MÜNCNEN. Nach den Sommerferien ist die Inzidenz in Bayern zunächst kräftig gestiegen – und hat sich seit mehreren Wochen auf hohem Niveau knapp unter 100 (bei Ungeimpften: 200) eingepegelt. Treiber des registrierten Infektionsgeschehens sind vor allem die Schülerinnen und Schüler: Bei den Sechs- bis Elfjährigen liegt die Inzidenz aktuell bei 185, bei den Zwölf- bis 15-Jährigen bei 176 und bei den 16- bis 19-Jährigen 180. Die Folgen: In den Kitas und Schulen werden immer mehr Ausbrüche gezählt. In den aktuellen Daten zeigt sich noch nicht, wie sich das Ende der Maskenpflicht im Unterricht vor zehn Tagen auswirken wird – ein Fall aus Tutzing lässt nichts Gutes erahnen.
Bei der Sieben-Tages-Inzidenz erreichen mehrere bayerische Landkreise mittlerweile bundesweite Spitzenwerte. Der Kreis Berchtesgadener Land hatte am Dienstag mit einer Corona-Inzidenz von rund 262 zum Beispiel den höchsten Wert in ganz Deutschland. Noch bedrohlicher ist die Entwicklung bei den Schülerinnen und Schülern: Im Landkreis Straubing-Bogen ist die Inzidenz unter Fünf- bis 14-Jährigen auf 598 gestiegen – den vierthöchsten Wert in dieser Altersgruppe bundesweit –, im Landkreis Berchtesgadener Land auf 553.
Was diese Entwicklung für den Schulbetrieb bedeutet, zeigt sich am Beispiel der Grund- und Mittelschule Tutzing: Dort wächst sich ein Ausbruch derzeit rasant aus. Am Donnerstag meldete das zuständige Landratsamt Starnberg sieben Infektionen unter Schülerinnen und Schülern, am Freitag zwei zusätzliche. Am Montag dann sprach die Rektorin bereits von 14 bestätigten Fällen – ein Kind sei schwer erkrankt. Inzwischen seien alle drei dritten Klassen sowie eine erste Klasse betroffen. „Das Virus ist schneller als wir“, sagt die Schulleiterin einem Bericht der „Süddeutschen Zeitung“ zufolge. Konsequenzen für den Präsenzbetrieb: praktisch keine.
“Warum sind die Quarantäne- und Testregeln derart lax, obwohl doch bekannt ist, dass das Virus in den Klassen auf schutzlose Kinder trifft?”
„Das Unverständnis wächst mit jedem neuen Coronavirus-Fall: Wer schützt unsere Kinder und Familien? Das fragen sich Eltern an der Tutzinger Grundschule, nachdem sich der Erreger dort seit Anfang Oktober beständig klassenübergreifend ausbreitet. Warum sind die Quarantäne- und Testregeln derart lax, obwohl doch bekannt ist, dass das Virus in den Klassenräumen auf schutzlose Kinder trifft, die sich altersbedingt nicht impfen lassen können – sehr wohl aber Überträger sein können. Ist dieses Risiko der Preis für den Präsenzunterricht?“, so fragt die „Süddeutsche Zeitung“.
Ergänzend zu fragen wäre: Oder ist dieses Risiko der Preis dafür, dass schlicht zu wenig getan wurde, um den Präsenzunterricht zu sichern? Eine Initiative von Ministerpräsident Markus Söder (CSU), alle Schulen und Kitas im Freistaat mit mobilen Luftfiltern auszustatten, verpufft in der Fläche: Vor zwei Wochen hieß es, dass bislang nur ein Viertel der insgesamt 100.000 Klassenräume mit den Geräten bestückt werden konnte. Von Kita-Gruppenräumen ist praktisch gar keine Rede mehr.
Etliche Familien sähen sich bereits genötigt, ihre Kinder krank zu melden, um eine Ansteckung zu vermeiden, so heißt es an der Tutzinger Grund- und Mittelschule. Die Rektorin hätte nach Bekanntwerden des ersten Falles am liebsten die komplette Klasse für mehrere Tage in Quarantäne geschickt – und dies auch dem Gesundheitsamt mitgeteilt. „Doch ich darf das nicht“, sagt sie dem Bericht zufolge. Sie habe immerhin eine Maskenpflicht für alle Schüler der Grund- und Mittelschule im Unterricht verhängt, obwohl das bayerische Kultusministerium diese eigentlich vor zehn Tagen gestrichen hatte.
Das örtliche Gesundheitsamt lässt den Betrieb laufen – und beruft sich auf Vorgaben des Gesundheitsministeriums. Demnach müssten bei einem ersten positiven Fall in einer Schulklasse lediglich die engen Kontaktpersonen für fünf Tage in Quarantäne. „In der Regel sind das die Sitznachbarn“, heißt es. Erst wenn sich ein zweites Kind in der Klasse angesteckt hat – wie in Tutzing dann passiert ist –, weite sich die Quarantäne auf die ganze Klasse aus. Dann müssten die Kinder einer Schule auch tägliche Schnelltests im Klassenzimmer machen.
Das Problem: Die Dauer der Quarantäne wird der „Süddeutschen“ zufolge nach dem ersten Fall berechnet. In der Praxis komme es so am laufenden Band zu „rückwirkenden Quarantänen“. Eltern erfahren dann plötzlich, dass ihr Kind sich eigentlich schon seit Tagen zu Hause isolieren müsste – was natürlich Unsinn ist. In der Zeit konnte sich das Virus ungestört weiter ausbreiten. Dazu kommt: Erst bei zwei nachgewiesenen Fällen in der Klasse müssen für 14 Tage die Masken auch am Platz getragen werden. Für die Parallelklassen, mit denen sich die Kinder etwa im Religionsunterricht oder im Sportunterricht mischen, gelten diese Auflagen dann aber wiederum nicht. Die Rektorin kann nachvollziehen, dass Eltern und Lehrkräfte über solche Regelungen nur noch müde lächeln können. „Mir geht es genauso, ich lächle mit.“
Mittlerweile ist in Tutzing nicht nur die Schule selbst, sondern auch der benachbarte Hort des Bayerischen Roten Kreuzes von dem Ausbruch betroffen, den viele Kinder der Grund- und Mittelschule besuchen. Dort werde ein offenes Konzept verfolgt, erklärte eine Sprecherin. Deswegen sei nicht klar, welche Kinder miteinander engen Kontakt hatten und welche nicht.
Mobile Luftfilter? Die Lieferzeit sei zu lang, hieß es, die Geräte zu laut, sogar von Elektrosmog und Geruchsbildung war die Rede
Mobile Luftfilter gibt es in den Einrichtungen auch nicht. Der Gemeinderat hatte zwar im Juli beschlossen, welche anzuschaffen – diesen Beschluss aber dann widerrufen, wie der “Merkur” berichtete. Die Lieferzeit sei zu lang, hieß es, die Geräte zu laut, sogar von Elektrosmog und Geruchsbildung war die Rede. Hintergrund ist, dass die Gemeinde einen Eigenanteil von 50 Prozent für die Anschaffung zu übernehmen hätte. Die Folgen der Sparsamkeit bekommen die Kinder von Tutzing offenbar jetzt zu spüren.
Das Gesundheitsministerium im nahegelegenen München ist von der Entwicklung nicht überrascht. Es räumte unlängst ein, dass – neben der Tatsache, dass das Infektionsgeschehen unter Schülern aufgrund der regelmäßigen Tests in den Schulen besser untersucht wird als in jeder anderen Altersgruppe – auch der Schulbetrieb selbst Infektionen begünstigen könne. Es fänden dort schließlich Kontakte unter Kindern und Jugendlichen statt, erklärte eine Sprecherin. „Zusätzlich gilt es noch zu beachten, dass der Impffortschritt in der Altersgruppe der Zwölf- bis 17-Jährigen deutlich hinter dem anderer Altersgruppen liegt“, betonte sie.
Die Staatskanzlei von Söder hat diese Warnung offenbar nicht erreicht. Deren Chef Florian Herrmann (CSU) erklärte jedenfalls noch vor zwei Wochen, es spreche viel dafür, dass die Inzidenzen stabil blieben – trotz zunächst gelockerter Quarantäne-Regeln für Schüler und dem dann erfolgten Aus für die Maskenpflicht im Unterricht. Die aktuelle Entwicklung lässt anderes erwarten. Auch mit Blick auf Bayerns Nachbarland Thüringen: Das hat sämtliche Schutzmaßnahmen in Schulen gestrichen, sogar die Tests. Und die Infektionszahlen unter Kindern und Jugendlichen explodieren, wie News4teachers berichtet. News4teachers / mit Material der dpa
