klassenverbänden beschult werden können, sofern der Distanzunterricht nicht oder nicht in adäquater Weise durch die Stammschule umgesetzt werden kann
- sichere „Studyhalls“ und Notbetreuungsangebote für Familien, die sich für Distanzunterricht entscheiden, aber externen Betreuungs- oder Beschulungsbedarf haben
- Kohortenbildung und geteilte Klassen bei steigender Landkreis-Inzidenz in der jeweiligen Altersgruppe (vgl. Toolbox der europäischen No-Covid-Strategie)
- Raumluftreiniger mit HEPA-Filtern (mind. HEPA-13) für alle Klassenräume, ergänzend zu den vor Ort gegebenen Lüftungsmöglichkeiten, da die Effektivität des Lüftens auch bei vollständig zu öffnenden Fenstern von zu vielen weiteren Faktoren abhängt, die sich nicht beeinflussen lassen (Größe und Lage der Lüftungsflächen, Außentemperatur, Luftdruck, Windgeschwindigkeit, bauliche Besonderheiten des Raumes, Virenkonzentration…)
- bei einer steigenden Landkreis-Inzidenz in der jeweiligen Altersgruppe in geschlossenen Räumen und im Freien Mund-Nasen-Schutz, sofern kein Abstand eingehalten werden kann (vgl. Toolbox der europäischen No-Covid-Strategie); dafür ist eine für den täglichen Gebrauch ausreichende Anzahl kindgerechter, schadstofffreier FFP-2-Masken (MNS) zu beschaffen, die von den Eltern erworben werden können; Familien mit niedrigem Einkommen sind diese Masken kostenlos zur Verfügung zu stellen
- PCR-Tests (Lollitest) bei allen Schüler:innen und Lehrkräften (auch bei geimpften Personen, da sie im Infektionsfall grundsätzlich ebenfalls ansteckend sein können); aufgrund der Besonderheiten der Delta-Variante Erhöhung der Test-Anzahlauf 3x pro Woche47
- Cluster-Quarantänen aufgrund der hohen Ansteckungsfähigkeit der Delta-Variante und aufgrund der zu berücksichtigenden Inkubationszeit; allerdings nicht mehr für 14 Tage, sondern nur für 5 Tage mit anschließendem Freitesten; vor dem Hintergrund der Erkenntnisse zur Aerosolforschung und zur Infektiosität der Delta-Variante reicht es nicht aus, lediglich für die direkten Sitznachbar:innen oder gar nur für die infizierte Person selbst eine Quarantäne anzuordnen
- Inner- und außerschulische transparente Kommunikation von Infektions- und Verdachtsfällen in Schulen (datenschutzkonform ohne Nennung von Namen – wie bei anderen Infektionserkrankungen in Schulen auch)
- Infektionsschutzkonzepte für die Schulwege mit öffentlichen Verkehrsmitteln (z.B. Einsatz von Verstärkerfahrten im ÖPNV)
Zur Präsenzpflicht gibt es von Mediendidaktikern entwickelte, gut erforschte und auch den zwischenmenschlichen Kontakt und das kooperative und kollaborative Lernen unterstützende Alternativen, zumal Schulen nicht der einzige Sozialisationsort für Kinder sind – nur eben derzeit derjenige mit dem höchsten Infektionsrisiko. Zur Gesundheit und dem Leben der Kinder gibt es dagegen keine Alternative. Deshalb müssen wir Familien während einer Pandemie über die Beschulungsform mitentscheiden dürfen.
Es ist enttäuschend, dass CDU, FDP und AfD während der NRW-Landtagssitzung des Ausschusses für Schule und Bildung am 01.09.2021 allgemein gegen mehr Mitbestimmungsrechte von Schüler:innen und Eltern gestimmt haben, aber in puncto Beschulungsform ist dies während einer Pandemie nicht mehr hinnehmbar. Vor allem nicht, wenn die Kinder ungefragt einer Durchseuchungsstrategie ausgesetzt werden und keine Möglichkeit haben, dieser zu entgehen. Wir haben in den vergangenen Monaten viele Grundrechtseinschränkungen mitgetragen. Aber die weitere Einschränkung des Erziehungsrechts und der Ausübung der elterlichen Verantwortung tragen wir nicht mit. Wenn nach und nach alle Grundrechtseinschränkungen aufgehoben werden, dann muss dies auch für diese gelten. Alles andere ist weder ethisch noch demokratisch vertretbar.
Bitte handeln Sie jetzt. Für die Kinder.
Hier findet sich der offene Brief im Original – auch zum Mitzeichnen.
Quellen
1. https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-745767.html
3. https://www.thelancet.com/journals/laninf/article/PIIS1473-3099(20)30785-4/fulltext
4. https://twitter.com/HenningT6/status/1423254776821731332/photo/1
